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Kapitel 4

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Neun Tage nach seiner Abreise kam Elias schließlich nach NaÏn zurück und er berief sogleich den Dorfrat ein. „

Nun, Elias, unser Dorfvorsteher,“ begann der Dorfälteste. „Wie war Deine Reise und welche Nachrichten bringst Du uns aus Tiberias?“ Und Elias berichtete von seinen Eindrücken. „Die Reise war beschwerlich und ein Mann braucht viel Geduld in Tiberias.“ Er sah Jeschua an, der ihm vor der Abreise von den Erfahrungen der Weisen aus Nazaret über Termine bei Gelehrten in Tiberias berichtet hatte. „Ich wartete einen Tag auf die Konsultation, dann konnte ich mit den Rechtsgelehrten über die Vorkommnisse bei uns sprechen. Und nachdem sie mir zugehört hatten, baten sie um einen weiteren Tag für ihre Antworten, denn auch sie hatten keinen vergleichbaren Fall zum Vergleich.“

Und von dem folgenden Zusammentreffen berichtete Elias, dass die Rechtsgelehrten das Verhalten der Bewohner von NaÏn sehr gelobt hätten. Und die anwesenden Männer sahen sich erfreut an. „Und was ist die schlechte Nachricht?“ Wollte der Dorfälteste wissen. „Nun, Aviel, die Gelehrten in Tiberias werden eine Untersuchungskommission zu uns senden.“ Ein leises Raunen der Männer erhob sich. „Wir haben nichts zu verbergen!“ Rief einer. „Das mag wohl sein,“ sagte Elias. „Doch damit nicht genug. Dieser Kommission werden auch Römer angehören.“

Es entstand einer dieser Momente, in denen bei manchen Menschen urplötzlich ein schlechtes Gewissen aufkommt, ohne dass dazu ein konkreter Anlass vorliegen muss. „Aus welchem Grund sollten sich ausgerechnet die Römer um ein unbedeutendes Dorf in Galiläa scheren?“ Wollte Aviel von Elias wissen. „Die Rechtsgelehrten machten daraus ein Geheimnis, kein weiteres Wort kam über ihre Lippen.“

Jeschua dachte an die Schriftrollen mit den fremdartigen Siegeln und die Schrift, die er nicht lesen konnte. „Die Kommission ist vermutlich schon auf dem Weg zu uns,“ fügte Elias noch hinzu. „Wir werden unsere Leute informieren,“ wollte Aviel anordnen, doch Jeschua unterbrach hin. „Verzeih mir, Aviel, ältester von NaÏn.“ Und Aviel sah Jeschua an. „Schon gut, was willst Du uns sagen?“ „Dies wird neue Unruhe in die Menschen bringen, da sie doch gerade wieder ein wenig zur Ruhe zurückgekehrt sind.“

„Wenn wir die Nachricht bis zur Ankunft der Kommission vor ihnen geheim halten, wird die Unruhe noch größer sein.“ „Verzeiht mir erneut, Aviel, ich hätte es als Frage formulieren sollen. Wie und mit welchen Auskünften wirst Du die Leute informieren?“

„Wir werden von Tür zu Tür gehen, so viele sind es ja nicht, und ihnen einfach die Wahrheit sagen und dass sie sich nicht sorgen sollen, denn die Kommission wird sich ja nur des Falles des armen Simon und seiner Frau annehmen und nicht ihnen.“

Der Dorfälteste hatte, ob Jeschuas Beitrag, seinen ursprünglichen Plan kurzfristig abgeändert. Sein spontaner Einfall war es gewesen eine Versammlung einzuberufen. Doch während einer Versammlung konnte nicht alles vorhergesehen werden. In Einzelgesprächen hatten sie die Möglichkeit, direkt auf Sorgen und Ängste der Einzelnen einzugehen. Unruhe würde es in jedem Fall geben, doch die persönliche Anwesenheit des Dorfrates vor jeder Haustür würde ihre Wirkung nicht verfehlen. Und sie brachen unmittelbar auf, die Bewohner von NaÏn über die bevorstehenden Ereignisse zu benachrichtigen.

Elias wollte gerade sein Haus wieder betreten, als Jeschua ihn ansprach. „Elias, hast Du einen Moment Zeit für mich? Ich möchte Dir etwas zeigen.“ Und sie gingen in den Schreibraum im Gebetshaus und Jeschua gab Elias die Schriftrollen, die ihm aufgefallen waren. „So viele Jahre lebten Simon und Sigalit unter uns und man möchte meinen, dass wenn man gemeinsam den Sabbat gefeiert hat, Brot und Salz und Wein geteilt hat.“

„Sigalit? Das ist ihr Name? Du hast ihren Namen für mich das erste Mal ausgesprochen.“ „Habe ich das? Verzeih, Du hattest nicht danach gefragt.“ „Doch ich wollte Dich nicht unterbrechen, Elias, fahre fort.“

„Was sagte ich? Ach ja, so viele Jahre kennt man sich und dann stellt man auf einmal fest, dass man einen Menschen doch nicht kennt.“ Und sie besahen die Schriftrollen erneut und sie legten sie zurück in die Regale, denn auch Elias konnte die Schrift nicht lesen und sie verabschiedeten sich für den heutigen Tag. Die Mägde, die Weingärtner, Kenan und Johannes waren die, die zuletzt über die Nachrichten aus Tiberias erfuhren. Der Dorfrat hatte zugestimmt, das sie die Nachricht von Jeschua erfahren konnten, vermutlich, weil sie den Weg zu Simons Anwesen und zurück zum Dorf vermeiden wollten, dachte Jeschua für sich schmunzelnd. „Das wird ja immer mysteriöser,“ sagte Johannes. „In was für eine Geschichte sind wir da hineingeraten?“ Jeschua wollte seine Gedanken dazu vor dem Schlafengehen sortieren, doch er schlief darüber ein.

Am Morgen besahen sie das Anwesen gründlich und sie befanden es den Umständen entsprechend in gutem Zustand. Alle Dinge waren an ihren Plätzen, die Arbeiten an den Fässern gingen voran, es waren ausreichend Essen und Getränke vorhanden, die Schlafplätze in den Gästezimmern waren bereitet, denn Jeschua rechnete damit, dass die Kommission aus Tiberias bei ihnen Quartier beziehen würde. Auch im Dorf stellten die Menschen etwas mehr Ordnung als an gewöhnlichen Wochentagen üblich her. Vielleicht nicht so viel Ordnung, wie vor dem Sabbat oder dem Versöhnungsfest. Denn das, so vermuteten sie, würde irgendwie verdächtig erscheinen. Unter den ungefähr einhundertfünfzig Bewohnern lebten nicht viele erwachsene Menschen im Dorf und von diesen waren es mehr Frauen als Männer, und nur die Männer würden von der Kommission befragt werden. Jeder Mann rechnete insgeheim damit, befragt zu werden. Einerseits fürchteten sie sich davor, andererseits hätte dies ihre Wichtigkeit betont. Von so hoch gestellten Persönlichkeiten angesprochen zu werden, war eine Ehre.

‚Wie stand es beim Prediger geschrieben?' Fragte sich Jeschua, der das Treiben beobachtete. ‚Eitelkeiten der Eitelkeiten, und alles ist Eitelkeit,‘ (Prediger - Kapitel 1) antwortete er sich selbst.

Jeschua gestattete den Weingärtnern, zu ihren Familien zu gehen, doch sie wollten auf dem Anwesen bleiben. Johannes und Kenan beschlossen, sich im Hintergrund zu halten, und sie legten sogar ihre Waffen unter ihre Schlafplätze, denn sie wollten insbesondere die Römer nicht provozieren. Jeschua lobte das reinliche und hübsche Aussehen der Mägde und ihre Wangen röteten sich ein wenig, dann ging er früher als die vorherigen Tage zum Dorfplatz.

Jeschua wusste aus den Schriften und von den Weisen, dass man zu Pferde größere Strecken schnell bewältigen konnte. Doch auch er war, wie die Dorfbewohner, überrascht, als die Untersuchungskommission bereits am späteren Vormittag in NaÏn eintraf. Immerhin betrug die Wegstrecke von Tiberias nach NaÏn ungefähr siebenundzwanzig römische Meilen und der Weg war zu weiten Teilen nicht gut ausgebaut, sodass man größere Abschnitte nicht galoppieren konnte. Aus seiner Kindheit kannte er den Lärm, den Militärpferde verursachten gut. Und als das Geräusch immer näher kam, traten Elias, Aviel und Jeschua vor Elias Haus, um die Ankömmlinge zu begrüßen. „Ich zähle sechs Pferde,“ sagte Jeschua unvermittelt und die anderen sahen ihn fragend an.

„Als ich noch ein kleiner Junge war, war dies ein Spiel für meinen Bruder und mich, denn wir fürchteten die Soldaten sehr und wir schlossen die Augen, wenn wir die Pferde kommen hörten.“ Unbewusst nahm Jeschua von Aviel und Elias auf diese Weise etwas von ihrer Anspannung. Und tatsächlich, vier Reiter und zwei Packpferde mit mehreren Leinensäcken stürmten auf den Dorfplatz. Sie hatten den Pferden auf dem etwas besser ausgebauten Weg im Dorf die Sporen gegeben, damit sie noch beschäftigt waren, aber auch, weil sie es einfach so gewohnt waren damit ein Zeichen ihrer Macht zu demonstrieren. Dabei, dachte sich Jeschua, hätte in einem Kriegsfall schon das Erscheinen einer dieser Männer genügt, um das Dorf zu erobern. Und er wollte instinktiv den Kopf senken, doch aus einem für ihn unerklärlichen Grund sah er in die Augen der Männer: Er zählte drei römisch gekleidete und einen, der wie er gekleidet war, wenn auch für das Reiten gerüstet, und der Stoff war sichtbar kostbarer als seiner.

„Friede sei mit Euch!“ Rief Aviel in den verklingenden Lärm. Der aufgewirbelte Staub der Straße wurde von zwei Windböen davongetragen. Elias erkannte den Rechtsgelehrten, mit dem er in Tiberias gesprochen hatte, die Römer kannte er nicht. Und der Rechtsgelehrte nickte Elias kurz zu, doch er sprach den Dorfältesten zuerst an, so wie es Sitte war. „Friede sei auch mit Euch, edler Dorfältester.“ Die Knechte von Elias traten aus dem Haus, Elias hatte es so mit ihnen vorbesprochen. „Kümmert Euch um die Pferde der edlen Herren!“ Rief er ihnen zu und die Knechte taten, wie ihnen aufgetragen war.

Einer der Römer war bewaffnet, und dieser ging zu den Knechten des Elias, denn er sah an ihren etwas zögerlichen Bewegungen, dass sie im Umgang mit Militärpferden und insbesondere mit den Zügeln und Trensengebissen nicht vertraut waren. Freundlich und in ihrer Sprache wandte er sich an die Knechte, die ihm sichtlich dankbar waren. Aviel überließ Elias das Wort. „Kommt in mein Haus, edle Herren. Ihr müsst erschöpft sein. Mein Haus soll Euer Haus sein.“ Bevor Jeschua als letzter in das Haus des Elias ging, sah er sich noch einmal auf dem Dorfweg um, auf dem keine Menschenseele und auch kein Tier war. Doch er spürte die Anspannungen der Menschen hinter den Mauern.

Die Mägde des Elias hatten ausreichende Vorbereitungen getroffen. Die Leute aus Tiberias fanden Plätze, sich zu waschen, und sie konnten einen Becher gekühltes und frisches Wasser zu sich zu nehmen. Und der Rechtsgelehrte stellte seine Begleiter namentlich vor, Elias tat es ihm gleich. Mit einem weiteren wortlosen Kopfnicken bedeutete der Rechtsgelehrte Elias, dass er das Gespräch zu beginnen hatte, denn Elias war der Hausherr.

„Nun, Herr, Ihr habt mir in Tiberias mitgeteilt, dass die Umstände des Todes unseres Schriftgelehrten und das Verschwinden seiner Frau Gegenstand einer Untersuchungskommission sein sollen. Leider hatten wir wenig Zeit, über die Gründe für diesen doch ungewöhnlichen Schritt zu sprechen.“ Die Mägde reichten etwas Brot und Salz und frisches Wasser. „Ja, verzeih mir Elias, Dorfvorsteher von NaÏn. Viele Menschen bedürfen unseres Rates.“

„Und doch nehmt Ihr den weiten Weg von Tiberias hierin auf Euch.“ „Ja, Elias, denn der unnatürliche Tod eines Schriftgelehrten ist ja auch kein alltägliches Ereignis.“ Als Schriftgelehrter hatte Jeschua die grundsätzliche Berechtigung zu sprechen, doch er fragte: „Aviel, Elias, darf ich sprechen?“ Und die beiden nickten. Und Jeschua sprach den Rechtsgelehrten an: „Wie Ihr seht, sind wir einfache Leute, die mit unserer Hände Arbeit das zum Leben Nötige hervorbringen. Wir zahlen unsere Steuern, obgleich sie sehr hoch sind und wir danken Euch für Eure Worte, obwohl wir sie nicht verstehen können.“

Aviel und Elias hatten mit einem von für Jeschuas Reden typischen Gleichnis oder Bibelzitat gerechnet, die er zu Beginn gerne nutzte. Doch diesmal überraschte er sie. „Ja, Jeschua, Schriftgelehrter aus NaÏn,“ sagte Bezalel, „auch für uns ist dies ein Vorfall, den wir noch nicht verstehen. Und unser Fürst ist sehr besorgt über mögliche Beunruhigungen im Volk, wenn sich Gerüchte über Simons Tod unkontrolliert unter den Leuten verbreiten sollten. Wie Ihr vielleicht wisst, ist die Lage in Galiläa und im Reich der Römer angespannt genug.“ Dann wandte sich Bezalel an Elias: „Die Rechtsgelehrten prüfen noch die Angelegenheit mit Simons Besitz. Ich kann Dir noch nicht sagen, wann sie eine Entscheidung treffen werden.“ Elias nickte. „Nun,“ sagte Jeschua. „Wie können wir Euch dienen?“ Und Bezalels Blick wandte sich an den obersten der Römer unter ihnen, der Claudius hieß, und auch er sprach Aramäisch.

„Ihr Männer von NaÏn. Wir danken für Eure Gastlichkeit und ich stimme Bezalel zu. Auch der Kaiser wünscht Ruhe und Frieden in den Provinzen. Zunächst wollen wir Simons Anwesen in Augenschein nehmen und seine Buchhaltung und Bezalel das Gebetshaus. Wir haben von Elias vernommen, dass Du, Jeschua aus Nazaret, das Amt des Simon vorübergehend übernommen hast und auf Simons Anwesen wohnst. Somit sollst Du unser erster Ansprechpartner sein. Wir werden mit den Menschen aus dem Dorf sprechen und mit denen, die mit Simon Handel betrieben. Darüber hinaus wollen wir Euch und Euren Leuten so wenig Unruhe bereiten, wie möglich. Geht Eurem Tagwerk, wie gewohnt nach. Alle Mehrausgaben, die Ihr wegen unserer Anwesenheit haben werdet, sollen erstattet werden. Wir werden das essen, was Ihr esst und trinken, was Ihr trinkt. Können wir auf Simons Anwesen Quartier beziehen, Jeschua?“ „Ja, Claudius, es ist alles Nötige dafür vorbereitet.“

„Habt Ihr ein Zeichen von Simons Frau gesehen?“ Sie schüttelten die Köpfe. „Nun gut, lasst uns an die Arbeit gehen,“ beendete der Römer die Zusammenkunft und sie erhoben sich. Und sie waren sehr erstaunt über die Kultiviertheit und die angenehme Gestalt des Claudius und Jeschua dachte sich, einen solchen Glauben habe ich in Galiläa noch bei Niemandem gefunden. (Angelehnt an: Matthäus 8:10: der Hauptmann aus Kapernaum.)

Vom zweiten Römer, der dem Gespräch beiwohnte und der Lucius hieß, hatte er noch kein Wort gehört. Aviel und Elias waren erleichtert, dass sie vorerst keine größere Rolle spielen mussten. Aviel ging nach Hause, Elias an seine Arbeit. Claudius bemerkte Jeschuas Wahrnehmung über Lucius. „Lucius ist kein Mann vieler Worte, Jeschua,“ sagte er. Und Jeschua wurde klar, dass Lucius Anwesenheit eine Bedeutung hatte, sonst wäre er nicht hier. Jeschua führte Bezalel direkt zu den Schriftrollen, deren Siegel und Schriften er nicht verstand. Die Römer warteten vor dem Gebetshaus.

„Gibt es einen Katalog der hier gelagerten Schriftrollen?“ Erkundigte sich Bezalel. „Ja, Bezalel.“ Und Jeschua gab ihm die Schriftrolle. „Ich habe sie durchgesehen und mit den gelagerten Rollen verglichen. Ich fand keine Abweichungen.“

„Die Weisen in Nazaret haben Dich gut gelehrt, Jeschua,“ befand Bezalel. „Ist Dir bei Deiner Ankunft hier etwas aufgefallen?“

„Was meinst Du?“

„Irgendetwas, was sich von dem unterscheidet, wie Du das Amt gelernt hast?“ Jeschua dachte nach, doch er konnte nichts dazu sagen. „Wenn Dir noch etwas einfallen sollte, lass es mich bitte wissen.“ Jeschua nickte.

Bezalel nahm den Katalog und die Rollen mit den fremden Schriften und Siegeln an sich und sie gingen zu den Römern. „Seht, Claudius und Lucius, was sich im Schreibraum des Gebetshauses fand,“ sagte Bezalel. Die Mienen der Römer schienen sich für Jeschua für die Dauer eines Wimpernschlages zu verfinstern, doch dann erschienen sie ihm wieder wie vorher. „Kennt Ihr diese Schrift?“ Jeschua musste einfach fragen. „Das ist parthisch,“ sagte Lucius. „Und dies sind parthische Siegel.“

Jeschua wusste von den Weisen, dass die Parther seit vielen Generationen die erbittertsten Gegner Roms im Osten des Reiches waren. Es ging beiden Seiten um politische Macht, aber vor allem um die aufkommenden Handelsmöglichkeiten mit dem fernen Indien und China. Eine für ihn unvorstellbar hohe Anzahl von Menschen hatte in den Kriegen auf beiden Seiten schon ihr Leben verloren oder sie waren versklavt worden. Jeschua kannte aus den Schriften natürlich die alten Geschichten und Legenden um die Diaspora sehr gut. Vor vielen Jahrhunderten wurden abertausende Aramäer aus dem besiegten Königreich nach Babylon verschleppt, das nun zum Partherreich gehörte. Für ihn war es gut möglich, dass dort noch aramäisches Leben war. Hatte Elias nicht gesagt? Wie aus dem Nichts waren Simon und seine Frau eines Tages im Dorf erschienen. Es blieb Jeschua keine Zeit für weitere Gedanken, denn Claudius drängte darauf, das Anwesen des Simon zu sehen.

„Was geschieht mit den Schriftrollen?“ Wollte Jeschua noch wissen. „Wir nehmen sie mit nach Tiberias. Dort können wir sie in Ruhe studieren,“ sagte Claudius. Der dritte Römer brachte die Pferde und sie gingen zu Simons Anwesen. Als sie dort ankamen, wurden sie bereits von den Weingärtnern, den Mägden und von Kenan und Johannes erwartet. Die Weingärtner zeigten dem bewaffneten Römer den Weg zu den Ställen, die Mägde hatten Brot, Salz und Wasser vorbereitet und sogar etwas Obst. „Wir wollen die Buchhaltungsrollen des Simon sehen,“ sagte Lucius und Jeschua brachte sie ihm. „Das ist alles?“ Fragte Lucius. „Ja,“ antwortete Jeschua „mehr habe ich nicht gefunden. Sie lagen im Schreibraum des Gebetshauses.“ Claudius wandte sich an Kenan und Johannes. „Wo habt ihr gedient?“ Auf den ersten Blick hatte der Römer die körperliche Verfassung der beiden richtig eingeschätzt. „Bei der Zwölften, Herr!“ Sagten sie fast gleichzeitig. „Du hast sehr tapfere Begleiter, Schriftgelehrter,“ sagte Claudius mit einem Lächeln. „Ich bevorzuge das Wort der Gottheit, Claudius,“ sagte Jeschua und „es ist genauso mächtig wie ein Schwert.“

„Ich wünschte, die Menschen ließen sich so regieren,“ sagte Claudius. Dann besah er zusammen mit Lucius und Bezalel die Buchhaltung. Nach einer Weile fragte Bezalel: „Wo ist das Geld des Simon?“ Und Jeschua brachte ihm eine Schatulle, die er am Abend seiner Ankunft sichergestellt hatte. „Was hast Du daraus entnommen?“

„Ich habe die Arbeit von Rebecca, Esther, Daniel, Aaron und Nataneel entlohnt und es in den Büchern vermerkt. Wir haben die Lebensmittelvorräte aufgefüllt und wir bezahlen die Ausgaben für das Weingut. Alles ist, so gut ich es konnte, aufgeschrieben.“ „Du bist ein ehrlicher Mann, Jeschua, und Ihr seid gottesfürchtige Menschen. Wohl habt Ihr getan!“ Lobte Bezalel sie und sie waren erleichtert über dessen Urteil. Dann sagte Claudius: „Ruft mir den Petronius!“ Und der Gerufene kam und er sprach auch Johannes und Kenan an. „Petronius, geh bitte mit Johannes und Kenan in die Umgebung des Anwesens und seht sie bis zum Abendessen gründlich durch.“

„Ja, Herr. Und nach was sollen wir suchen?“

„Nach allem, was nicht so ist, wie es sein sollte.“ Und sie eilten davon. Claudius und seine Begleiter machten auf Jeschua immer mehr den Eindruck, dass sie mit diesen Untersuchungen erfahren waren. Ihre Handlungen erschienen ihm überlegt und einem vorbereiteten Plan zu folgen. Und Claudius ermutigte Jeschua seine Verpflichtungen einzuhalten und so ging er zurück in das Dorf. Einige Menschen waren bereits wieder auf dem Dorfweg. Dort traf er auf Elias: „Wie gehen die Untersuchungen voran?“ Wollte er wissen. Und Jeschua berichtete Elias von seinen Eindrücken. „Was hatte es mit Schriftrollen auf sich?“ Fragte Elias. „Sie sind parthischen Ursprungs. Mehr sagten sie nicht dazu.“ „Gütige Gottheit!“ Rief Elias. „Das wird ja immer verrückter!“ „Ja, Elias.“ Und sie gingen wieder ihrer Wege.

Jeschua ging in den Schreibraum und er entrollte den ersten Teil der Tora und er las laut vor: „Das sind die Namen der Söhne Israels die nach Ägypten gekommen waren mit Jakob waren sie gekommen jeder mit seiner Familie: Ruben, Simeon, Levi, Juda, Issachar, Sebulon, Benjamin, Dan, Naftali, Gad und Ascher. Es waren siebzig Personen. Sie alle stammten von Jakob ab. Josef aber war bereits in Ägypten. Josef alle seine Brüder und seine Zeitgenossen waren gestorben. Aber die Söhne Israels waren fruchtbar, sodass das Land von ihnen wimmelte.“

„Die Hebammen aber fürchteten die Gottheit und taten nicht, was ihnen der König von Ägypten gesagt hatte, sondern ließen die Kinder am Leben,“ (Das Buch Exodus, Kapitel 1) hörte Jeschua auf einmal eine Stimme. Es war die Stimme von Bezalel. „Ich hoffe ich störe nicht, Jeschua.“ Sagte Bezalel. „Nein, Bezalel, tritt ein,“ antwortete Jeschua. „Es ist gut, die Worte der Gottheit mit Deiner klaren Stimme zu hören, Jeschua.“ „Und es ist gut, sie zu lesen. Was führt Dich zu mir?“ „Erzähle mir von Dir.“ „Ist dieses Gespräch ein Teil Deiner Untersuchungen?“ „Ja und Nein, Jeschua. Aber immer der Reihe nach.“

Und Jeschua erzählte Bezalel über sein bisheriges Leben, wie er aufwuchs und wie er schließlich nach NaÏn kam. „Doch das wusstest Du schon, Bezalel,“ endete Jeschua. „Mag sein, Schriftgelehrter. Immerhin unterscheidet sich die eigene Wahrnehmung oft von der, die andere Menschen haben. Ich danke Dir für Deine Schilderungen.“ Es entstand eine kurze Pause. „Du bist ein gelehrter und kluger Mann, Bezalel. Was ist es im Leben, das Dich antreibt?“

„Gerechtigkeit vor der Gottheit, Jeschua!“ Sagte Bezalel mit fester Stimme. „Steht nicht geschrieben? Du wirst nicht morden! Sieh, was hier in NaÏn geschehen ist. Das ist es, was mich antreibt!“

Jeschua konnte im Herzen und in der Seele von Bezalel lesen und er spürte darin keine Widersprüche. „So arbeiten wir beide auf dem gleichen Weinberg, Bezalel. Ich zeige den Menschen, wie sie den Weinberg vor der Gottheit und ihrem Wort gerecht bestellen können. Deine Berufung ist es, Dich derer anzunehmen, die daran scheitern. Doch ich frage Dich: Welches Interesse haben die Römer an unserem Weinberg?“

„Die Römer, Jeschua, wollen, dass Ruhe in ihrem Machtbereich herrscht. Denn das bedeutet, dass Waren und Steuern reichlich fließen. Ein ermordeter Schriftgelehrter kann sogar Unruhe unter das Volk bringen, obwohl er bereits tot ist. Und bei Unruhe fließen meist weniger Waren und Steuern und das Wenige auch noch langsamer. Die Römer trauen uns einfach nicht.“

„Doch Eure Untersuchung, Bezalel, bringt Simon nicht ins Leben zurück, und die Untersuchungen können eine mögliche Unruhe auch nicht verhindern. Viele von uns haben zwar nicht so schnelle Pferde, wie Ihr, doch ich bin sicher, dass sich die Kunde bereits weit verbreitet hat. Was also sind die wahren Gründe Eurer und der Römer Anwesenheit?“

„Du sprichst leidenschaftlich, Jeschua.“ Jeschua wusste, dass die Bevölkerung auf dem Land vielen, wenn nicht allen Stadtmenschen vorwarf, dass sie mit den Besatzern zusammenarbeiteten. Die Landbevölkerung, die ihre Waren in den größeren Städten zum Verkauf anbot, missgönnte den Städtern zusätzlich noch deren Wohlstand, den sie als Folge der Zusammenarbeit betrachteten und obwohl die Schrift sie lehrte, dass sie niemanden beneiden werden. Und Jeschua sagte: „Mir ist es gleich, ob die Römer Ägypter oder Griechen oder Parther sind. Für mich hat die Gottheit alle Menschen gleich geschaffen. Wenn wir die Wahrheit in dieser mysteriösen Angelegenheit finden wollen, müssen wir wahrhaftig miteinander umgehen. Deshalb frage ich Dich mit anderen Worten: Was sind die wahren Gründe für diese Untersuchungen, gleich wer daran beteiligt ist?“

„Nun gut, Jeschua, doch Eines vorweg: Ich möchte meine Worte nicht aus Mündern von Männern oder Frauen hören, die nicht in diesem Raum sind.“

„Du hast mein Wort, Bezalel,“ sagte Jeschua. Und Bezalel berichtete ihm von Interessenkonflikten innerhalb Galiläas und zwischen Galiläa und Rom. Mehrfach hatte Herodes Antipas versucht, den römischen Kaiser dazu zu bewegen, ihn zum König von Galiläa zu ernennen, doch bei jeder Anfrage war er damit gescheitert, zumal vom Kaiser Tiberius mit zunehmendem Lebensalter wilde Gerüchte, über dessen Geisteszustand im Umlauf waren, die Herodes Antipas wiederum dazu nutzte, seinem Umfeld sein Scheitern zu erklären. Doch Gerüchte hin oder her, die zunehmende Zurückgezogenheit des Kaisers sorgte innerrömisch für ein Machtvakuum, denn auch die Nachfolgefrage war bei Weitem noch nicht geklärt. Dies wurde von den Statthaltern in nahezu allen Provinzen rücksichtslos ausgenutzt, denn sie bereicherten sich noch mehr zulasten der Menschen, als sie es bereits taten. Gleichzeitig fürchtete sich Herodes Antipas vor seinen eigenen Kindern und darunter litten die Regierungsgeschäfte. Angeblich wollten sie ihn ermorden und seinen Platz einnehmen.

„Viele von uns, Jeschua,“ sagte Bezalel, „sind seit Monaten mehr mit den Nachstellungstheorien des Fürsten beschäftigt, ob zutreffend oder nicht, als mit unseren eigentlichen Aufgaben.“ So führte dies in Galiläa zu offenen Fragen und Wunden in der Gesellschaft, die bei einem mit Regierungsarbeiten beschäftigten Fürsten nicht entstanden wären. Wichtige Entscheidungen, wie zum Beispiel Nachbesetzungen selbst niedrigster Posten, wurden aufgeschoben, weil Herodes Antipas die Bewerber aus Angst gründlicher überprüfen ließ, als diese ohnehin geprüft wurden. Die Neugründung der Stadt Tiberias, als neue Hauptstadt der Provinz, mit all ihrem Prunk, war außerdem kostspielig gewesen und ging zulasten der Bevölkerung. Und im Volke der Aramäer waren im Laufe der Geschichte immer wieder kleine religiöse Sekten entstanden, die sich stets die Unzufriedenheit der Bevölkerung über die Lebensumstände zunutze machen konnten, weil sie mit den Ängsten und Hoffnungen der Menschen spielten. Darunter waren auch jetzt wieder solche, die den Menschen das bevorstehende Gottesreich und den Messias verkündeten. Ähnliche Strömungen hatten vor etwas mehr als fünfundzwanzig Jahren bereits einen Aufstand ausgelöst, der von den Römern jedoch brutal zerschlagen worden war.

„Herodes Antipas kennt die Geschichte und er will, das sie sich nicht zu seinen Ungunsten wiederholt,“ endete Bezalel. „Und was spielen die Parther dabei für eine Rolle?“ Fragte Jeschua. „Das ist eine Theorie des Claudius. Die Parther können die Römer jetzt nicht militärisch besiegen, die Römer die Parther aber auch nicht. So versuchen die Parther den Römern auf indirektem Weg zu schaden, damit Schwachstellen in ihrem Reich entstehen. Claudius nimmt an, dass die Parther Aufrührer unterstützen, die in aramäischen Provinzen Unruhe anstiften, sodass die Römer gezwungen werden, einen Teil ihrer Truppen von den Grenzen zum Partherreich abzuziehen und die Parther somit einen neuen Angriff riskieren können. Je nachdem, was in den Schriftrollen steht, werden wir vielleicht wissen, ob die Theorie des Claudius stimmt oder nicht.“ „Und Ihr glaubt, Simon war ein aramäischer Mann in geheimen Diensten der Parther?“

„Das können wir nicht sagen, es wäre aber möglich, dass Simon mit dem Weinhandel auch aufrührerische Gedanken verbreitete, zumindest aber, dass er ein Bote der Aufrührer war.“

„Warum sollte er das alles getan haben?“ „Liegt das nicht auf der Hand?“ Fragte Bezalel. „Wenn ich in den Schuhen der Parther stände, würde ich die Sehnsüchte vieler unserer Landsleute ausnutzen. Ich würde ihnen versichern, dass sie nach dem Sturz der Römer ihr eigenes Königreich zurückbekommen. Träumen wir nicht alle davon, Jeschua?“

„Dann wäre mit dem Gottesreich nicht das wahrhafte Reich der Gottheit gemeint, sondern einfach nur ein anderes, irdisches Königreich,“ sagte Jeschua nachdenklich. „So habe ich das noch nicht gedacht, Jeschua.“

Es war mittlerweile später Nachmittag geworden und Jeschua und Bezalel beschlossen, zum Anwesen des Simon zurückzugehen. „Danke, Bezalel,“ sagte Jeschua. „Du hast eine überzeugende Stimme und überzeugende Argumente, Jeschua. Ich denke, es ist meine Pflicht, Claudius über unser Gespräch zu informieren.“ „Das ist nur gerecht, Bezalel,“ sagte Jeschua.

Und gleich nach ihrer Ankunft sah Jeschua, wie Bezalel Claudius zur Seite nahm und wie sich ein kurzes und intensives Gespräch zwischen ihnen entwickelte. Dann gingen sie zu Jeschua. „Bezalel informierte mich über Euer Gespräch, Jeschua. Ich bin damit einverstanden,“ sagte Claudius.

Wenig später kamen Petronius, Johannes und Kenan von ihren Erkundigungen zurück und sie gingen gleich zu Claudius: „Herr,“ erstattete Petronius Bericht. „Wir haben die Gegend um das Anwesen in einem Kreis von ungefähr zwei Meilen durchsucht. Viele Sträucher mit Dornen versperren Menschen ein Durchkommen, doch es gibt von Menschen ausgetretene Wege, vermutlich für die Jagd. Und in etwa einer Meile in nordöstlicher Richtung fanden wir das hier.“

Petronius hob stolz ein etwa zwei handbreit großes, zerrissenes, scharlachrotes Stück Baumwollstoff in die Höhe. Es war nicht sehr verstaubt, es konnte von einem Kleidungsstück stammen, das helle Rot sprach für das Kleidungsstück einer Frau, denn diese Farbe war nicht nur bei den Römerinnen sehr in Mode. „Wir folgten einigen nicht zu alten Schuhspuren, die sich aber leider nach ein bis zwei Stadien verloren (Antikes, römisches Längenmaß. Ein Stadium entspricht zirka einhundertfünfundachtzig Meter.). Es ist auch unsicher, ob sie von einer Frau stammten.“

„Sehr gut, Männer!“ Lobte Claudius. „In welche Richtung zeigten die Fußspuren?“ „Nach Nordosten, Herr!“ Sagte Petronius.

Und nachdem sie sich gründlich gewaschen hatten, nahmen sie gemeinsam das Abendessen ein. Vor allem die Männer aus Tiberias waren zu Beginn sehr erstaunt darüber, dass sie alle zu Tisch liegen werden, doch Jeschua erklärte ihnen die Gründe dafür und sie befanden sie für gut. Sie waren tatsächlich eine Art Schicksalsgemeinschaft, in der sie einander brauchten. Der gesellschaftliche Rang war hierfür nicht von Belang. Dieser Jeschua, dachte sich Claudius, ist wirklich ein bemerkenswerter, junger Mann. Denn auch während eines Feldzuges waren die Offiziere nah bei den Legionären. Jeder musste sich auf den Anderen verlassen können.

Jeschua

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