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Kapitel 6
ОглавлениеAm nächsten Morgen standen sie später auf als üblich, sie wuschen sich gründlich und nach einem kleinen Frühstück gingen die Aramäer zum Gebetshaus.
Jeschua begann mit den Lesungen und die Klarheit seiner Stimme berührte die Gemeinde sehr. Dann wählte er sieben Männer und auch diese lasen aus dem fünften Buch Mose. Nach den gemeinsamen Gebeten und Lesungen gingen alle zu ihren Familien, es wurde ihnen ein zweites Frühstück gereicht. Danach gingen sie in der nahen Umgebung bis zum Mittagsschlaf spazieren. Und für Jeschua fühlte es sich fast so an, als ob er noch in Nazaret lebte, und er vermisste seine Mutter und seine Familie sehr.
In diesen Stunden fiel auch von Claudius etwas von den Anspannungen der vergangenen Tage ab. Claudius kannte die Vorbehalte von hochgestellten Römern gegen viele aramäische Rituale und insbesondere gegen den Sabbat und er hatte sie bis zu diesem Tag mit seinen Landsleuten geteilt. Der Sabbat wurde mit Faulheit und Müßiggang gleichgestellt. Doch er dachte sich: Römern täte die Entspannung gut, sich der Familie zu widmen. Er spürte, wie ihm die Pause neue und zusätzliche Kraft verlieh.
Am nächsten Morgen berichteten Bezalel und Kenan von den Gesprächen mit Simons Kunden. Sie waren in die nördlichen Richtungen geritten und hatten alle angetroffen, die sie antreffen wollten. Die Schuldner beglichen die Rechnungen, es wurde über die künftigen Geschäftsbeziehungen gesprochen, doch mehr konnten Bezalel und Kenan nicht sagen. „Keine Fischzeichen?“ Fragte Claudius. „Nein,“ sagten sie. „Nun gut, Ihr Frauen und Männer. Bezalel und ich haben gesehen, was wir sahen. Doch vor allem danken wir Euch für Eure Freundschaft, die wir niemals vergessen werden. Solltet Ihr eines Tages in Not sein, so kommt zu uns. Wir werden Eure Gastfreundschaft vergelten.“ Bezalel reichte allen Aramäern zum Zeichen von Claudius Worten ein mit seinem und Claudius Siegel versehenes Stück Papyrus, das ihnen umgehenden Zutritt zu den obersten Stellen in Tiberias gewähren würde. Und sie alle dankten Bezalel und Claudius.
Im Dorf verabschiedeten sich Claudius und Bezalel von Elias und Aviel, der wieder zu Kräften gekommen schien und anschließend ritten sie so schnell, wie sie gekommen waren, davon. Und der Rhythmus, der die Menschen, ihre Sorgen und Hoffnungen, seit Jahrhunderten geprägt hatte, kehrte wieder in das kleine Dorf NaÏn in Galiläa zurück.
Die Kornfelder und die Weinberge wurden bestellt, die Kaufleute betrieben ihren Handel, Kinder wurden geboren, Alte starben und wurden begraben, Männer und Frau heirateten und der Sabbat wurde gefeiert. Elias und Aviel waren sehr erfreut, dass der Spuk vorbei war und der Zorn der Gottheit sie doch nicht gerichtet hatte. In den Familien oder auf dem Marktplatz wurden die Ereignisse um Simons Tod jedoch noch lange besprochen und mit zunehmendem Abstand auch immer mehr ausgeschmückt. Und je weniger die Frauen oder Männer, die darüber sprachen, daran beteiligt waren, umso abenteuerlicher wurden die Berichte. Ein Bauer dichtete gar die Zerstörungen eines seiner Kornfelder, die in Wahrheit durch ein Gewitter verursacht waren, einer ganzen Kohorte von Römern an, die auf der Suche nach Simons Mörder auch die ganze Gegend verwüstet hatte. Wurde Jeschua Zeuge einer solchen Verklärungen, ermahnte er die Geschichtenerzähler sich an die Wahrheit zu halten, doch auch die eindringlichsten Bibelzitate oder Gleichnisse, die Jeschua wusste und ihnen zur Belehrung sagte, vermochten diesen Verlauf nicht mehr aufzuhalten. Manche Menschen ließ er jedoch gewähren, damit sie die Ereignisse verarbeiten konnten.
Ein Tag nachdem Jeschua in NaÏn den dritten Sabbat gefeiert hatte und er nachmittags wieder auf dem Weg vom Gebetshaus zurück zu Simons Anwesen war, sah er in einiger Entfernung zwei aramäisch gekleidete Männer auf das Dorf zugehen, deren Erscheinungen er nicht einem Namen der Männer aus NaÏn zuordnen konnte. Zwei mit Leinensäcken bepackte Esel trotteten neben ihnen her. Wieder eine Weile später erkannte Jeschua noch immer keinen von ihnen. Ohne Eile ging er in Richtung Rundbogen am Ortseingang, denn bei den beiden Wachmännern mussten sich die Fremden erklären. Er dachte in sich, dass seine jetzige Nervosität mit den vergangenen Vorfällen um Simons Tod in Verbindung stehen müsse.
Jeschua war noch zu weit entfernt von den Fremden, als diese die Wachmänner ansprachen und er hörte nicht, was sie redeten. An ihren Gesten erkannte Jeschua, dass sie sich nach etwas oder jemanden erkundigten. Und einer der Wachmänner deutete in Richtung Simons Anwesen, woraufhin die Fremden und die Esel ihren Weg dorthin fortsetzen. Wenig später erreichte Jeschua die Wachmänner. „Schriftgelehrter,“ sprach ihn einer der Wachmänner an. „Die Fremden fragten nach Simon. Wir haben sie zu Simons Haus geschickt.“
„Habt Ihr den Fremden berichtet, was geschehen ist?“ Fragte Jeschua. „Nein, Schriftgelehrter,“ antwortete der andere Wachmann. Jeschua zwang sich zur Ruhe, anstatt den Fremden hinterher zu eilen. „Ihr seid uns ja feine Wachleute,“ sprach Jeschua sie an. Doch die Wachleute hörten Jeschuas Unterton nicht und sie fühlten sich gelobt.
Jeschua beließ es dabei und mit festen Schritten folgte er den Fremden und ihren Eseln. Dann sah Jeschua, wie die Fremden von Johannes und Kenan in Empfang genommen wurden und das beruhigte ihn. Da sich Jeschua bereits näherte, sahen Johannes und Kenan ihn kommen, die Fremden aber nicht. Schließlich war er in Hörweite bei der Gruppe angelangt, denn Kenan sagte: „Fragt unseren Schriftgelehrten. Er ist hinter Euch.“ Die Fremden drehten sich überrascht um. „Friede sei mit, Euch, Fremde,“ sagte Jeschua. „Und der Friede sei mit Dir, Schriftgelehrter,“ sagten die Gegrüßten. „Was führt Euch an diesen Ort, Fremde?“ Fragte Jeschua sie. „Das könnten wir Euch auch fragen,“ entgegnete der größere von ihnen. „Euch haben wir hier jedenfalls noch nicht gesehen und wir waren schon oft hier!“
Jeschua sah, dass Kenan zu seiner Klinge greifen wollte, doch ein kurzer Blick von Jeschua stoppte Kenans Vorhaben. „Nun,“ sagte Jeschua, „hinter Euch stehen Kenan und Johannes aus Nazaret, vor Euch steht Jeschua aus Nazaret. Wie ist Euer Name?“
„Verzeih, Schriftgelehrter,“ sagte der größere wieder, der ihr Wortführer war. „Dies ist Lukas aus Kapernaum und mein Name ist Matthias aus Kapernaum. Wir besitzen in der Gegend dort einige Gasthöfe und Simon belieferte uns mit gutem Wein. So, wie viele Jahre zuvor, erwarteten wir heute Simon, den Winzer und Schriftgelehrten zu treffen, stattdessen steht Ihr vor uns.“
„Verzeiht uns unsere Nervosität, Matthias und Lukas. Und ich bin traurig, Euch sagen zu müssen, dass Simon, möge er in Frieden ruhn, hier vor etwas mehr als drei Wochen von fremder Hand erschlagen wurde und zu allem Unglück ist seine Frau Sigalit seitdem verschwunden.“ Jeschua berichtete ihnen in Kürze die bisherigen Ereignisse, und auch die Anwesenheit einer Untersuchungskommission aus Tiberias erwähnte er. „Es ist ein weiter Weg von Kapernaum nach NaÏn, Matthias und Lukas. Ihr müsst erschöpft sein. Wollt Ihr Euch nicht bei etwas Brot und Salz und Wasser erfrischen und hier Euer Nachtlager aufschlagen?“ Fragte Jeschua sie. „Wir nehmen Euer Angebot gerne an, Schriftgelehrter,“ sagte Lukas. Jeschua wollte Johannes und Kenan anweisen, sie mögen sich um die Esel kümmern, doch Matthias sagte, dass sie gleich nach der Erfrischung weiterziehen. „Dies ist Euer Wunsch? So sei es,“ sagte Jeschua.
Matthias berichtete auf Nachfrage Jeschuas, dass ihre Lieferanten regelmäßig besuchten. So blieben sie im Kontakt zueinander, sie konnten die Qualität des neuen Jahrgangs bewerten und Kaufpreise verhandeln. Im Angesicht der Umstände erklärte er, blieben die Kaufpreise für Simons Wein bis zum nächsten Jahr gültig. „Das ist sehr großzügig, Matthias. Wir danken Dir!“ Sagte Jeschua. „Nun ja, Schriftgelehrter,“ sagte Matthias und „wir danken Dir für Deine Gastlichkeit und wir wünschen Dir Glück für eine gute Weinlese. Friede sei mit Euch.“ Und schneller, als sie gekommen waren, zogen sie davon.
Johannes dachte, es handelte sich um Falten an den Leinensäcken, doch Kenan sah es auch. „Schriftgelehrter,“ sagte Johannes leise. „Sieh!“ Sein Blick wies auf einen der unteren Leinensäcke auf einem Eselsrücken. „Das Fischzeichen.“ Jeschua ging mit ruhigen Schritten in den Schreibraum des Anwesens und er besah die Buchhaltungsschriften des Simon. Er fand zwei Einträge von Kunden aus Kapernaum, darunter war auch Matthias Name. „Sollten wir nicht Bezalel und Claudius über die Vorgänge berichten, Schriftgelehrter?“ Fragte Kenan.
„Bitte rufe die Weingärtner und die Mägde, Kenan. Wir wollen uns besprechen,“ sagte Jeschua. Da sie sich noch nicht gewaschen hatten, hielten sie stehend vor dem Haus Rat. Jeschua sprach zuerst: „Kenan, erkläre uns, was Du gesehen hast. Johannes und ich sahen es auch, Ihr anderen aber nicht.“
„Das Fischzeichen war auf einem der Säcke auf den Packeseln angebracht,“ sagte Kenan und Jeschua ergänzte: „Der, der sich Matthias aus Kapernaum nannte, ist in den Buchhaltungsschriften des Simon verzeichnet. Der, der sich Lukas nannte nicht. Du fragtest, ob wir nicht Claudius und Bezalel in Tiberias davon berichten sollten, Kenan. Stimmt Ihr Kenans Frage zu?“ Und alle nickten.
„Wie aber soll das geschehen?“ Fragte Jeschua. Einerseits hatten sie ihre jetzigen Verpflichtungen, andererseits waren diese eher den Umständen geschuldet, denn die Eigentumsverhältnisse über Simons Weingut waren noch nicht geregelt, und damit auch die Angestelltenverhältnisse der Weingärtner und der Mägde nicht. Jeschua war übergangsweise als Schriftgelehrter von NaÏn eingesetzt und er übernahm Verwaltungsaufgaben des Weingutes, obwohl dies nirgends festgeschrieben war. Johannes und Kenan waren hauptsächlich zum Schutz Jeschuas hier, doch sie machten sich auch in vielerlei anderen Dingen nützlich. Der Wille der Gottheit hatte sie zu Beteiligten der Untersuchungen der Männer aus Tiberias gemacht, doch diese waren von Claudius und Bezalel, zumindest für NaÏn, für beendet erklärt worden. Obwohl sie eine gewisse Leidenschaft für die Sache entwickelt hatten, verpflichtete sie dies nicht zu weitergehenden Handlungen. Denn dafür würden sie die Verantwortung selbst übernehmen müssen, solange es keine weiteren offiziellen Anweisungen gab. Die heutige Begegnung mit den Männern aus Kapernaum, mit ihrer zeitweise respektlosen Rede und das erneute Erscheinen des Fischzeichens, zeigten dagegen, dass die nach Claudius und Bezalels Abreise eingetretene Ruhe trügerisch gewesen war. Die Menschen, die Simon erschlagen hatten, hatten dies heimtückisch getan und sie hatten auf dem Anwesen nach etwas gesucht. Es war nicht bekannt, ob die Täter fanden, wonach sie gesucht hatten. Die Täter hatten offensichtlich wenig Achtung vor einem Menschenleben. Vielleicht waren die Männer aus Kapernaum Spitzel der Täter. Und sie, die jetzt auf Simons Weingut lebten und arbeiteten, fühlten sich von den unsichtbaren Mächten aus guten Gründen in ihrer Existenz bedroht. Sie befanden sich in einem Dilemma. Und Jeschua sagte: „Wir können den Willen der Gottheit nicht mit unseren Mitteln oder unserem Verstand erkennen. Was sagt Euer Herz Euch?“
Und sie beschlossen einstimmig, der Dorfrat sei zu befragen. Das gemeinsame Abendessen verlief ernster als die bisherigen und sie alle schliefen unruhig in dieser Nacht.