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Schäfer, ich liebe Dich!
ОглавлениеDie einzige im schattigen Hausflur noch existierende Treppe führt von Oma Kunzes in der ersten Etage gelegenen Wohnung hinab zum Erdgeschoss. Die morschen Holzstufen ächzen unter dem Gewicht der dicken Frau, die im Rollstuhl sitzt, den Kunze, vor Anstrengung keuchend, Stufe um Stufe hinabwuchtet. Zwei Schweißperlen rinnen ihm von der Stirn, überwinden die Brauen und fließen ihm in die Augen, derweil Oma Kunze einen zackigen Marsch intoniert. Dazu schwingt sie ihren Krückstock wie einen Feldmarschalstab. Sie erreichen die Mitte der Treppe. Kunze stoppt. Oma Kunze dreht sich verärgert um, erkennt etwas Gefährliches in Kunzes Blick und droht ihm mit dem Krückstock.
„Wehe! Ich warne dich!“
Aber ohne jedes Zögern lässt Kunze den Rollstuhl los, der mit der schreienden Oma die Treppe runterrast, an den Resten blecherner Briefkästen vorbeischießt und durch die Zarge des Eingangs, die schon lange keine Tür mehr trägt, verschwindet.
Schulzke, der Gemüsehändler, klettert gerade aus seinem klapprigen Pritschenwagen als Oma Kunze in ihrem Gefährt aus dem Haus donnert und noch einige Meter über die brüchige Straße holpert. Schulzke grinst amüsiert. Oma Kunze sieht ihn böse an.
„Mensch Schulzke, glotz nicht so blöd und hilf mir!“
Schulzke beißt sich auf die Unterlippe und gehorcht vorsichtshalber. Er schiebt Oma Kunze zu ihrem neben dem Hauseingang gelegen Gemüseladen; doch die undankbare Alte bleibt unfreundlich.
„Lieferst du endlich die Kartoffeln, ja?! Ganze zwei Wochen warte ich schon!“
„Aber Oma Kunze, du weißt doch selbst ... die Zeiten sind schwierig ...!“
„Papperlapapp! Bestellt ist bestellt!“
„Ja, Oma Kunze, aber....“
„...aber was!“
„Die Rechnung, Oma Kunze.“
Verächtlich schnaubt Oma Kunze durch die Nase.
„Wenn du sonst keine Sorgen hast ... - Herrje, was ist das denn?“
Oma Kunze hat eine riesige, mit weißer Farbe auf die schmutzige Schaufensterscheibe ihres Gemüseladens gemalte Schrift entdeckt:
Schäfer ich liebe Dich!
Ratlos betrachten Oma Kunze und Schulzke die akkuraten Buchstaben. Kunze beobachtet sie dabei aus dem Hauseingang. Schulzke entdeckt ihn, sofort flüchtet Kunze, aber der Gemüsehändler setzt ihm nach.
„Kunze, warte doch bitte, lauf nicht weg! Du musst mir helfen!“
Schulzke ist ein einfacher Mann von untersetzter Statur. Er hat große, schwielige Hände, schlechte Zähne und traurige Augen. Gekonnt rangiert er seinen klapprigen Lastwagen durch eine enge Einfahrt in den Hinterhof des Gemüseladens. Er klettert auf die Ladefläche, zerrt einen Kartoffelsack an deren Kante, wo schon Kunze mit einem Haken wartet, den er durch die obere Naht des Sackes stößt. Der Haken selbst hängt an einer Schiene, die durch das rostige Lieferantentor in den Gemüseladen führt. Kunze humpelt zu einer in die Hauswand eingelassen gusseisernen Kurbel, dreht sie langsam und der Kartoffelsack schwebt davon. Inzwischen hat Schulzke drei weitere Säcke bereitgestellt.
„So, Kunze, dreimal Sieglinde, einmal Marbella. Das wär ‘s. Soll ich dir helfen?“
Kunze hängt routiniert den nächsten Sack auf und schüttelt den Kopf. Nachdenklich nimmt Schulzke seine Mütze ab und kratzt sich den Nacken.
„Hör mal zu, Kunze, ... ihr müsst jetzt ... also das ist die fünfte Lieferung ... und wenn deine Oma wieder nicht zahlt, dann ... Mensch Kunze, du weißt doch, wie die Alte ist! Kannst du nicht irgendwie mit ihr quatschen ...?“
Kunze zuckt die Achseln, humpelt zur Kurbel, lässt die Säcke davon schweben. Schulzke nickt und seufzt.
„Ich seh‘s schon kommen: das alte Scheusal wird mich wieder weich kochen, wie immer! Aber wenn sie diesmal nicht zahlt, Kunze, so leid mir das tut ..., dann war das die letzte Lieferung!“
Unterdessen schlendert Wachtmeister Schäfer, den Schmerbauch voran, gut gelaunt pfeifend über die Kreuzung. Hier fühlt er sich wohl, dies ist sein Revier, hier kennt er alles wie seine Aktentasche, die er immer dabei hat. Er lässt seinen Blick durch die vier sich an der Kreuzung treffenden Wohnstraßen schweifen. Die baufälligen, teilweise leerstehenden Häuser verbreiten im Sonnenlicht des klaren Märzmorgens einen morbiden Charme, dem sich Schäfers Gemüt noch nie hat entziehen können. Er atmet tief ein und zwirbelt die Enden seines Schnauzbartes. Aus der Eckkneipe mit dem Namen
Destille
Pension, Übernachtung mit Frühstück
tritt eine hagere, blassgesichtige Frau. Es ist Johanna, die Gattin des Wirtes. Sie nickt Schäfer grüßend zu, und Schäfer legt zackig einen Zeigefinger an seine Schirmmütze. Sein freundlicher Blick folgt Johanna, die zum gegenüberliegenden Gemüseladen huscht. Plötzlich verdunkelt sich seine Miene...
Vier Kartoffelsäcke schweben im unsteten Licht zweier nervös flackernder Neonröhren durch den Gemüseladen, vorbei an Regalen und Auslagen aus ungehobeltem Holz, die, außer Zwiebeln und einem Berg Weißkohl nichts zu bieten haben. Schließlich bleiben sie über der Kartoffelauslage stehen, wo Kunze den ersten Sack aufschneidet: Ein Zentner Sieglinde prasselt heraus. Unterdessen jammert Oma Kunze und ringt ihre Hände, während Schulzke, der neben ihr steht, ein trauriges Gesicht macht.
„Ich bitte dich, lieber Schulzke, ich flehe dich an... Wovon soll ich denn leben? Ich bin doch nur eine arme, kranke, vom Schicksal schrecklich gebeutelte Frau...“
Sie heult in ihr großes, kariertes Taschentuch. Schulzke schnürt ihr erbärmlicher Anblick im Rollstuhl die Kehle zu.
„Oma Kunze, ich weiß doch... Aber mir..., mir geht es doch auch nicht besser. Wenigstens eine Anzahlung, Oma Kunze, nur eine Anzahlung...“
Oma Kunze schnieft laut, wischt die Tränen weg, bedient voller Pein eine uralte, mechanische Registrierkasse, die mit lautem Scheppern aufspringt. In der Geldlade liegen nur ein paar Münzen.
„Da, bedien’ dich! Du, du... herzloser, kalter Fisch, du!“
„Aber Oma Kunze, wie kannst du so was sagen! Ich bin doch immer gut zu dir gewesen!“
„Das wüsste ich aber! Elender Halsabschneider!“
Hilfe suchend will sich Schulzke an Johanna wenden, die mittlerweile eingetreten ist und dem Schauspiel teilnahmslos zusieht. Der Gram, der ihr Gesicht zeichnet, ist zu groß, als dass sie fremdes Leid berühren könnte. Schulzke seufzt und trottet unverrichteter Dinge zur Tür, wo er mit dem hereinpolternden Wachtmeister Schäfer zusammenstößt.
„Diesmal ist er zu weit gegangen! So groß war es noch nie! Seit wann steht das da?“
Schäfer zeigt auf die bemalte Fensterscheibe.
„Der will mich verulken, der will mich,... lächerlich will der mich machen. Das ist Sabotage. Hochverrat!“
Schulzke sieht Schäfer verdutzt an.
„Also ich weiß ja nicht, Herr Wachtmeister Schäfer. ‘Schäfer, Ich Liebe Dich!’ Ich finde das nett.“
Schäfer blinzelt scharf.
„So, so Schulzke, du findest das also nett! Dann sag mir doch gleich mal, wo du letzte Nacht gewesen bist! Hast du Zeugen? Ein Alibi?“
Schulzke ist tief verletzt.
„Wissen sie was, Herr Wachtmeister. Sie sind ein..., ein ziemlicher..., ach, das können sie sich ja denken!“
In sich hineinfluchend verlässt er den Laden. Die Tür scheppert. Schäfer ist inzwischen hochrot angelaufen. Seine Stimme überschlägt sich, als er Schulzke hinterher ruft.
„Das werde ich auch Schulzke, darauf kannst du dich verlassen! Und weißt du, was ich denke ...?“
Schäfer stutzt und denkt nach.