Читать книгу Zu Gast im Dritten Reich 1936. Rhapsodie - Olavi Paavolainen - Страница 15

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Kerzenschimmer und Rotwein

Die gemütliche, kultivierte und von allen politischen und persönlichen Widersprüchen freie Stimmung im Dichterhaus ist seinem ausgezeichneten Leiter Doktor Fred J. Domes zu verdanken. Schon seine gesellschaftliche Ausstrahlung ist phänomenal. Die Skala reicht vom anzüglich derben Offizierskasinowitz bis zur scharfen wissenschaft­lichen Analyse; und beide Extreme versteht er in ausgewählt lebhaften, anregend erfinderischen Wendungen zu verschleiern. Domes’ österreichische Herkunft und die frühere Offizierslaufbahn erklären dieses gewandte Auftreten. Zudem ist sein Spezialgebiet Theaterhistorie, auch hat er an vielen Theatern gelegentlich Regie geführt. Weiter fördert die Beherrschung skandinavischer Sprachen seine Eignung, die Bewohner des Dichterhauses einander näher zu bringen.

Er spricht fließend Dänisch, Norwegisch und Schwedisch, kennt gründlich die Literatur der skandinavischen Länder und hat als langjähriger Leiter der Kulturabteilung in der Nordischen Gesellschaft intime Beziehungen zu den nordischen Ländern geknüpft. Gegenwärtig arbeitet er als Lektor für deutsche Literatur an der Universität Aarhus in Dänemark.

Eine ebenso stilvolle Erscheinung ist die Hausherrin des Schriftstellerheims, Frau Hayn. Alle deutschen Hausfrau-Tugenden verbinden sich bei ihr mit beachtlicher Belesenheit und natürlicher, gesunder Intelligenz. Sie ist der Inbegriff einer feinen Deutschen: ausgeglichen, ehrenwert und weiblich. Sie kann lebhaft und mondän auftreten oder zurückgezogen und schweigsam – wie das die Vorteile und Launen ihrer Gäste eben erfordern.

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Unsere erste Frage an Doktor Domes ist am morgendlichen Teetisch regelmäßig: „Gibt es heute irgendein offizielles Programm?“ Fällt die Antwort negativ aus, wissen wir, dass es um sechs das deutsche Abendessen geben wird, nach dessen Beendigung ebenso regelmäßig von Doktor Domes der Satz zu hören ist: „Wir treffen uns also wie üblich dann heute Abend um neun!“

Die gemeinsamen Abendsitzungen werden schnell zu einem täglichen Zusammensein. Vielleicht macht jemand von uns nach dem Essen einen Spaziergang zum Seetempel an der Steilküste, um sich das Schauspiel anzusehen, wie am gegenüberliegenden Strand die Lichter der Kurbadstadt angehen; ein Anderer bummelt über die belebte Strandpromenade und hört von der glänzend beleuchteten Terrasse des Kursaales das Echo vom Abendkonzert oder bestaunt die im Dunkel leuchtenden Schiffslaternen und Lichtbojen, die vom Meer her über die mächtige Dünung am Sandstrand blinken. Ein Dritter geht mal an der Bar von Tante Alma vorbei, um zu gucken, ob sie heute guter oder schlechter Laune ist, und der Nächste streunt durch den von bunten Laternen erhellten Garten der „Seerose“ und sehnt sich nach einer deutschen Schönheit. In seinem Zimmer zum „Arbeiten“ verschließt sich keiner. Man schreibt höchstens einen kurzen Brief oder liest – mehr aus Pflichtbewusstsein – im Buch eines Kollegen im Dich­terheim. Hauptsächlich aber wird in diesem Haus diskutiert – heftig, voller Neugier, gespannt. Der Druck der Zeit trifft einen zu schwer, und das Wissen um die Kürze des Zusammenseins bringt diese jungen Seelen dazu, sich einander anzuvertrauen, in kameradschaftlicher Ehrlichkeit wie mit fast hastiger Zärtlichkeit oder mit dem Bedürfnis zu verstehen.

Es ist mithin absolut selten, dass jemand aus der Gruppe abwesend ist, wenn wir zur verabredeten Zeit den Salon betreten und der bekannte Anblick das Auge erfreut: Auf der Messingplatte des Ecktischchens hat Frau Hayn an die zehn kleine Kerzen angezündet, deren Flämmchen sich in acht Gläsern, einer großen Kristallkaraffe und einer Schale mit kleinen Brötchen und Keksen spiegeln. In der Kanne schimmert unser üblicher milder und frischer Abendtrunk: eine Mischung von Sekt und Moselwein, in der Pfirsichscheiben schwimmen. Manchmal wird es zu dem vom Schreiber dieser Zeilen so geliebten Türkenblut ausgetauscht – einem Gemisch von Sekt und Rotwein – oder es hat am Tage jemand Frau Hayn gegenüber den Wunsch nach etwas Härterem geäußert, dann steht eine Flasche Korn oder Kümmel auf dem Tisch, zu denen die Deutschen gern ein Stückchen Schwarzbrot erbitten.

Jeder hat schon seinen eigenen Lieblingsplatz, den er ohne Weiteres wieder einnimmt. Frau Hayn sorgt in ihrer aufmerksamen und feinen Art für die Bewirtung, Doktor Domes eröffnet das Gespräch mit Wiener Charme oder stellt sogleich spielerisch direkt eine Frage. Die Luft verdichtet sich schnell im Qualm europäischer Politik, nazistischer Kultur, persönlicher Bekenntnisse und deutscher Zigaretten. Von letzteren gibt es derartig viele Qualitäten, dass ein Ausländer auch in einem Monat noch nicht seine eigene Marke gefunden hat, aber nach einer Woche bereits strengen Tabakhusten hören lässt.

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Wie unglaublich schwierig war es doch anfangs, sich an die deutsche Denkweise zu gewöhnen. Ich glaube fast, dass ich bis zuletzt die unbeliebteste Person im Dichterhaus war. Meine eigene persönliche Krise hatte schon manches Jahr angedauert; das hatte mich dazu gebracht, allen Menschen mit Misstrauen zu begegnen. In Finnland war es leichter, seine Noli-me-tangere-Haltung zu bewahren, indem man sich hinter unverbindlichen und glatten Höflichkeiten und „gut erzogenem Stil“ verbarg. Hier merkte ich schon am Begrüßungsabend, dass Korrektheit der allerunglücklichste Stil ist. Diese jungen Menschen waren aufrichtig, offen, eindeutig, schlagfertig und im besten Sinne kameradschaftlich. Der Gifthauch der Zeit hatte ihnen alle unnütze Dekoration weggeblasen. Sie waren gewohnt, ihre Meinung ungeniert und geradeheraus zu sagen und das Gleiche erwarteten sie von ihren Gästen. Meine Stellung war anfangs insofern ungewöhnlich schwierig, weil die anderen Skandinavier schon viel früher ins Haus gekommen und mit unseren Deutschen bekannt geworden waren und die gemeinsame Begeisterung für die Olympischen Spiele sie noch stärker nahegebracht hatte. Meine vorsichtige und zurückhaltende Konventionalität störte sie – und ich selbst litt darunter am meisten.

Wie schämte ich mich all dessen, was ich früher geschrieben hatte. Ich hatte meine „berühmten“ und „aufsehenerregendsten“ und „modernsten“ Werke mitgenommen, aber die ließ ich wohlweislich im Koffer. Die Skandinavier waren die einzigen, denen ich diese zeigen konnte … Für die Deutschen war das Leben so nackt, ihre Leiden und Erniedrigungen waren so endlos gewesen und der neue, durch Kampf erreichte Glaube und ihre Überzeugung so klar, direkt und einfach, dass auch unsere Probleme des tiefsten Wandels und der Verinnerlichung selbst der schmerzhaftesten Weltanschauung nur wie Stubenästhetik und Cafézwist wirkten.

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Wie ungeheuer reich das Leben dieser Menschen gewesen ist! Ich vermute, dies war unser stärkster Eindruck von unseren deutschen Freunden. So viel ich auch neuere Literatur gelesen hatte, habe ich doch niemals ebenso deutlich begriffen wie bei unseren Abendgesprächen, von welchen erschütternden Erlebnissen diese viel besprochene, ununterbrochen analysierte und beschriebene europäische „Jugend“, die inzwischen schon ins Mannesalter eingetreten ist, geformt worden ist. Deutschland hat von allen Ländern Europas den Weltkrieg und seine Folgen am heftigsten und albtraumartigsten durchlebt. In Deutschland ging es nicht nur darum, sich das Neue anzueignen, es musste auch so manches Alte und Wertvolle verboten werden.

Die politische Atmosphäre in Europa bildet den dumpfen und dramatischen Hintergrund für unser Zusammensein. Jede Nachricht von den Kämpfen in Spanien, den Verurteilungen der Trotzkisten in Moskau oder der Verlängerung der Wehrpflicht in Deutschland wirkt hier entschieden anders als je im Heimatland. Die Welt schwelgt in ihrem Schicksal, und ihre verrückte Schlagader pulsiert direkt an unserem Ohr.

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Trotz des fairen Klimas im Haus dauerte es ziemlich lange, bis bei uns Nordländern die letzten, stets „Propaganda“ witternden Vorurteile unseren Kollegen des Dritten Reiches gegenüber getilgt waren. Ich muss gleich zu Anfang sagen, dass sich dieses instinktive Misstrauen als völlig grundlos erwies. So ging unsere Reise zu den Nürnberger Parteitagen gänzlich auf unsere Bitten zurück. In den vorangegangenen Jahren hatten die Dichterhausgäste am Ende ihres Aufenthalts einen Ausflug nach Ostpreußen gemacht. Unsere Bitte, diesmal nach Nürnberg zu fahren, stieß zunächst hingegen bei unseren Gastgebern sogar ein wenig auf Widerstand, sie befürchteten nämlich, man könnte vermuten, unsere Reise ginge auf ihren Druck und die Absicht zurück, politische Propaganda zu machen.

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Der Wille unserer Gastgeber, die Stimmung im Haus absolut unpolitisch zu gestalten, wurde auch am Abend des 23. August besonders hervorgehoben, als in Gegenwart des Förderers vom Dichterhaus, seinem Vorsitzenden, dem ehemaligen Präsidenten der staatlichen Schrifttumskammer und führenden Schriftstellers im Dritten Reich, Doktor Hans Friedrich Blunck die Travemünder Runde gegründet wurde, der die früheren, gegenwärtigen und zukünftigen Hausmitglieder angehören sollten. Zu diesem Kreis zu gehören, ist mit keinerlei Verpflichtungen verbunden; als seine einzige Maxime wurde bezeichnenderweise festgehalten: „Die Travemünder Runde betont ausdrücklich, dass sie unpolitisch ist.“

Ich weiß, dass meinen Lesern wie auch mir selbst jetzt das so rühmlich bekannte Bild vom Trojanischen Holzpferd in den Sinn fällt. Ich konstatiere: Wahrscheinlich leben wir in der politisiertesten Epoche der Weltgeschichte. Die sich auf edle Parteilosigkeit zurückziehenden Individuen sollten das unbedingt beachten.

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Travemünde und Lübeck gehören so nahe zusammen, dass ich mit der Vorbereitung auf die dortige Atmosphäre das Büchlein des großen literarischen Gestalters von Lübeck, Thomas Mann, Lübeck als geistige Lebensform eingepackt habe. Das Buch enthält eine Rede, die Mann, Verfasser der Buddenbrooks, zum 700-jährigen Jubiläum der Stadt 1926 hielt. Mein Irrtum wurde mir freilich sofort klar. Mann vertritt eben die alte, zu verfeinerte und humane bürgerliche Intelligenzkultur, die im Dritten Reich – ebenso wie der weltberühmte Dichter auch – verbannt worden ist. Das dünne, mit dem Bild des Buddenbrook-Hauses auf dem Leineneinband dekorierte Buch verschwand ebenso schnell wieder in meinem Koffer wie die eigenen Werke.

Der Fall erhält symbolischen Wert. Die jungen deutschen Nazischriftsteller im Dichterhaus waren alles andere als „Lübecker Marzipan“, wie man Mann selbst charakterisiert hat. Die Fehde gegen das „Lübecker Marzipan“ ist für die Literatur im Dritten Reich zum Motto aufgestiegen. Manchmal ist es unmöglich zu wissen, was man mehr hasst – das Marzipan oder den Kommunismus.

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Sven Stolpe berichtet im Bonniers Litterära Magasin über eine während seines Aufenthalts im Dichterhaus niedergeschriebene Diskussion, die er auf einem für ihn von der Berliner Reichsschrifttumskammer organisierten Frühstück über diese Dinge mit dem bekannten Kunsthistoriker Doktor Wismann führen durfte. Das Gespräch verlief so:

W.: „Sie wollen doch nicht im Ernst die jüdisch-internationale deutsche Literatur verteidigen, die wir jetzt verachten?“

S.: „Aber doch, sogar in hohem Maße. Sie können doch Thomas Mann nicht ablehnen?“

W.: „Ich gebe ja zu, dass er eine gewisse Fertigkeit hat, dekadente Stimmungen zu beschreiben. Aber im Dritten Reich brauchen wir diese nicht. Wir brauchen seinen Pessimismus und diese Melancholie nicht.“

S.: „Geben Sie denn aber nicht zu, dass er ein großes dichterisches Genie ist?“

W.: „Nein, kaum. Man kann ihn gar nicht mit Kolbenheyer vergleichen.“

S.: „Ich finde, sein Josef-Roman ist absolut der größte Roman der deutschen Literatur.“

W.: „Den habe ich nicht gelesen und ich werde den auch nicht lesen.“

S.: „Obwohl Sie damit der Möglichkeit verlustig gehen, ein Meisterwerk kennenzulernen?“

W.: „Dieses Risiko übernehme ich. Ein Dichter, der es ablehnt, seinem Volk im Schicksalskampf beizustehen, interessiert mich nicht.“

S.: „Meinen Sie damit in vollem Ernst, jeder große Schriftsteller müsse auf der Seite des Volkes stehen?“

W.: „Das ist doch selbstverständlich. Dichtung ist nicht groß, wenn sie nicht der lebendigen Volksgemeinschaft entspringt.“

S.: „Goethe ist also kein großer Dichter! Denn er bewunderte Napoleon, und er hatte wohl kaum eine Beziehung zum politischen Freiheitskampf seines Volkes!“

W.: „Da sind Sie völlig im Irrtum. Die Erhebung war Sache der Intellektuellen und der Bürger. Diesen Volksaufstand kann man überhaupt nicht mit der nationalsozialistischen Volksrevolution gleichsetzen. Wenn Goethe jetzt leben würde, hätte er den Unterschied begriffen und wäre auf Seiten des Volkes gewesen …“

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Stolpe hat ein gutes Beispiel gewählt. Die Intelligenzelite des Dritten Reiches denkt ungefähr genauso. Ausgangspunkt dieses Denkens sind eine Reihe bestimmter Vorstellungen und Mythen – die bekannteste ist der „Nordische Gedanke“, auf den ich später zurückkomme – der deshalb akzeptiert wird, weil sie damit die politische Wirklichkeit verändern und einen neuen „Volkswillen“ schaffen konnten. Der Gedankengang ist nach Stolpe zum Beispiel hinsichtlich Thomas Mann folgender:

Hitler hat die geniale Methode erfunden, mithilfe politischer Mythen einen neuen Volkswillen zu suggerieren. Indem allen Gegnern der Mund gestopft wird, erschafft dieser Volkswille eine Volksgemeinschaft. Ein großer Schriftsteller kann sich nicht außerhalb dieser Volksgemeinschaft platzieren. Thomas Mann hat das getan. Deshalb ist Thomas Mann nicht nur ein politischer Verbrecher, sondern auch ein schlechter Dichter. Was zu beweisen wäre.

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Selbst bei den abendlichen Gesprächsrunden im Dichterhaus muss man sich daran gewöhnen, Behauptungen zu hören, die gute Nerven verlangen – oder das Vermögen, sein Lachen zu unterdrücken. Zum Beispiel, dass die Jahre 1860-1910 aus der deutschen Literaturgeschichte gestrichen werden müssten, weil der deutsche Geist während dieser Zeit auf internationale Bahnen führte, von falscher Freisinnigkeit angesteckt und zu ästhetisch und zur Unmännlichkeit degeneriert war. Oder man sollte eine Zensur einführen, weil schon jetzt vor allem von München aus eine bedeutende Opposition gegen die national­sozialistische Literatur und wieder übertriebenes artistisches Verhalten angewachsen ist.

Gedanklich am verblüffendsten war jedoch ein Gespräch, wo da­rüber gestritten wurde, ob die Gegenwartsliteratur eine große Tragödie erschaffen kann. Die Deutschen kamen zu dem Ergebnis: Im Dritten Reich kann man eine solche nicht schreiben. Denn Thema einer Tragödie ist immer der Kampf gegen ein unerbittliches Schicksal – und das neue Deutschland kennt keinerlei „Schicksal“ mehr. Es schafft sich sein Schicksal selbst – es ist selbst das Schicksal! Und da alle bedeutenden Schriftsteller Nationalsozialisten sind, können sie gar kein Thema über einen Kampf gegen das Schicksal erfinden …

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Einen Fremden dürfte übrigens die Art der Deutschen zu denken und zu diskutieren nervös machen. Es ist zu verstehen, wie alle die Witze entstanden sind, wenn einem auffält, dass die tausendseitigen Dissertationen deutscher Doktoren die leidenschaftliche Manie enthüllen, sich in irgendwelche Details zu vertiefen, die uns absolut überflüssig erscheinen. Sie entwickeln stundenlang immer wieder ihre Ansichten, indem sie die ständig haarscharf zergliedern; und der Gast, der sich zu Beginn am Thema des Gesprächs interessiert zeigt, sitzt nach kurzer Zeit verdutzt und stumm da in der Einsicht, dass die Anderen das eigentliche Thema längst vergessen haben.

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Andererseits wird sich der Gast durchaus auch über die unbekümmerte Vorurteilslosigkeit wundern, mit der die in nationalsozialistischer Weise aufgezogene Intelligenz Dinge und Begriffe behandelt, die, sagen wir mal, anderswo völlig für wissenschaftliche Tabus gehalten werden. Daher verzeiht man den Deutschen dann ihre vom Glaubensfanatismus diktierten unglaublichen Behauptungen. Mit der Neueinschätzung aller Werte haben sie gelernt, mutig und unkonventionell an die Dinge heranzugehen. Anschaulich war ein Gespräch zur Geschichte.

Wie sinnlos ist doch die Einteilung der Geschichte in alte, mittel­alterliche, neuere und neueste Zeit. Die Geburt Christi war keinesfalls eine Begebenheit, die die ganze Welt erschüttert hätte; die Ideen der französischen Revolution haben sich keineswegs überall durchgesetzt. Ebenso beschränkt und künstlich sind aus Sicht der historischen Entwicklung alle anderen Grenzsteine der verschiedenen „Epochen“. Die allgemeine Geschichte schreibt man neuerdings mit genauso kurzsichtigen Begründungen wie zum Beispiel die Theatergeschichte. Letztere wird gewöhnlich so begonnen: „Die Dramenkunst nahm ihren Anfang mit den griechischen Dionysos-Mysterien …“ Schauspielkunst existierte jedoch bereits unendlich lange vor der griechischen. Die allgemeine Historie müsste endlich als eine Phase ohne irgendwelche künstliche Einteilung in von bestimmten Völkern oder gewissen Denkweisen geprägte Epochen geschrieben werden.

Unsere Deutschen hatten natürlich schon einen Vorschlag für eine neue Gliederung der Historie bereit: auf der Grundlage von Rassen- und Landschaftszügen. In diesem Vorschlag schien wieder der „Nordische Gedanke“ hervor. Zugleich war leicht zu ahnen, dass der Impuls zu diesem Angriff auf die ganze konventionelle Geschichtsauffassung in der nordischen Rasse und deren gering geschätzten Stellung als kulturschöpferischer Faktor zu sehen war. Dieser Umstand mindert jedoch keineswegs die Bedeutung der Idee einer epochenlosen Geschichtsschreibung.

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Es ist nicht berechtigt, die Errungenschaften der nationalsozialistischen Literatur und Kultur noch weiter zu belächeln. Deren alle Kräfte wurden vorläufig ja noch für politische Absichten benötigt. Dass auf kulturellem Gebiet gleichwohl schon jetzt ungewöhnlich effektive Arbeit geleistet wird, ist klar. So paradox es klingen mag, der Nazismus ist keinesfalls nur Anbetung von Kraft und Soldatentum, der Lieblingstraum ist gerade die Schaffung einer neuen Kultur und kulturellen Bewusstseins. Die führenden Männer des Nationalsozialismus sind, durchaus erstaunlich, alle mehr oder weniger Künstler. Hitler versuchte sich als Maler, Rosenberg war Zeichenlehrer und Goebbels und Baldur von Schirach sollen in ihrer Jugendzeit angeblich recht gute Gedichte geschrieben haben; letztgenannter taucht sogar in nazistischen Literaturforschungen auf. Dieser Umstand ist wesentlich bedauerlicher als nur in der Literatur …

Eine ganz andere Sache ist dann, ob die nazistische „gleichlaufende“ Kultur Bleibendes schaffen kann. Die Spuren sind vorläufig beängstigend. Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus ist zum Beispiel der „Nordische Gedanke“ absolut unhaltbar. Von vielen Seiten her hat man außerdem als warnendes Beispiel auf Mussolinis Italien verwiesen, dessen geistige Armut bekannt ist.

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Der amüsanteste aller Besucher im Dichterhaus war der führende Lyriker des Dritten Reiches, Wolfram Brockmeier, der schon 1934 einer der Hausbewohner gewesen ist. Seine Stellung ist völlig unumstritten: „Brockmeier ist schon ein Begriff“, sagen die Deutschen. Er war zunächst als Lehrer tätig, studierte dann an der Universität Leipzig und bekam, nachdem er einen Dichterpreis der Stadt Leipzig gewonnen hatte, mehrfach Aufträge von der Reichsschrifttumskammer. Obwohl er gar nicht zur nationalsozialistischen Partei gehört, hat er seit 1935 begeistert in der Hitler-Jugend mitgearbeitet und schrieb unter anderem im erwähnten Jahr für die Parteitage in Nürnberg eine beim Aufmarsch der Hitler-Jugend aufgeführte Kantate. Wie Helke bekleidet auch Brockmeier heute eine hohe Vertrauensposition im Berliner Hauptquartier der Hitler-Jugend; sein sonderbarer nazistischer Beamtentitel ist Fachleiter der Lyriker! In der Hitler-Jugend wiederum ist seine Bezeichnung Gefolgschaftsführer. Außerdem veröffentlicht er die einflussreiche Die Literatur-Zeitung.

Seine größte Berühmtheit erlangte Brockmeier allerdings mit zahlreichen als Kantaten und Chortexte verfassten Poemen, die für Aufführungen im Rundfunk des Dritten Reiches bestimmt waren. Das Radio spielte für die politische Propaganda eine unwahrscheinlich große Rolle – und so entstand also diese neue literarische Form, deren bekanntester – und nebenbei bemerkt auch sehr gut honorierter – Vertreter Wolfram Brockmeier ist. Verwunderlich ist schon, dass sich diese umfangreiche Tätigkeit im Dienste der Zweckdichtung in keiner Weise hinderlich auf Brockmeiers lyrische Produktion ausgewirkt hat. Er hat drei Sammlungen veröffentlicht: den in panischer Verzückung schwelgenden Naturlyrik-Band Sturm und Beschwörung, Ewiges Deutschland, mit in glänzender Sprache formulierten Hymnen, in denen die deutschen Schlösser und Dome verherrlicht sind, worauf letztlich Brockmeiers Ruf beruht, sowie mit feiner Allegorik Einkehr und Wandlung.

Der berühmte Dichter erwies sich keineswegs als so festlicher Herr wie seine klingenden Titel es erahnen ließen. Er ist kantig und lebendig, manchmal naseweis wie ein Straßenjunge, dann wieder ein ausgefeilt spielerischer Charmeur, vielleicht bitter und schwermütig, spöttisch oder zynisch, aber immer der Favorit der Anwesenden. Brockmeier: das lebhafte, sensible und intelligente Tier des deutschen Waldes, eingesperrt in den eisernen Käfig der Großstadt, der preußischer Zucht unterworfene Wandervogel – als Dichter Vertrauter, als Mensch Negierer.


Wolfram Brockmeier

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Eine alte Weisheit ist, dass Glaubensfanatismus keinen Spaß verträgt. Junge Nazis, die unter normalen Umständen so fröhliche, unbefangene und große Humoristen sind, werden sofort toternst wie Straßenmönche, wenn sich die Rede nationalsozialistischen Glaubensformen zuwendet. Mir fiel gleich ein, wie oft die Welt die versteinerten Gesichter Hitlers und anderer Diktatoren auf offiziellen Fotos verspottet hat.

Denn über Politik darf nicht gelacht werden. Dann wird Scherz nämlich als Kritik gedeutet. Begreiflich, dass in so einer Atmosphäre keine Karikaturen entstehen. Das Niveau der einst so berühmten deutschen Witzblätter ist heute kläglich. Und die rechtgläubige Naziliteratur – Gedichte, Romane, Schauspiele und Philosophie – alle sind sie schwerfällig und nur mühsam lesbar.

Das Volk sollte lustig sein! Aber auch aus der Freude ist ein Zweck geworden. Freude gehört zur nazistischen Erziehung. Kraft durch Freude – aus Freude muss Kraft entstehen.

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Eines Abends waren wir zu einem festlichen Besuch bei dem beliebten Schriftsteller alter Schule Walter Bloem eingeladen. Er ist berühmt wegen der märchenhaften Auflagen seiner Bücher; von seinem schon vor dem Krieg erschienenen Roman Das eiserne Jahr, in dem er den deutsch-französischen Krieg beschreibt, wurden fast 300.000 Exemplare verkauft, und dieser Roman erfreut sich im Dritten Reich wieder größter Beliebtheit. Bloem ist also ein reicher Mann und hat vor ein paar Jahren in Travemünde eine prächtige, moderne Villa gebaut. Nach einem köstlichen Abendessen in der kunstvoll beleuchteten und verschwenderisch mit roten Dalien dekorierten Wohnung ging das Gespräch auf Shaw über. Ein Berliner Theater hatte gerade Pygmalion aufgeführt, und die Deutschen missbilligten scharf, dass im Dritten Reich ein Schriftsteller vorgestellt wurde, „der keine Sache richtig ernst nahm“.

Stunden vorher hatte Bloem ein langes Kapitel aus seinem genannten patriotischen Roman vorgelesen, bei dem die jungen Deutschen demonstrativ gähnten und Doktor Domes in tiefen Schlaf gefallen war.

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Der Mangel an Humor fiel im Dichterhaus besonders bei mehreren offiziellen Abendveranstaltungen auf, bei denen zahlreiche national­sozialistische Berühmtheiten und Führungspersönlichkeiten aus Lübeck, Hamburg und Berlin zugegen waren. Diesen Menschen fehlte die Luft zum Atmen; sie erstickten an ihrem offiziellen, übertriebenen Optimismus und Fanatismus. Vor allem die Frauen waren bedauernswert: abgenutzte Phrasengrammophone, die jedem Ausländer die von ihren Männern eingetrichterten Parolen über Trachtenkleidung, Kalevala12) und Skandinavien wiederholten, atemlos von der gemeinsamen mittelalterlichen Größe, und dann wie angespannt verfolgten, ob die erzeugte Wirkung wirklich erwünscht und zweckmäßig war.

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Travemünde ist der Kurort von Deutschlands zweitgrößter Stadt, Hamburg, mithin eines der schönsten Meeresbäder des Landes. Der allgemeine Eindruck wird freilich durch feste Bürgerlichkeit geprägt. Das einst bekannte Sodom der Juden, Kokotten und ihrer Zuhälter fiel der sittlichen Reinigungswut des Dritten Reiches zum Opfer. Die sonntäglichen Tanztees auf den mit orientalischen Teppichen ausgelegten Balkons und Terrassen lassen zwar an Eleganz der großen weiten Welt nichts zu wünschen übrig, aber ein eigentliches Nachtleben gibt es in Travemünde nicht. In den Bars, heute Treffpunkt am späten Abend, ist eine ganz symbolische Wandlung vollzogen: die blassen, lasterhaft schönen und müden Barmädchen sind verschwunden, und hinter dem Tresen sitzen überall Frauen mittleren Alters, richtig zuverlässige und stramme Tanten.

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Bei allen Festlichkeiten macht man die gleiche, fürs Dritte Reich typische Beobachtung: Die Herren sind elegante, sichere, selbstbewusste und gewandte Gesellschafter und Unterhalter, die Damen hingegen unbeholfen, hilflos, entweder zu gesprächig oder zu schweigsam und in der Gegenwart von Männern gleichsam für ihr Dasein um Entschuldigung bittend.

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Vermutlich zu Ehren der in Deutschland wieder erreichten militärischen Macht ist die Modefarbe der Herrenanzüge in diesem Sommer grün, im selben Ton wie die Armeeuniformen. Ich habe nie zuvor irgendeine Farbe in einer so verbreiteten allgemeinen Verwendung gesehen. Ebenso folgerichtig lanciert man grüne Krawatten, Taschen- und Halstücher. – Weniger angenehm war freilich die Feststellung, dass der früher unmögliche preußische Haarschnitt unter den Männern wieder auflebte. Das Haar wird an den Seiten und hinten so kurz geschnitten, wie es geht, und der so oben entstehende Haarschopf erhält einen akkuraten Scheitel.

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Das lebhafte Gesellschaftsleben und die großen Empfänge im Dichterhaus waren außerordentlich interessant für Erkenntnisse über die Welt der führenden Nazis. Von den anderen feinsinnigeren Gelegenheiten waren unsere gemeinsamen Besuche in den berühmten historischen Lübecker Restaurants die angenehmsten.

Die Stadt der sieben Türme hat zwei Restaurants, die zu den stilvollsten in Europa zählen. Die aus dem 15. Jahrhundert stammende Schiffergesellschaft ist bereits zur perfekten Touristenattraktion geworden. Das etwas abgelegene Schabbelhaus hat dagegen seinen vornehmen Charakter bewahrt. Das Flair des alten Lübecker Patrizierhauses ist so unberührt geblieben, dass man beim Durchschreiten des Haupteingangs, der Barock und Rokoko so wunderbar verschmelzen lässt, das Gefühl hat, man betritt eine vollkommen eingerichtete Privatwohnung, bei der man fast geneigt ist, für die verursachte Störung um Verzeihung zu bitten. In dem zweistöckigen, dunkel getäfelten Saal brennen den lieben langen Tag Kerzen auf hohen Sockeln. Im Hintergund führt eine mit repräsentativen Blumengirlanden umrankte Glastür in den Garten. Durch sie fällt leicht grünliches Tageslicht ein und konkurriert mit den Widerspiegelungen des gedämpften und stimmungsvollen Kerzenschimmers … Den berühmten Lübecker Rotwein in dieser Umgebung und bei diesem Lichtschein zu genießen, war das feinste lyrische Gedicht, das mir im Dritten Reich begegnet ist.

Zu Gast im Dritten Reich 1936. Rhapsodie

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