Читать книгу Zu Gast im Dritten Reich 1936. Rhapsodie - Olavi Paavolainen - Страница 8
Anssi Halmesvirta
ОглавлениеDer Machtanspruch des Dritten Reiches – mit finnischen Augen gesehen
Olavi Paavolainen wurde 1903 in Kivennapa, 60 Kilometer von Petersburg entfernt auf der heute russischen Karelischen Landenge geboren. Dorthin floh er stets in den Sommerferien aus dem zu lärmreichen Helsinki; er betrachtete sich übrigens sein Leben lang als Karelier. Die Familie zog in die Hauptstadt, als sein Vater Abgeordneter im Parlament wurde. Und hier begann Paavolainen 1921 an der Universität seine Studien der Ästhetik und Literatur. Er war anfangs sehr interessiert an Lyrik und bald titulierte man ihn als Dichter-Bohemien. Zusammen mit einigen anderen jungen Literaturfreunden gründete er 1924 (bis 1925) die Gruppe Tulenkantajat [Die Fackelträger], die sich einer vom Modernismus durchdrungenen Literaturkritik verschrieb.
Im Jahre 1927 reiste Paavolainen nach Paris. Danach enstand sein Werk Nykyaikaa etsimässä [Auf der Suche nach der Neuzeit, 1929] mit Analysen zur Urbanisierung und Rationalisierung, Beschreibungen neuer Kunstströmungen wie Dadaismus und Futurismus sowie Ansichten zu Jazz und russischer Revolutionsdichtung. Schon vorher hatte er zusammen mit Mika Waltari in der Bewunderung über die Technik der Gegenwart und atheistischen Ideen die Gedichtsammlung Valtatiet [Fernstraßen] herausgegeben. Beide Bücher erreichten nicht die Spitzen der Verkaufslisten, denn die wurden in Finnland damals von pathetischer, vaterländisch-nationaler Dichtung beherrscht. Der kulturpolitische Kampf zwischen extremer Linker und sich dem Faschismus annähernder Rechter führte mit schroffen Meinungsverschiedenheiten der Fackelträger zum Zerfall der Gruppe, ein Verlust, der Paavolainen höchst persönlich traf.
Anfang der 30er Jahre zog sich Paavolainen in die Stille Kareliens zurück und schrieb sein erstes eigentliches Durchbruchswerk, das Pamphlet Suursiivous eli kirjallisessa lastenkamarissa [Großreinigung oder in der literarischen Kinderstube, 1932]. Das Buch wurde eine Sensation. Einerseits polemisierte es die zeitgenössische Literatur mit Angriffen auf die „dekadenten“ jungen Schriftsteller: Abgesehen davon, dass die ihre Produktion kommerzialisierten, hatten sie sich auch selbst als ergiebiges Markenzeichen verkauft. Andererseits stellte das Werk, wenn auch in etwas lehrhaftem Ton, junge Autoren positiv vor, unter anderem Mika Waltari. Das Buch beweist auch, dass sich Paavolainen der Politik zuwandte. Aber es war schwierig für ihn, sich in der polarisierten politischen Kultur einer bestimmten Seite zu nähern. Er blieb Beobachter von außen, als scharf Stellung nehmender Reporter. Das Heimatland kam Paavolainen Anfang der 30er Jahre zu eng vor. Er interessierte sich deshalb mehr für neue europäische Ideen und Machtfaktoren, Deutschland und die Sowjetunion, deren Ideen einer völlig neuartigen, antibürgerlichen Gesellschaft ihn anzogen. Und da eröffnete sich ihm durch Vermittlung seines Verlags Gummerus die Gelegenheit, das Dritte Reich zu besuchen und kennenzulernen. Seine Schilderungen der Situation im Deutschland der 30er Jahre sind hochinteressant, weil sie einerseits von Bewunderung verklärt, andererseits aber mit tiefen Zweifeln behaftet sind.
Die Einnahmen aus dem Verkauf seines Buches erlaubten Paavolainen Reisen nach Südamerika 1937 und 1939 in die Sowjetunion. Von der Schönheit Moskaus war er begeistert, aber ein Reisebericht blieb ungeschrieben. Man darf annehmen, dass der Angriff der Russen auf Paavolainens Heimat Karelien im November 1939 die Verarbeitung seiner Notizen zu einem Buch verhinderte. Im Winter- wie auch im sogenannten Fortsetzungskrieg war Paavolainen mit Propaganda- und Aufklärungsaufgaben betraut und kümmerte sich nebenbei um karelische Kulturobjekte und Ikonen für die Sammlungen des Nationalmuseums. Auch sammelte er sein Kriegstagebuchmaterial und stellt es zu der Veröffentlichung Synkkä yksinpuhelu [Finsteres Selbstgespräch, 1946] zusammen. In diesem Buch vermittelt er den Eindruck, dass er sich vom Nazi-Deutschland und dessen „nordischen Gedanken“ (im vorliegenden Werk noch zeitweise bewundert) weit entfernt hat. Auch den Groß-Finnland-Gedanken lehnt er ab, und es ekelt ihn sogar an, mit welcher Begeisterung sich die finnische Geistlichkeit am neuen Kreuzzug nach dem Barbarossaplan beteiligen möchte. Das neue aufsehenerregende Werk mit über tausend Seiten in zwei Bänden wird von den Zeitgenossen sowohl positiv als auch negativ aufgenommen. Die Vaterländischen verurteilen es als unpatriotisch und antinational, die Linken und die Liberalen ihrerseits verteidigen es wegen seiner schroffen Ehrlichkeit und Offenheit. Die Gegner verdächtigten ihn sogar der Bisexualität – die Kriegsinterpretation eines Dandys war nur schwer zu schlucken – fanden dafür aber weder Beweise noch Anhang.
Der Verlust von Heim und Heimatgegend an die Sowjetunion war für Paavolainen ein schwerer Schock, den er eigentlich nie verwunden hat. Das gleiche gilt für den Niedergang der großen europäischen Ideen. Im Nachkriegs-Finnland fand er sich zunächst kaum zurecht, mithilfe der Direktorin des Finnischen Rundfunks, Hella Wuolijoki, bekam er jedoch 1947 den Posten des Chefredakteurs der Radiozeitung, später wurde er Leiter der Theaterabteilung des Rundfunks; diese Stellung bekleidete er bis zu seinem Tode. Er starb am 19.7.1964 an einer durch Alkoholismus verursachten Leberzirrhose.
Paavolainens Persönlichkeit könnte als chameläontisch charakterisiert werden. Weil er sich veränderte, war er kaum in den Griff zu kriegen, von den Einen geliebt, von Anderen belächelt. In den 30er Jahren trat er als Kulturkorrespondent auf, der mit impressionistischem Scharfsinn über Ereignisse von seinen Auslandsreisen berichtete, als intellektueller Zeuge bei wichtigen Großveranstaltungen. Er sah seine Zeit vielleicht passionierter als irgendein anderer Finne, wie sein Biograph Riikonen festhält: Er prüfte alles, was sich in der Zeit bewegte und ereignete, derartig intensiv, dass er an Schlaflosigkeit litt. Zugleich brachte er seine Landsleute dazu, die Ereignisse und ideologischen Gegensätze in der Welt kritischer zu sehen. Eine seltene, beinahe einzigartige Erscheinung war Paavolainen in seiner Eleganz, gepflegt und mit stilvoller Kleidung, womit er auch andere zu hohem Niveau im Aussehen animierte. Er hegte und pflegte seine Fassade und äußerte sich satirisch zu Stillosigkeit und Geschmacklosigkeiten. Als Ästhet erinnerte er an eines seiner Vorbilder, Oscar Wilde.
*
Das gewaltigste politische Kulturspektakel waren im vergangenen Jahrhundert die Nationalsozialistischen Parteitage Hitler-Deutschlands vom 8.-14. September 1936 in Nürnberg. In diesem Jahr hatte Adolf Hitler – bereits unumstrittener Führer – drei entscheidende Schritte unternommen, Deutschlands Ehre wiederherzustellen: Er kündigte einseitig den Vertrag von Locarno auf, dessen Sinn es war, einem Krieg zwischen Frankreich und Deutschland vorzubeugen; er besetzte das westliche Rheinland, das Saarland hatte sich schon durch Befragung selbst angeschlossen; und er rüstete die Wehrmacht zu einer mächtigen Armee auf. Auf den Parteitagen waren auch finnische Beobachter anwesend, unter anderem der radikale Schriftsteller und führende Modernismuskritiker Paavolainen. Er war auf Einladung der Reichsschrifttumskammer in die Autorenresidenz, das Travemünder Dichterhaus gekommen, um die deutsche Literatur und das totalitäre Kulturleben Deutschlands kennenzulernen. Er traf freilich dort ebenso wenig bedeutende Schriftsteller wie in Nürnberg, Gustav Frenssen13) vielleicht ausgenommen.
Der Höhepunkt seiner Deutschlandreise war für Paavolainen eben Nürnberg. Als er darüber schrieb, war er am „begeistertsten“, wie H.K. Riikonen in dessen Biographie Nukuin vasta aamuyöstä. Olavi Paavolainen 1903-1964 [Ich schlief erst im Morgengrauen ein, 2014] bemerkt. Nach seiner Rückkehr und siebenwöchiger Schreibarbeit warf er seine Reportage Kolmannen valtakunnan vieraana [Zu Gast im Dritten Reich] 1936 auf den weihnachtlichen Buchmarkt und bezeichnete diese selbst als Rhapsodie, denn es handelte sich ja nicht um eine wissenschaftliche Untersuchung zum Nationalsozialismus, sondern prinzipiell namentlich um eine subjektive, erlebnishafte Schilderung mit Quellenmaterial aus örtlichen Veröffentlichungen, Zeitungen und Reden. Das Buch wurde in Finnland sofort zu einem unmittelbaren und umstrittenen Bestseller, Ereignis des Jahres. Es wurde auch schnell ins Schwedische übersetzt [Som gäst i tredje riket, 1937]. Es unterschied sich von anderen Darstellungen zum Nationalsozialismus darin, dass es nicht sonderlich deutschfreundlich, aber auch keineswegs deutschfeindlich war, sondern dem finnischen Leser das nationalsozialistische Welterlebnis vermitteln wollte. Da das Werk allerdings zahlreiche satirische Textteile enthielt und eindringlich das Gesehene und Erlebte beschrieb, was natürlich auch irgendwie Deutschland erreichte, war Paavolainen das Deutsche Reich fortan verschlossen. Der Inhalt veranlasste aber auch finnische Rechtsgelehrte dazu, die Willkür der Nazis und ihre Abkehr vom Rechtsstaat öffentlich zu kritisieren (vgl. Historian diktaattorityyppejä. Historian Aitta VII, 1937 [Historische Diktatortypen. Historischer Speicher VII, 1937]).
Paavolainens Buch ist weiter für die europäische Reiseliteratur ein wirklich seltenes Zeugnis eines Augenzeugen der Machtbestrebungen Nazi-Deutschlands. Sensationell modern war dabei der kommunikative Visualismus und die sogenannte „Politik des Auges“: Unter Tausenden anderer geladener, ausländischer Gäste sah, beobachtete und übermittelte Paavolainen seine Eindrücke und Erlebnisse kritisch, indem er die Züge des verweltlichten Glaubens und den ästhetischen, die Augen erfreuenden und erstaunlichen Show-Charakter des Spektakels scharf abzeichnete. Ein neues, modernes Sparta war geboren. Paavolainens zentrale Idee war: Es reicht nicht, Hitler und andere Naziführer reden zu hören, man muss sie auch sehen und über das Gesehene ist mit visuell-kritischem Zugriff und in gefühlvoller Sprache zu berichten.
Das Werk ist noch heute ein kontroverser Klassiker, es gab ja zahlreiche Neuauflagen (übernommen vom Verlag Otava, Helsinki) und es wird weiterhin als bedeutendes Objekt und Quelle literarischer Forschungen gelesen und genutzt. Ins Deutsche übersetzt liefert es dem Leser eine ungewöhnliche Interpretation des unheilverkündenden Spektakels in der widersprüchlichen Historie Deutschlands oder mit den Worten Paavolainens „des vielleicht größten Wendepunktes in der Geschichte Europas“. Der Streit um sein Verhältnis zu den Nazis hält bis in unsere Tage an.
Einen Vorgeschmack von Nürnberg hatte Paavolainen genossen, als er Leni Riefenstahls Film Triumph des Willens – in vielen Ländern von der Zensur verboten – 1934 in Helsinki gesehen hatte. Der Streifen schockierte ihn. Schon die Eingangsszenen mit Hitlers Fliegerankunft wie „ein Gott vom Olymp auf einem Adler reitend“ im Morgennebel auf dem Flugplatz Nürnberg waren beeindruckend. Mit diesen Bildern im Gedächtnis begann Paavolainen zu beschreiben, was er bei dem Spektakel 1936 sah. Der verblüffte Zuschauer vermochte das in keiner Weise gelehrt erläutern; auch die Methoden der Ideengeschichte, Theorien politischer Untersuchung oder des dialektischen Materialismus, Analysen der Sozialpsychologie oder Parteipolitik konnten da nicht helfen, denn das Schauspiel war in sich selbst unlogisch und irrational in all seinem Pseudoglauben und der Heidenhaftigkeit. In einer Zeit, wo das Bild bereits das Buch ersetzte – erinnern wir uns an das Autodafé des Jahres 1933 –, gab es Bilder und Imagos mit wechselnden, oberflächlichen, zeitweise megalomanischen Ansichten, große Äußerlichkeiten schufen Bedeutungen. Das war Kommunizieren von Illusionen. Falls jemand glaubte, die Kamera könne nicht lügen, schufen die Nazis mit ihrem Kultspektakel doch Illusionen wie die deutschen Zeitungen und Zeitschriften mit ihren Nachrichtenfotos von deren Revolution. Diese merkwürdigen, Illusionen hervorzaubernden Bilder ließen sich mit einem Blick ohne intellektuelle Anstrengung begreifen, und sie reizten die Sinne empfindlicher als tausend Worte. Die Nürnberger Parteitage waren die Klimax solcher bildlicher Darstellung – entworfen und realisiert in ungeheurem Maßstab.
Wie Paavolainen zu Beginn seiner Schilderungen feststellt, steht im Mittelpunkt der visuellen Kommunikation primär der von Erotik befreite Körper des Mannes. Er bemerkt zwar, dass Hitlers Erscheinung und Habitus als solche Frauen wohl kaum anziehen könnten, also gibt er diesen auch keinen sexuellen Anstrich, was er sonst im Allgemeinen eigentlich tat. Hitlers Statur war auch keineswegs das wichtige Objekt der Scheinwerfer, denn es vermittelte alles andere als ein erotisch-sexuelles Gehabe, eher die personifizierte Erscheinung des asketischen Führers. Der Idealfall des Parteikongresses dagegen war der junge Mann, nach der Ariertheorie der Zeit von nordischer Rasse, reiner dargestellt und klassifiziert sowie in der Rassenhierarchie höher angesiedelt als irgendeine andere Rasse einschließlich der finnisch-ostbaltischen. Paavolainen hatte schon in seinem Frühwerk Auf der Suche nach der Neuzeit bewundernd festgehalten, wie der Wiederaufbau Deutschlands nach dem I. Weltkrieg auch die „rassische“ Körperkultur der Jugend beeinflusste. Jetzt fand sie ihre Inkarnation im gesunden und lebenskräftigen Soldaten wie im halbnackten Körper der Arbeitsdienstler. Und auch bei der Hitlerjugend fand Paavolainen trotz derer kaum intelligenzorientierter Ideologie doch ästhetische Reize, weil ihr Menschenideal mit Vitalität, Kraft und Rassenreinheit stark von den altmodisch-nationalen, klassischen und auch sozialistischen Idealen Finnlands abwich.
Die Nazis befreiten die männliche Figur von aller bürgerlichen Individualität und machten sie als modernes, heidnisches Idol zum Objekt ihres öffentlichen Kultes. Damit waren nicht nur Hoffnung, Versuch und Zukunftsglaube verbunden, dem strammen Jugendlichen waren auch Rechte und Aufgaben zuteil geworden, von denen er früher nur träumen konnte. Sie waren kollektiv Besitz des Staates mit der Verpflichtung zu Arbeit und Kriegsteilnahme; sie sollten Helden werden – auch in diesem Fall Kultopfer im klassischen Sinne – aber rein bleiben, nichts in Frage stellen. Und sie alle marschierten als Masse von einer halben Million zur Inspektion auf dem Zeppelinfeld auf und waren damit etwa genau so viele wie die Zuschauer. Das war die bisher größte politische Show der Geschichte. Paavolainen bemängelt allerdings im gleichen Zusammenhang, dass der deutschen Frau in dieser niederträchtigen mannsbezogenen Rassenlehre zunächst nicht die geringste Bedeutung beigemessen wurde.
Während der Reise zum Schauplatz konnte Paavolainen lesen, wohin der Weg führen würde: Ein Reich – ein Volk – ein Führer. Im Zug hörte er SA-Männer singen: […] und morgen die ganze Welt. Bei der Ankunft herrschte Führer-Wetter, wunderbarer Sonnenschein, als ob der Himmel das kommende Spektakel segnete. Die Verhältnisse, der organisierten und disziplinierten Masse Mensch ein kollektives Wort zu kommunizieren, waren vollkommen.
Als Ehrengast hatte Paavolainen die Möglichkeit, Alfred Rosenbergs Eröffnungsrede beizuwohnen, die er nicht für sonderlich interessant hielt. Bei der gleichen Veranstaltung konnte er auch Hitler hören und vor allem sehen, was er besonders wichtig fand. Dessen Charakterisierung fiel wesentlich positiver aus wegen der genialen Prophetie und gewaltigen Willenskraft, die übrigens das „komische Aussehen“ überdecken. Hitlers Redestil bezeichnet er als phänomenal, verzichtet aber darauf, die Inhalte zu polemisieren. Er verweist lediglich auf die Schwächen, unter anderem die „absolute Unwissenheit hinsichtlich schöpferischer Arbeit von Künstlern“. Außerdem lief bei Hitlers Auftreten stets alles auf den gleichen Schluss hinaus: Der Konflikt zwischen Nationalsozialismus und Bolschevismus sei „der größte Glaubenskrieg der Geschichte“. Paavolainens Voraussage von der „großen Wende in der europäischen Historie“ sollte sich bestätigen.
In seinen Beschreibungen geht Paavolainen von den Personen über zur Luitpold-Halle, dem Hauptgebäude der Parteitage, errichtet für „den Gott unserer Tage“ – Verkörperung eines modernen Messianismus –, in dem sich Spannung und ekstatische Züge der Veranstaltung vereinten. „Tragische Schönheit“ und Erhöhung zum Tode Geweihter – SA- und SS-Leute überall – berichten davon, wie die Nazis sie unter der Hakenkreuzfahne zu einem ungewissen Kreuzzug in Unkenntnis, ob dieser gelingen wird oder mit einer Niederlage endet, aussenden. Das war der zentrale Punkt des Spektakels: Erwartungen wecken und Glauben an eine große Zukunft schüren, nicht Errungenschaften oder Erfüllung versprechen. Die Bedeutung des Kultes lag gerade in Voraussagen und dem Aufbruch zur „endgültigen Entscheidung“. Dieser war ja schon lange erwartet und vorbereitet. Für Paavolainen war die Schaffung dieser Illusion ein Paradox – man mag es glauben oder nicht – aber es schien in keinem der anderen Anwesenden Zweifel aufkommen zu lassen.
Sein Leben lang erinnerte sich Paavolainen an das Präludium zu der Rede von Joseph Goebbels in der Luitpold-Halle. Zu Militärmusik wurden Hunderte von SA-Fahnen in die Halle getragen und hinter dem Rednerpult postiert. Vor der Ansprache spielte man eine Komposition von C.M. Weber. Paavolainen saß stumm den Führern des Dritten Reiches gegenüber. In ihrer Mitte verkündete Goebbels: „Hitler ist der beste Europäer.“ Als große Diva liebte er es, im Rampenlicht zu stehen und bei wichtigen Stellen erhob er die Hände, wenn die Gunstbezeugungen des Publikums nicht spontan genug waren. Diese Geste verdeutlichte Paavolainen, wie konkret die Nazis die Macht nun in ihren Händen hielten.
Unbedingter Höhepunkt war für Paavolainen die nächtliche Schau der politischen Führer auf dem Zeppelinfeld. Hier wurde der letzte Akt der „Politik des Auges“ inszeniert, hier lag in aller Größe der Kultplatz der neuerdings auferstandenen deutschen Urgemeinschaft. Paavolainen musste zugeben, dass Worte eigentlich nicht ausreichten, das zu beschreiben. Er versucht trotzdem zu erzählen, was er sah: Die Nürnberger Abendbeleuchtung und die Atmosphäre in der Stadt waren schon vorausdeutend: alle Laternen und Lampen gedämpft und die Straßen zum Festplatz von schwarz uniformierten SS-Männern wie zu einer Trauerfeier gesäumt, womit man außerdem auf den Ernst und die Heiligkeit der Veranstaltung hinwies. Auf dem Weg flatterten große, schwarze Fahnen und das Rednerpodest war mit rotem Hakenkreuzstoff verkleidet. Die Anzahl der strammen, salutierenden Männer überstieg wohl das Fünffache der finnischen Armee. Es folgte ein magisches Schauspiel, eine technische Spitzenleistung: Unsichtbare Scheinwerfer wurden hinter den Balkonen der Gäste eingeschaltet und eine rote Lichtpyramide erhellte den schwarzen Abendhimmel. Auf der etwa 250 Meter entfernten Rednertribüne erschien plötzlich wie ein Blitz vom Himmel Adolf Hitler. Er wurde mit Begeisterung begrüßt und bald war das ganze Feld von 155 großen Lichtquellen der Wehrmacht umzäunt, die einen riesigen, blauen Tempel an den Himmel zauberten. Die Lichtstrahlen reichten bis in die Stratosphäre, für Paavolainen kommunizierten sie etwas Unvergleichliches, Jenseitiges. Die Kuppel des Riesentempels war 250 Kilometer weiter sogar in der Tschechoslowakei zu sehen. Im Begeisterungsrausch der Zuschauer äußerte sich ekstatische Freude; damit war die Mitteilung angekommen: Die „primitiven“ Ritualinstinkte durch den gewaltigen visuellen Reiz schienen erwacht. Als Hitler das Ehrenpodest betrat, strömten 25.000 SS-Männer mit ihren Fahnen durch die Reihen der Soldaten – eine phantastische Ehrenbezeugung für das Idol, in Paavolainens Sinnen ein barbarischer Traum, ein heidnischer Albtraum. Dr. Robert Ley, Regisseur des Spektakels, verkündete: „Du – Hitler – Hitler – Hitler – wir grüßen dich und glauben an Gott, der dich uns geschickt hat.“ Worauf dieser messianisch antwortete: „Ich bin mit euch und ihr seid mit mir. Ihr könnt mich nicht alle sehen, aber ich sehe euch und ihr erkennt mich! Jetzt sind wir eins!“ Die Spannung war ins Unermessliche gestiegen, was Paavolainen verängstigte. Deshalb verließ er durch das Gedränge das Feld.
Rückblickend erinnerte sich Paavolainen des tragischen Schicksals Spartas. Er ahnte, dass der nazistische Maskulinenkult verheerende Folgen haben würde. Ihr Spott und Hass richtete sich auf Juden, Kommunisten und korpulente Bierphilister, denen nach dieser Zeremonie und den kriegerischen Reden nichts Gutes bevorstand. Paavolainen sagt dies nicht direkt, aber zwischen seinen Zeilen lässt sich ablesen, dass die Juden dem Untergang geweiht waren. Dies bewies auch die eindeutige Erwartung der SA- und SS-Männer eines Befehls zum Handeln. Dies und der ekstatische Beifallssturm der Zuschauer wiederum weckte bei einem großen Teil der Gäste sowohl Furcht als auch Bewunderung. Das Spektakel der Nationalsozialisten zeigte, dass es ihnen ernst war, die jubelnde Begeisterung der Massen, dass diese Schlacht gewonnen war: Der Führer hatte sie eingefangen, sie waren ihm hörig und würden tun, was er wünschte – nein, was er verlangte und befahl! Und das war Paavolainen zu viel. Drei Jahre später klopfte der Krieg an seine Haustür.
Paavolainens Erfahrungen waren zwiespältig: anfängliche Begeisterung wandelte sich zu exakten kritischen Beobachtungen, die die verdeckten Gefahren der nazistischen Macht betrafen. Des Weiteren machen die in seiner Rhapsodie zahlreich verwendeten Ausrufe- und Fragezeichen sowie kursiv und sogar gesperrt gesetzten Textteile seine kritische Haltung deutlich. Er ahnte Manches, konnte aber wohl die Konsequenzen nicht ganz klar absehen.
Im Übrigen: Der alliierte Kontrollrat erließ 1945 neue Gesetze, unter anderem das Kriegsverbrechergesetz. Dann fand 1946 der große Prozess gegen die großen und kleinen Schuldigen am II. Weltkrieg nicht in Berlin oder München, sondern auch in Nürnberg statt!