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Frühstück

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Die Sonne steht schon zwei Hand breit über dem Horizont, als ein schriller Sirenenton Kunze aus dem Schlaf reißt. Von Hektik gepackt will Kunze aufspringen, kippt aber mit dem Korbsessel um, robbt unbeirrt zur Dachluke, wo Jingle Bell schon fröhlich auf und ab trippelt. Er wartet bis Kunze fast durch die Luke verschwunden ist und springt ihm geschickt auf die Schultern. Mit jedem Anschwellen wird der Heulton lauter.

Die massive, vom Dachboden ins Treppenhaus führende Holztür, ist mit zwölf mächtigen Schlössern gesichert. Obwohl Kunze seinen riesigen Schlüsselbund geschickt führt, braucht er eine Weile, bis er die Tür auf der Dachbodenseite auf und der Treppenhausseite wieder zu geschlossen hat.

Auf dem Treppenabsatz stehend blickt er hinab. Vor seinen abgeschabten Boots gähnt ein Abgrund: Von der ersten Etage bis hinauf zum Dachboden fehlen die Holztreppen. Allein die steinernen Absätze vor den Türen der einzelnen Geschosse sind erhalten geblieben. Irgendwo da unten heult die Sirene. Ihre Intervalle sind kürzer und immer lauter geworden, mischen sich mit ihrem eigenem Echo im Treppenhaus zu einem furchtbaren Getöse. Sogar einige Putzstücke bröckeln aus der maroden Treppenhauswand und segeln hinab. Unbeirrt angelt Kunze Jingle Bell mit einer Hand vom Treppenabsatz, mit der anderen greift er eine, an einem Flaschenzug hängende Schaukel. Dieser Flaschenzug ist eine besondere Konstruktion: Das starke Drahtseil, das auf der rechten Schaukelbrettseite befestigt ist, führt über sechs unterschiedlich große Rollen, die unter der Decke hängen, zu einer Handkurbel betriebenen Winde auf der linken Seite der Schaukel. Gleichmäßig und langsam bewegt Kunze die Winde. Jingle Bell, unter seinem rechten Arm klemmend schaut, lustig die Nase weit vorausstreckend, in den Abgrund, und an den leer stehenden Etagen vorbei schweben sie langsam abwärts.

Zwischen riesigen Federkissen aufrecht im Bett sitzend zieht Oma Kunze heftig an einem Seilzug, der das Schwungrad einer großen Standsirene antreibt. Oma Kunzes feistes Gesicht wirkt außerordentlich entspannt; sogar das enorme Sirenengetöse nimmt sie wie selbstverständlich hin. Ihr Schlafzimmer ist klein und ärmlich eingerichtet. Die vergilbte Rosentapete, die ihre einstmals roten Blüten nun in hässlichen Brauntönen zeigt, löst sich an den Kanten; eine Bahn ist schon halb herabgefallen, die anderen leiden unter großen, hässlichen Wasserflecken. Kunze stolpert herein; auf Oma Kunzes fahlen Lippen erscheint ein triumphierendes Lächeln. Sie lässt den Sirenenzug los, sieht Kunze aus böse funkelnden Augen über den Rand ihrer schmalen Brille hinweg an. Kunze, diesem Blick ausweichend, humpelt um das Bett herum und kollidiert mit einem uralten Rollstuhl. Unterdessen ist Jingle Bell auf die Bettdecke gehüpft, will zur Begrüßung Oma Kunzes Gesicht schlecken. Angewidert packt sie den niedlichen Hund, schleudert ihn energisch gegen die Wand. Jingle Bell jault, und Kunze muss nun den Kopf einziehen, denn Oma Kunze versucht eine saftige Ohrfeige zu landen. Sie verfehlt Kunze nur knapp und raunzt ihn mit barscher Stimme an.

„Halt still!“

Kunze muss sich überwinden, aber er gehorcht. Mühelos platziert seine Oma die Ohrfeige. Es klatscht heftig, aber Kunzes Miene bleibt starr und ernst wie die einer Beethovenbüste. Oma Kunze, über den geringen Eindruck, den ihre Ohrfeige hinterlassen hat, keineswegs überrascht, seufzt und schüttelt den Kopf.

„Du bist spät! Los jetzt, hol mich hier raus!“

Vor Anstrengung stöhnend hievt, zieht und schiebt Kunze seine Zwei-Zentner-Oma aus dem Bett, bringt sie schließlich im metallisch knatschenden Rollstuhl zum Sitzen. Erschöpft wischt er sich den Schweiß von der Stirn und bugsiert Rollstuhl samt Oma durch den engen, dunklen Wohnungsflur in die kleine Küche.

Aus dem Lautsprecher des alten Küchenradios, das auf einer schmalen, schmutzigen Anrichte steht, knistert leise ein Streichquartett. Kunze nimmt einen verbeulten Aluminiumtopf vom Gasherd, schüttet dampfende Milch in zwei schlichte Blechtassen, schaut sich vorsichtig nach Oma Kunze um, die am schmalen Küchentisch unter dem fast blinden Küchenfenster sitzt, gerade ein rohes Ei in ein Glas schlägt, Zucker darauf schüttet, umrührt, das Gemisch in einem Zug wegschlürft, sich mit dem Handrücken den Mund abwischt, Kunze auffordernd ansieht.

„Milch!“

Kunze stellte eine der Tassen vor seine Oma auf den Tisch, öffnet eine rostige, etikettlose Konservendose, füllt den Inhalt in einen Napf, den er dem glücklich winselnden Jingle Bell hinstellt. Missmutig die Lippen kräuselnd beobachtet Oma Kunze die Fütterung. Als Kunze sich an den Tisch setzt und an seiner Milchtasse nippt, zieht Oma Kunze eine kleine Schublade im Küchentisch auf und entnimmt ihr eine braune Tüte, auf der das Rattengiftzeichen prangt. Ein gequälter Seufzer dringt aus ihrer Kehle. Zitternd aber mit selbstmörderischer Entschlossenheit schüttet sie eine beträchtliche Menge des Giftes in ihre Milchtasse, rührt dramatisch langsam um, blickt dabei Kunze aus leidvollen Augen an, hebt schließlich, die Augen schließend, die Tasse zum Mund, zögert. – Kunze rührt sich nicht, beobachtet seine Oma, hoffend und neugierig zugleich. Aber Oma Kunze schüttelt hinterhältig lächelnd den Kopf, kippt die Milch auf den schmutzigen Küchenboden, schnalzt mit der Zunge und lockt Jingle Bell.

„Komm! Lecker, lecker... Na, komm schon...“

Sofort macht sich Jingle Bell über die Milchpfütze her. Kunze springt auf, kann aber, durch seine Manschette behindert, Jingle Bell nicht schnell genug erreichen. Als er den kleinen Hund endlich zu fassen kriegt, ist es zu spät. Jingle Bell winselt leise, japst nach Luft, ermattet, zuckt noch einmal und verstirbt in Kunzes Armen. Kunzes Augen füllen sich mit Tränen. Oma Kunze trinkt seine Milch.

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