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Neue Horizonte

Niemand antwortet auf das Klopfen. Die großen, bis zum Boden reichenden Glastüren zwischen den hohen Steinpfeilern bleiben geschlossen. Hinter den dicken, zugezogenen Vorhängen sieht man nicht den geringsten Lichtschimmer. Der vom Meer her kommende feuchte Nachtwind lässt die dunklen Kronen des Parks schwanken. Die vertrockneten Blätter in den Blumenkästen vor den Fenstern im Obergeschoss zittern, und die Efeuranke am Geländer der großen Terrasse rauscht. Der prächtige, gepflasterte Strandpfad hinter dem Gartenzaun ist leer; unter den schönen Leuchtern wandelt kein einziger Mensch. Die Lichter des Kursaals, an dem ich gerade vorüberging, glänzen von Ferne durch die Bäume des Parks, und der Nachtwind trägt bis hierher ab und zu abgehackte Melodien.

Ich bin müde. Ich setze mich auf der dunklen und verlassenen Terrasse auf meinen Koffer. Was für grenzenlose Wehmut überall. Wieder kommt mir die Frage in den Sinn, die mich die ganze Schiffsreise lang bewegte, im Zug auf der Fahrt durch Dänemark, auf der stürmischen See mit der Eisenbahnfähre von Gjedser nach Warnemünde: Wozu nun wieder diese Reise? Was glaubst du hier zu finden? – Ich erinnere mich, wie ich im Salon des Schiffes die spanische Zeitschrift Nuevos Horizontes durchgeblättert habe. Neue Horizonte … Die Gallionsfigur sieht neuen Horizonten entgegen! Mich hat ein erstickend niedriger Himmelsrand zu viele Jahre umgeben. Ich bin keine Gallionsfigur mehr. Den größten Teil meiner Reise habe ich auf dem hinteren Teil des Schiffes zugebracht und die kreisende Möwenschnur im Dunkel der Nacht und das aufschäumende Wasser aus dem Lichtschein der Laternen schnell verschwinden sehen.

Ich bin keine Gallionsfigur mehr. Die Geheimnisse der Tiefe und das Kielwasser ziehen mich in ihren Bann – nicht eine irgendwo auftauchende Küste.

*

Das letzte Mal war ich vor vier Jahren im Ausland. In London. Die Großreinigung war damals gerade erschienen. Eine bittere, von prickelnder Melancholie erfüllte Reise. Die erste Jugend hatte ihre endgültige Kündigung ausgesprochen.

Meine Absicht war, ein Buch über diese Reise zu schreiben. Ich zog mich aufs Land zurück, in mein Heimathaus nach Kivennapa, wo ich schon früher zwei Jahre damit verbracht hatte, meine literarische „Großreinigung“ zu planen. Ein hoffnungsloser Versuch. Unsere kulturelle Atmosphäre vernebelte sich gerade in diesem Herbst bedrohlicher als irgendjemand dies vorausgesehen hatte. Das konnte man freilich schon seit 1930 ahnen, als der Zugriff der Krise straffer wurde, eine Gebildetenzeitschrift nach der anderen einging und die Marschrhythmen der Bauernschaft das ganze Land erschütterten. Der Tiefpunkt setzte 1932 ein. Der Kampf um die „grüne Weide“ wurde zum Signal, das alle rückständigen und kulturfeindlichen Kräfte zur Einheitsfront aufrief. Es schien zeitweise so, dass für subjektiv und frei suchende Schriftsteller in Finnland kein Platz mehr war. Zu schriftstellerischer Tätigkeit verspürte ich keinen Hang mehr. Und trotzdem wusste ich die ganze Zeit während dieser stummen Jahre, dass in der Welt etwas geschah, was wir völlig falsch einschätzen. Wir sahen die Welt wie durch das grünlich trübe und verfälschende Fensterchen unserer Hütte. Revolution links und Revolution rechts … Aber man rief uns zu: „Die alten, erfahrenen, vererbten Werte in Ehren!“ Am anschaulichsten von allem: Die Geistlichkeit wandelte sich vom Verteidiger zum Angreifer!

Überall Verworrenheit der Begriffe. Unwissenheit, lächerliche Gutgläubigkeit, blinde Begeisterung, der Idealismus der Aufklärungslotterie organisierenden Tanten inmitten einer stählernen, zielstrebigen, in zwei Teile zerfallenden Welt …

He, du alter Krieger! Bist du müde – hat das lange Warten im dunklen Stall schon gänzlich deine Reflexe gelähmt? Gib dir die Sporen – du musst wieder losrasen, neue Horizonte für dich entdecken!

*

Ich gehe nochmal ums Haus. Jetzt bemerke ich, dass auf der anderen Seite im Fenster des Kellergeschosses ein Feuerchen aufblitzt. Dort befinden sich Küche und Wohnungen der Bediensteten. Ein rotwangiges, junges Mädchen öffnet die Tür. Lübecker Mundart quirlt lebhaft von ihren Lippen. Sie weiß – der Herr kommt aus Finnland. Oh je, wie schade: Alle anderen Schriftsteller, Doktor Domes und Frau Hayn sind heute früh für zwei Tage nach Berlin zu den Olympischen Spielen abgereist. Doktor Domes hat es sehr bedauert, dass sie nicht mehr warten konnten. Auf dem Tisch im Speisesaal liegt ein Brief für Sie …

Tee und Butterbrote versuchen sich in dem leeren, mit Mahagonipanel dekorierten Speiseraum an meinem reiseverstaubten Gaumen festzukleben. Meine Abreise aus Finnland hatte sich aus vielerlei Gründen verzögert. Das Deutsch-Nordische Schriftstellerhaus hatte man in diesem Jahr so spät geöffnet, dass der Finnische Schriftstellerverband Schwierigkeiten hatte, jemanden als Gast dahin zu schicken. Der Sommerurlaub war ja für alle Finnen so gut wie vorbei. Ich traf am 14. August in Travemünde ein. Ein Tag Verspätung brachte mich um eine der großartigsten Veranstaltungen, die das Dritte Reich für die skandinavischen Schriftstellergäste zu bieten hatte: die Olympischen Spiele.

*

Am nächsten Morgen treffe ich in der Bibliothek einen kleinen, freundlichen, jungen, aber dennoch halbwegs grauhaarigen Mann, dessen im Ohr verstecktes Mikrophon verrät, dass er taub ist. Es ist der Däne Erik Bertelsen, der sich auch schon im ersten Sommer 1934 im Dichterhaus aufgehalten hat. Ich begreife erst in diesem Moment völlig die Bedeutung des Dichterhauses als politisches Streitobjekt, als ich höre, dass sich der dänische Schriftstellerverband wie schon im letzten Sommer geweigert hat, einen Vertreter für den Besuch auzuwählen. Bertelsen war trotzdem erschienen, indem er das allen früheren Bewohnern zustehende Recht genutzt hatte, jeden Sommer einige Wochen dort zuzubringen.

*

Am Abend erscheinen die anderen Gäste aus Berlin, voller überschäumender Begeisterung über das Erlebte. Wir gehen ihnen mit Bertelsen zum Bahnhof entgegen. Der Leiter des Dichterhauses, Doktor Fred J. Domes stellt vor: Rupert Rupp, Fritz Helke und Graf Ottfried von Fin­ckenstein, Doktor Eyvind Mehle aus Norwegen, Doktor Sven Stolpe aus Schweden und meinen Landsmann Göran Stenius.

Jeder dieser Männer bildet für mich einen neuen Horizont. In ihrer Gesellschaft waren die im Dichterhaus verlebten Wochen im Spätsommer eine Kraftquelle, für die ich sehr dankbar bin. Nach aller Unsicherheit, allen Unklarheiten und kulturellen Halbgestricktheiten spüre ich, endlich wieder festen, geistigen Boden zu betreten.

Die griechische Mythologie berichtet von Antaeus, der so lange neue Kraft schöpfte, wie seine Beine die Erde, seine Mutter, berührten. Ich bin Antaeus, der gerade diesen Boden brauchte.

Zu Gast im Dritten Reich 1936. Rhapsodie

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