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Das verwunschene Schloss

Salziger und frischer Meereswind pfeift uns von der sonnenüberfluteten Lübecker Bucht um die Ohren, als wir mit Stolpes kleinem Sportwagen über die Asphaltpromenade jagen. Hinter uns liegt bereits die in Thomas Manns Buddenbrooks gepriesene, aus dem Meer aufsteigende Brodtener Steilwand, gekrönt mit dem alten „Seetempel“, mit Fluren und Buchenwäldern bedeckt. Der Weg fällt zum Meer hinab und jetzt rasen wir durch Niendorf, Timmendorf und viele andere kleine Strandbäder. Vom Meer trennt uns nur der von gebräunten Jugendlichen bevölkerte Sandstrand, mit deren Zelten und Fähnchen. Das Wasser in Strandnähe ist von so leuchtendem Grün, dass man fast glauben könnte an der Riviera zu sein.

Plötzlich dreht die Straße schroff ins Binnenland ab und steigt wieder an. Die Gegend geht in Wald über und kleine Seen mit hübschem graugrünem Wasser schimmern im Tal. Wir haben die „Holsteiner Schweiz“ erreicht, auf deren Wälder und zig Seen die Norddeutschen mit Recht stolz sind. Die Stimmung an den Ufern der mit festlichen Buchenwäldern umgebenen schläfrigen Seen ist eigentümlich romantisch. Sie ist am träumerischsten in den frühen Morgenstunden, wenn dichter Nebel von den Gewässern aufsteigt, ebenso in der Abenddämmerung, aber vor allem bei Mondschein.

Unser Ziel ist die kleine Stadt Eutin, wo die gerade gegründete Dichtervereinigung Eutiner Kreis zu Ehren der ersten Zusammenkunft ein dreitägiges Fest organisiert hat.

Das Dichterhaus hat schon seit langem eine Beziehung zur „Rosenstadt“ Eutin. Schon am ersten Tag unseres Aufenthalts hatten wir einen Ausflug dahin unternommen und waren damals ebenso eingenommen von der Stadt selbst wie von ihrem jungenhaftesten und jugendlichsten Bürgermeister der Welt, Doktor Hans Ullrich Ricklefs. Die Eutiner Stadt spielt tatsächlich ihre eigene Melodie. Diese zu begreifen fällt uns eigentlich viel leichter als in Lübeck, dem jetzigen Lübeck, das viel zu sehr vom „nordischen Gedanken“ geprägt ist. In Eutin brauchen wir unsere Gehirne und unsere Geduld jedoch nicht mit nazistischer Quasimystik zu belasten, vielmehr scheinen wir auf dem bekannten und festen Grund und Boden deutscher Literatur- und Kulturgeschichte zu wandeln.

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Die Eutiner reden voller Stolz und mit vollem Recht von ihrer „klassischen Zeit“. Der Dichterfürst Peter Friedrich Ludwig sammelte in den letzten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts einen großen Kreis Gebildeter und Künstler um sich, und damals kannte man Eutin in Deutschland als „kleines Weimar“. Der bekannteste dieser Männer war der Rektor der Eutiner Lateinschule, der Dichter Johann Heinrich Voss. Voss wohnte in einem Stadthaus ganz in der Nähe des Schlosses, dessen Garten bis zum Ufer des Eutiner Sees reicht. Hier übersetzte der „deutsche Grieche“ Homers Ilias und schuf das in Hexametern verfasste Poem Louise. Voss war Dichter und ein Freund von Graf Leopold von Stolberg, der wiederum in lebendigem Kontakt stand zu Goethe, Klopstock und Lavater. Auch Schiller hielt sich eine Zeit lang in Eutin auf. Später, im Jahre 1808, zog der Kunstmaler Johann Heinrich Wilhelm Tischbein nach Eutin, dessen berühmtestes Gemälde den in den antiken Ruinen Italiens träumerisch ruhenden Goethe zeigt. Noch heute befinden sich zahlreiche Bilder Tischbeins in Eutin, vor allem im Schloss. Der Philosoph Friedrich Adolf von Trendelenburg und der Astronom Johann Friedrich Schmidt sind beide in Eutin geboren. Und 1786 wurde in der Stadt ein Mann geboren, dessen Name neben Voss Eutin mit größtem Stolz erwähnt: Carl Maria von Weber, Schöpfer der deutschen Oper und größter Komponist der deutschen Romantik.

Für den Meister der Opern Freischütz, Preciosa und Oberon, nach den Worten Wagners dem deutschesten aller Komponisten, bereitete das kleine Eutin Feiern zum 150-jährigen Jubiläum vor, natürlich mit allem erforderlichen Glanz, und diesen Festlichkeiten schloss sich auch der Eutiner Kreis an. Für diesen nämlich galt die deutsche Romantik als Vorbild, sodass sich auch die Autoren auf Grund von „Landschaftskreisen“ formierten. Eine ganz besonders stilvolle und feine altertümliche Färbung verlieh dem Dichterfest die Tatsache, dass die derzeitige Schlossherrin Erbgroßherzogin Mathilde von Oldenburg den großen Saal des Schlosses für die Festlichkeit zur Verfügung stellte.

Wir wären aber beileibe nicht im Dritten Reich, wenn sich nicht auch in diese Festlichkeiten der „Nordische Gedanke“ einmischte. Den Eutiner Kreis bilden die Schriftsteller aus Schleswig-Holstein und Oldenburg unter dem gemeinsamen Namen Nordmark, und von Schleswig-Holstein aus führt über Dänemark der natürliche Weg in den Norden. Der Dichterhaus-Besuch wurde daher als besonders wichtig notiert. Hans Friedrich Blunck stellte fest: „Erst jetzt ist unser Kreis vollständig, das die Skandinavier unter uns sind. Vielleicht können wir uns erneut (?) einen Dichterkreis vorstellen, der die ganze Ostsee umrundet. Jetzt gibt es keine geistigen Vereinigungen. Da ist nur die Verbindung der Landschaften rund um die Ostsee.“

Das untrüglichste Zeichen für unseren Aufenthalt im Dritten Reich war jedoch die Tatsache, dass als Schirmherr der Dichtergruppe SA-Gruppenführer Regierungspräsident Böhmcker gewählt war. Eine ebenso merkwürdige und typische Erscheinung war, dass das Spalier zum literarischen Fest von den jungen Männern der Plöner Nationalpolitischen Führerschule gebildet wurde! Bei diesen Feierlichkeiten brauchte man also nicht die Demonstrationen radikaler Intellektueller zu befürchten … Eutin war auch stolz auf seine nationalsozialistische „Vergangenheit“. Es gehörte nämlich zu Hitlers ersten Eroberungen in Norddeutschland. Es ist demzufolge gar nicht verwunderlich, dass am Tor des Pferdestalls der Reitergesellschaft, der sich im Hofbereich des Schlosses befindet, das Plakat hängt: „Hier ist der Gruß: Heil Hitler!“ Und im wunderschönen Restaurant des Voss-Hauses im Geburtshaus des „deutschen Griechen“ hatte der für Autographen begeisterte Kellner nichts anderes zu tun, als uns das Gästebuch zu zeigen, in dem sich als größtes Heiligendenkmal ein ziemlich kleines und schiefes, für Graphologen interessantes Forschungsobjekt fand, das Autogramm „Adolf Hitler 3. 5. 32“.

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Beim Fest des Eutiner Kreises verstand ich zum ersten Mal deutlich, was für eine deutsche Kultur das Dritte Reich schaffen will. Der größte Teil der Schriftsteller war schon über das mittlere Alter hi­naus. Sie gehörten zu den Autoren, die von der früher gebildeten und international ausgerichteten Literaturkritik abgelehnt und entweder völlig oberflächlich behandelt oder vollkommen unbeachtet gelassen wurden. Ein anderer Teil waren solche, deren Ideale die Moderichtung der Nachkriegszeit als veraltet abgetan hatte und die dann hochmütig verlacht wurden. Aber es waren auch Autoren darunter, deren Werke gerade erst direkt auf nationalsozialistischem Boden gewachsen waren.

Zum Eutiner Kreis gehören auch einige weltberühmte Schriftsteller. Hier wäre zuerst vor allem das älteste Mitglied der Gruppe, Gustav Frenssen13) zu nennen, dessen gewaltige Romane seinerzeit ungewöhnlichen Erfolg hatten; auch in Finnland wurde Jörn Uhl und Hilligenleit gelesen. Ein Zweiter ist der Verfasser kraftvoller, den Weltkrieg schildernder Romane Edwin Erich Dwinger14). – Die eigenen Größen des Dritten Reiches sind ungewöhnlich prächtig vertreten. Besonderen Glanz verleiht der Gruppe Hans Friedrich Blunck, ehemaliger Präsident der Reichsschrifttumskammer, Senator der Deutschen Akademie für Dichtung und Inhaber der achtbaren Wartburgerrose von dem wiederbelebten mittelalterlichen Dichterwettstreit auf der Wartburg. Eine ebenso große Berühmtheit und Mitglied der Akademie wie Blunck und Frenssen ist der Dichter Hermann Claudius. Die im Ausland vorherrschende Auffassung, die geheimnisvolle klerikale Gestalt der neueren deutschen Dichtung, zugleich strenger Diener der Schönheit, sei der vor einigen Jahren verstorbene, berühmte Stefan George, der poetische Abgott im Dritten Reich, ist nach Ansicht der neuen, jungen Nazigeneration veraltet. Seine Position nimmt nun Claudius ein, dessen patriotische Gedichte voller Kraft und warmherzigem Gefühl schon fast zu Volksliedern geworden sind. Von seinen Gedichten ist vor Kurzem eine Auswahl mit dem bezeichnenden Titel Unsere lieben Claudius-Lieder herausgekommen. Auch Helene Voigt-Diederichs15), vormals Ehefrau des Jenaer Großverlegers Eugen Diederichs, hat im Dritten Reich einen guten Ruf, vor allem durch die Schilderung des deutschen Muttertyps. Georg von der Wring wiederum ist ein bekannter Lyriker, dessen Gedichte direkt zu den alten klassischen Romantikern führen. – Jüngere bekannte Namen gibt es im Eutiner Kreis zahlreich: August Hinrichs schreibt Komödien, Albert Mähl und Heinrich Eckmann haben den Holsteinischen Literaturpreis erhalten und der Literaturhistoriker Christian Jenssen hat nach Meinung vieler die beste Literaturgeschichte des Dritten Reiches geschrieben. Insgesamt hat die Gruppe 19 Mitglieder.


Helene Voigt-Diederichs und Gustav Frenssen


Gustav Frenssen, August Hinrichs, unbekannt, Heinrich Eckmann, unbekannt, Hermann Claudius

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Ich habe viele Schlösser in vielen verschiedenen Ländern besucht. Aber ein stilvolleres, „verwunscheneres Schloss“ als das Eutiner Schloss habe ich nirgendwo angetroffen. In seiner Architektur hat es nichts Besonderes, weshalb Fotos keinen rechten Begriff von seiner einmaligen Atmosphäre vermitteln können. Dieses aus einfachen, roten Ziegeln errichtete Schloss macht architektonisch eigentlich einen hilflosen und plumpen Eindruck. Deshalb wirkt es wohl auch als typisches verarmtes Schloss der Sagen … Es ist geradezu wie ausgestorben; Stille und Leblosigkeit umrankt es wie ein Gewölbe. Das Fehlen jeglichen fürstlichen Glanzes und regen Lebens bestärkt noch die geheimnisvolle Bescheidenheit. Ein stiller Wallgraben umgibt die roten Ziegelmauern, von deren leblos wirkenden Fensterläden die Farbe abgeplatzt ist. Auf dem schwarzen Wasserspiegel des Wallgrabens treiben langsam grünliche Wasseralgen dahin und hinter einer Biegung schwebt ein einsamer weißer Schwan heran. Das Wasser scheint tief zu sein und ist schwarz wie eine Gruft; von den die Wände hochkletternden, durch ihr Alter gelichteten Efeuranken fällt hin und wieder ein vertrocknetes Blatt ab und bildet schnell verschwindende Ringe in dem toten Wasser …

Der Schlosspark, Ende des 18. Jahrhunderts in englischem Stil angelegt, ist bekannt für seine Schönheit. Die berühmteste Sehenswürdigkeit ist eine mächtige und kerzengerade Lindenallee, die längste in Europa. Auf riesigen grauen Stämmen schwanken in schwindelnder Höhe mächtige grüne Baumkronen und bilden gleichsam eine Kathedrale, deren Tor am ruhig blaugrün schimmernden, offenen Eutiner See endet, wo der Hauptaltar steht, die in weißen Marmor gehauene Statue der Hebe.

Im Inneren des Schlosses herrscht die gleiche verwunschene und unbewohnte Stimmung. In allen Räumen steht der eigentümliche Duft alter Schlösser. Der größte Teil ist heute ein Museum; die interessantesten Gegenstände tragen ein Schildchen: Eingetragen im Verzeichnis der national wertvollen Kunstwerke. Berühmt ist die Portraitsammlung im großen Saal. Der künstlerische Wert ist ziemlich bunt, aber folgender Umstand macht das bedeutend: Die herzogliche Oldenburger Sippe ist durch ihre Eheschließungen mit fast allen herrschenden Geschlechtern Nord-Europas bekannt, und deshalb finden wir hier eine unglaublich reiche Sammlung von Portraits, besonders aus den Herrscherhäusern Schwedens und Russlands. In einem Nebenraum befindet sich eine seltene Bilderserie: alle russischen Herrscher und ihre Frauen aus über einhundert Jahren. – Eutin: von Märchen verzaubert, von glänzenden Partien lebend … Eines Tages wird ein prächtiger Prinz erscheinen, der zu seiner Verwunderung im Schloss eine in Einsamkeit verkümmerte Prinzessin findet und sie in sein weit entferntes, großes und mächtiges Reich entführt!

In dieser Umgebung wird das „literarische Morgenfest“ des Eutiner Kreises zelebriert. Es scheint, als ob man in der Zeit weit zurückgefallen sei, in eine Epoche, da es der Stolz kleiner Fürstentümer war, als Mäzen von Künstlern, Dichtern und Philosophen aufzutreten und als überall „kleine Weimars“ entstanden. Von einem eleganten Trio dargebrachte Kammermusik – natürlich auch Weber – ertönte in dem von Portraits gefüllten Saal. In der ersten Stuhlreihe entdecke ich die extrem vergeistigten und feinen Gesichtszüge der Helene Voigt-Diederichs, Hermann Claudius’ scharfes, an einen alten Holzschnitt erinnerndes Profil, den gewaltigen Wissenschaftlerschädel vom Professor für germanisches Altertum der Kölner Universität, Scheele, das kleine und erregte, von weißem Haar und Bart umgebene Gesicht des Gustav Frenssen, den Temperament und Kraft ausstrahlenden hexenartigen Blick von Professor Raabe, dem Präsidenten der Reichsmusikkammer, der gekommen ist, das Weber-Festkonzert zu dirigieren … Da sitzt vor mir also eine so alte, erfahrene und geschliffene Vertretung nationaler Kultur, dass ich begreife, wie leicht es für Hitler war, das „Deutschtum“ wachzurufen.

Und trotzdem: „Deutschtum“ ist nicht mehr nur das Ziel an sich, sondern in den Händen der Machthaber. Eutin ist also doch nur ein verwunschenes Schloss, dessen Bewohner nur deshalb ein Recht auf ihr Dasein haben, weil sie alt und „kulturell“ sind. Man braucht sie so wie Museumsobjekte: als erziehende Vorbilder. Ihr Schirmherr ist ein einfacher, gutmütiger und strenger Soldatentyp, der mit Freuden und gutem Willen in seiner Festrede auf Kultur und Kunst setzt, nach dem Fest aber gedankenlos jedem von höherer Warte kommenden Befehl gehorcht. Und außerhalb des Schlosses steht eine Truppe junger Braunhemden Wache …

Die Wiederbelebung und Wertschätzung der klassischen deutschen Kultur ist freilich schon als solche eine große Tat des Dritten Reiches. Die Stimmung während des Konzerts zum 150-jährigen Jubiläum war geradezu faszinierend. Die deutsche Romantik, so Professor Raabe in seiner Festrede, ist nicht verspottete, sentimentale Schwärmerei, den besten Beweis liefert doch Webers Musik: Phantasie wird zur Wirklichkeit, dazwischen gibt es keine Grenze. Richtige Männer verfügten in der romantischen Zeit über die Kunst, Tränen zu weinen. Es ist Zeit, dass wir uns von dem Schlagwort „romantische Lügenhaftigkeit“ befreien.

Die Atmosphäre nach dem Konzert war so intensiv dicht, dass ich mich, nachdem ich durch die dunkle, warme Nacht in der „Stadt der Rosen“ umhergestreift war und mich schließlich zum Ufer des Eutiner Sees verirrt hatte, fragen musste, ertönte da über dem von Sternen übersäten Wasserspiegel vom gegenüberliegenden Ufer her nicht doch das Waldhorn der Weberschen Musik.

Zu Gast im Dritten Reich 1936. Rhapsodie

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