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Villa am Meere


Das Deutsch-Nordische Schriftstellerhaus. Travemündes prächtigste Villa

Meines Wissens gibt es auf der ganzen Welt keine zweite gleichartige Institution wie das Travemünder Deutsch-Nordische Schriftstellerheim. Das Dritte Reich lädt jetzt also schon zum dritten Mal aus Dänemark, Norwegen und Schweden einen, aus Finnland zwei Autoren – vom finnischen und vom schwedischen Schriftstellerverband – ein, zusammen mit drei deutschen Schriftstellern den Sommer in einer der prächtigsten Villen von Travemünde zu verbringen. Im ersten Sommer vertraten Lauri Viljanen und Tito Colliander4) Finnland, im zweiten Toivo Lyy5) und Ragnar Ekelund6).

Das Dichterhaus, wie die Travemünder die Villa zwanglos nennen, stand ursprünglich in der Verantwortung der in Lübeck ansässigen, bekannten Nordischen Gesellschaft. Seit 1935 verwaltet nun die Reichsschrifttumskammer des Dritten Reiches das Haus selber. Früher war das Dichterhaus tatsächlich lediglich ein Sommerurlaubsplatz, wo sich Schriftsteller aus verschiedenen Nationen treffen konnten. Auch heute gibt es hier zwar nicht den geringsten moralischen Druck, gleichwohl merkt man am Umfang des offiziellen Programms, dass das Haus von einer zielbewussten Führung geleitet wird. So sind etwa alle deutschen Autoren diesmal Mitglieder der Nationalsozialistischen Partei. Und wir Nordländer mithin Gäste des Dritten Reiches.

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Stampfe dein Bein auf die Erde, Antaeus! Die diesjährige Dichterhaustruppe repräsentiert fast Europa im Kleinformat. Alle Richtungen außer dem Kommunismus sind vertreten, und sogar reingewaschenen Typs.

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Man merkt gleich, dass dieses Jahr Schweden hoch im Kurs steht. Einen tolleren Typ als Sven Stolpe hätte unser westlicher Nachbar gar nicht schicken können. Stolpes Ruf als Kritiker und geistiger Führer des für seine „plötzlichen Schwankungen“ bekannten Schwedens war also bis nach Deutschland gedrungen. Außerdem hatte er in Deutschland studiert, seine Frau war Deutsche und er sprach perfekt Deutsch.

In Finnland denkt die Tulenkantajat-Generation [Die Fackelträger-Schriftstellergruppe] nicht besonders freundlich über Stolpe. Während der unstetigsten Zeit seiner jugendlichen Suche kam Stolpe 1929 nach Finnland und veröffentlichte als Ergebnis seiner Reise die sensationelle Glosse På nattgrogg med det unga Finland [„Beim Nachttrunk mit dem jungen Finnland“], die die „Feuerträger“ ins Lächerliche zog. Aber auch in Schweden erlitt Stolpes anfänglich so großer Ruf einen Schlag, weil diese unruhige Seele seine Weltanschauung wechselte wie ein Chamäleon die Farbe. Stolpe erlangte Berühmtheit, weil er den Meister der akademischen Idyllen Anders Österling angriff und sein Land der fruchtlosen geistigen Kultur und des in Schemata verharrenden „Alexandrinismus“ beschuldigte. Auf der Suche nach einem aktuellen Helden, einem Vertreter energischen Handelns, stieß er auf den Streichholzkönig Kröger, besang ihn überschwänglich und stimmte Hymnen auf die „sporttreibende Jugend“ an. Stolpe trat auch selbst als aktiver Sportler an. Eine plötzlich ausgebrochene Lungenkrankheit verursachte jedoch eine vollständige geistige Wandlung, in deren Folge der große Aufmerksamkeit erweckende und auch ins Finnische übersetzte Roman Im Wartezimmer des Todes erschien. Danach wandte sich der ehemalige Modernist immer stärker dem Glauben zu, hauptsächlich dem Neokatholizismus. Die zweibändige Essaysammlung Den kristna falangen [„Der bekehrte Flügel“] ist das Resultat dieser Phase.

Als er im Dritten Reich ankam, hatte er eine neue Sensation bereit: Er kam direkt aus England, wo ihn die Oxforder Erweckung erfasst hatte! „Das war der wichtigste Moment in meinem Leben“, versicherte er ein ums andere Mal. Oxfordismus ist im Dritten Reich – aus leicht verständlichen Gründen – ein völlig unbekanntes Phänomen, sodass die Verblüffung der Deutschen erklärlich wird. Stolpe schrieb gerade ein Buch über seine Konvertierung, und wir anderen beneideten ihn aufrichtig um seine Selbstzucht daran festzuhalten, jeden Tag zehn Seiten zu schreiben.

Von allen Autoren im Dichterhaus interessierte mich anfangs Stolpe am meisten. Er hat sich vor meiner Ankunft bereits zehn Tage in Deutschland aufgehalten. Der frühere Modernist und Liberale hatte sich trotz aller Wandlungen sein Jugendideal bewahrt und war der einzige, der das Dritte Reich schon vom ersten Augenblick an vor allem wegen seiner Intoleranz, dem Militarismus und der Unmenschlichkeit offen zu kritisieren wagte. Seiner durchgemachten Krankheit zum Trotz wollte der ehemalige Vertreter der sportlichen Jugend im eigenen Leben seine Ideale immer aufs Neue verwirklichen. Obwohl die eine Lungenhälfte geschrumpft ist, schwimmt Stolpe jeden Tag lange Strecken. Ich musste seine Energie einfach bewundern: Zum ersten Mal traf ich einen Anhänger „modernistischen“ Geistes, der mit heldenhafter Beharrlichkeit im eigenen Leben seine Ideale durchsetzte. Zur Zeit der sportbegeisterten Jugend der 20er Jahre bekam dieser banalisierende Ausdruck für mich mit der Bekanntschaft Stolpes neue Tragweite. Der Lungenschaden hatte Stolpe gezwungen, seine Sportbegeisterung auf einen anderen Bereich auszurichten: Autofahren. Unser Oxforder besaß einen schicken, kleinen Sportwagen, der fleißig genutzt wurde. Stolpe erzählte auch, dass er sich in der Region Dalarna ein kleines und fruchtbares Landgut angeschafft habe – auch das ein typischer StolpeVersuch, Weltanschauung und Realität miteinander zu verbinden.

Leider konnte ich Stolpes Gesellschaft nur fünf Tage genießen. Er fuhr nämlich nach Norwegen, um Ronald Fangen sein Oxfordbuch vorzustellen. Und auf dieser Reise brach seine alte Lungenschwäche erneut aus. In zahlreichen Briefen beteuerte er seinen Willen, nach Deutschland zurückzukehren. Er erzählte, er sei voller Zweifel und Widerspruchsgeist ins Dritte Reich gekommen. Innerhalb kurzer Zeit hatte er freilich schon bald manche seiner zuvor gebildeten Meinungen revidieren müssen. Besonders stark interessierte ihn unsere Fahrt zu den Parteitagen in Nürnberg.

Wir alle bedauerten einmütig Stolpes Fehlen in unserer Truppe. Das Buch, das er sicher über seinen Aufenthalt als Gast im Dritten Reich geschrieben hätte, wäre ein interessantes und persönliches Zeugnis gewesen. Stolpe: Temperament eines durch die geistige Weltkrise geformten Chamäleons – aber klar und neugierig in Hirn und Sinn.


Sven Stolpe

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Der Repräsentant Norwegens Eyvind Mehle, der in Deutschland den Doktorgrad erworben hatte, ist das beliebteste Mitglied im Dichterhaus und zugleich dessen Enfant terrible. Keiner könnte glauben, dass dieser wie ein verderbter Achtklässler wirkende Mann die älteste Person im Hause ist – mit bereits 41 Jahren. Mehle ist allerschwärzester Faschist und eine der bekanntesten Führungskräfte der Nasjonalsamling Norwegens. Er ist eigentlich kein Schriftsteller, sondern Journalist, der sowohl Stalin als auch Mussolini und Hitler besucht und interviewt sowie feste Verbindungen zu allen europäischen Faschistenorganisationen geknüpft hat. In Norwegen hat er an mehreren nationalsozialistischen Tumulten teilgenommen oder war zumindest an deren Organisation beteiligt. Die fünf nationalsozialistischen Jugendlichen, die in Trotzkis norwegische Wohnung eindrangen, waren seine Bekannten und Geistesgenossen, sodass er die Angelegenheit zu einem geradezu welthistorischen Fall ausweiten konnte. Ein merkwürdiger und lustiger Mann, den man aber nicht immer ganz ernst nehmen darf – zum Beispiel dann, wenn er aufzählt, wen die Nationalsozialisten alles erschießen, um an die Macht zu kommen! –, der aber durchaus nicht so dumm und jungenhaft ist wie er sich gern hinstellt. Im Grunde genommen ist er sowohl gutmütig als auch intelligent; diese „unzeitgemäßen“ Schwächen versteht er gleichwohl sorgfältig unter polternder Grobheit und jungenhaftem Zynismus zu verstecken. Gesunden nordischen Verstand kann schließlich auch Mehle nicht täuschen. Wenn sich unsere Deutschen in trüber politischer Metaphysik verlieren, kehrt Mehle mit einem Wimpernschlag wie mit der Kraft des Gesetzes der Wechselwirkung auf den Boden der Wirklichkeit zurück und sagt ein so gerades und gesunden Menschenverstand beweisendes Wort, dass das Gespräch im gleichen Augenblick wieder in normale Bahnen übergeht. Allerdings kann er auch langweilen mit seinen ewigen Politisierungen, und manchmal laufen einem kalte Schauer über den Rücken, wenn man bedenkt, dass Typen seines Schlags die „gesunde“ Politik der Zukunft kreieren werden … Mehle ist eine moderner Bohemepolitiker: ein tüchtiger Trinker, unglaublich stattlich und zynisch in seinen Witzen wie im rücksichtslosen Flirten mit der Macht, gesprächig, lachfreudig und liebenswert frech. Ein Faschist, der auf der Welt nichts mehr hasst als Spießbürgertum – ein psychoanalytisches Musterbeispiel für einen Mann, der niemals selbst Macht übernehmen könnte und der es, von diesem Minderwertigkeitskomplex angetrieben, genießt, die Arbeit Anderer zu zerstören. Ein typischer ideologischer Vorreiter der gegenwärtigen Kraftpolitik. Ein Mann der Gegensätze: Ebenso viel wie spießbürgerliche Plattitüden hasst er auch das konventionelle Christentum, und trotzdem hat er wegen der Demonstrationen gegen den Faschismus in Norwegen mit großem Erfolg das Schauspiel Korset fra Pem [„Das Kreuz von Pem“] geschrieben, das die Verfolgung des Christentums durch die Bolscheviken behandelt! Die norwegischen Theater haben auch Mehles neues Schauspiel Aarets bestseller [„Das am meisten verkaufte Buch“] in ihr Repertoire aufgenommen. Schon der Titel lässt ahnen, dass damit bürgerliche Zustände verspottet werden.

Mehle, den von der Zeit schief erzogenen Intelligenzler, musste man einfach mögen. Das „schreckliche Kind“ des Dichterhauses, das vom Sitz seines Anzuges redete wie der letzte Dandy, zum Frühstück aber in Hosenträgern erscheinen konnte.


Eyvind Mehle

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Dänemark vertritt also inoffiziell der liebe und taube Erik Bertelsen. Da kein offizieller Vertreter zugegen war, bat Doktor Domes ihn, ebenso lange im Haus zu bleiben wie wir Anderen auch. Bertelsen ist ein richtiger Hans Christian Andersen-Junge. Ich kann ihn nicht mit anderen Worten charakterisieren als als „realistischen Märchenonkel“. Seine Novellen und Romane beschreiben allerdings das Leben der Fischer an der Westküste Dänemarks und er behauptet, den „ersten Industrieroman Dänemarks“ Folk paa Fabrik [„Fabrikmenschen“] verfasst zu haben. Nachdem ich Bertelsen kennengelernt habe, der dann mein Zimmerkollege wurde, und seine auf unseren Abendsitzungen mit rauer Stimme eines Gehörlosen dargebotenen alten dänischen Balladen und eigene Seemannslieder hörte, glaube ich nicht, dass diese Bücher besonders „realistisch“ oder modern sind. Bertelsen ist so artig und herzlich und unrevolutionär, dass ich mich echt wundere, wie so ein Typ in unseren Tagen sein Brot mit Schreiben verdienen kann … Bertelsen erschüttert weder der Nazismus noch der Bolschevismus sonderlich. Für ihn ist wichtig, fleißig an Novellen und Artikeln zu basteln und Briefe Til min kjaere Hulda [„An meine liebe Hulda“] zu schreiben. Und die Artikel befassen sich in idyllischem, patriotischem Geiste mit den Landschaften Schleswig-Holsteins und deren alten Dänemarkerinnerungen …

Aktuell ist er freilich seiner Liebenswürdigkeit und Hilflosigkeit wegen auch unser bei allen beliebter Bertelsen – wenigstens als Gegensatz zu uns anderen! Ich fühle mich jedenfalls in der Gegenwart meines Zimmergenossen außerordentlich wohl. Anfangs war die Situation wohl etwas unbefriedigend durch die Tatsache, dass das Zimmer des Hausleiters Doktor Domes direkt neben unserem lag. Es war nicht so lustig, abends dem tauben Bertelsen in furchtbarem Dänisch Auskünfte zu den Tagesereignissen ins Ohr zu brüllen, denn die betrafen dann meistens die deutsche Politik und Bemerkungen über unsere achtbare Gesellschaft …


Erik Bertelsen

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Als das einzige Werk von Göran Stenius, dessen Roman Det okända helgonets kloster [„Das Kloster des unbekannten Heiligen“] auch in Schweden Aufsehen erregte und Weihnachten vor einem Jahr erschien, überschrieb Hagar Olsson seine Rezension so: „Der Anti-Intellektualismus marschiert auf.“ Stenius gehört zu der kleinen, von finnischer Seite recht wenig beachteten Gruppe der schwedischsprachigen Autoren, deren bekanntester Name Örnulf Tigerstedt7) ist und der auch Jarl Gallén und der junge Lorenz von Nummers mit seinem Gedichtband Svart Harnesk [„Der schwarze Harnisch“] angehört. Diese Gruppe fand seinerzeit ihre Erweckung durch die Lapua-Bewegung8), und sprachenpolitisch bildet sie in der schwedischen Universitätswelt die Opposition. Unter dem Einfluss von Gallén spürte Stenius in letzter Zeit starke Anziehung zum Katholizismus und zu dem namentlich so exklusiven Phänomen wie den in Kersti Bergroths Blauem Buch erläuterten Neuthomismus [in der Nachfolge des Thomas von Aquin]. Äußerlich wirkt Stenius alles andere als ein Kenner der katholischen Mysterien. Er ist ein großer, dunkler und gut aussehender Mann, fast bis zum Phlegma neigend ruhig und gutmütig wie ein Bernhardiner. Die Gotik, viele Christus- und Madonnenbilder in den Lübecker Museen und mittelalterliche Denkmäler interessierten ihn deshalb mehr als irgendeinen Anderen. Stenius kam vertraut mit national­sozialistischem Denken nach Deutschland. Es fällt ihm also überhaupt nicht schwer, mit erhobenem Arm aufzutreten. Mit umso größerem Interesse verfolge ich die Veränderungen in den Denkweisen meines Landsmannes. Auf die gleiche Weise wie Mehles plötzlich aufblitzender, meistens unter Zynismus verdeckter nordische gesunde Menschenverstand bildet ein melancholisch, aber ehrlich eingeworfener Gedanke des Finnen Stenius oft ein gesundes Gegengewicht zu der überschwänglichen Begeisterung und schwärmerischen Tiefsinnigkeit unserer Deutschen.


Göran Stenius

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Mein größtes Interesse galt natürlich den deutschen Schriftstellern. Drei nationalsozialistische Autoren – und doch wie unterschiedlich alle! Die Idee der „Gleichschaltung“ scheint nicht in der Lage zu sein, wenigstens die Individualität der Schriftsteller zu unterbinden.

Der aus dem Saarland stammende Rupert Rupp ist erst 28 Jahre alt. Seinem Äußeren nach entspricht er nur sehr bedingt dem gewöhnlichen Begriff von einem Deutschen. Er ist gebräunt, dunkel und schwarzhaarig wie ein Araber. Rupp wurde zunächst von Beruf Ingenieur. Bei einem Unfall in einer Motorenfabrik verletzte er sich die Augen so schlimm, dass er länger völlig blind war, und während dieser Zeit begann er zu schreiben. Von ihm sind der Gedichtband Die brennende Erde und die Novellensammlung Grenzland im Sturm erschienen. Hauptthema seiner Dichtung sind die Leiden und Erniedrigungen des Saargebiets während der französischen Besatzungszeit, und auch als Redakteur der Zeitschrift Westmark hat er sich als feuriger Kämpfer für die Belange der Saar ausgewiesen. Rupp hat auch schon als Junge in den Reihen von Schlageter aktiv an den Kämpfen teilgenommen. Deshalb ist er so naiv und mit ganzem Herzen Anhänger der Naziideologie wie es ein im Süden geborener Soldatenjüngling nur sein kann.

Rupp stammt aus reichem Hause. Wir beneiden ihn inständig um sein kleines Auto und seine zierliche, anmutige Frau, Tochter eines saarländischen Arbeiters, die eine Woche vor unserer Abreise im Dichterhaus erschien. Neuerdings studiert Rupp Kunsthistorik an der Universität Heidelberg. Der lebhafte, fröhliche und emotionale Rupp ist in seinem lustigen Sportanzug zweifelsohne die dekorativste Erscheinung im Dich­terhaus. Er arbeitet zurzeit an einem besonderen literarischen Projekt: Er schreibt eine Gedichtserie zu Zeichnungen, die die Grauen des Krieges an einem gestorbenen, autodidaktischen Arbeiterkämpfer aus dem Saarland abbilden. Größere Originalität oder künstlerische Ambitionen sind in Rupps Texten freilich nicht gerade zu entdecken. Er versucht sich als mystischer, große Worte liebender Quasiphilosoph; aber stark empfundener Schmerz und Beklemmung unter dem Druck der Zeit ist der Jugendgeneration ganz natürlich, für die der Nazismus Ausdruck der Rettung und Quell neuer Kraft und Begeisterung bedeutet.

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Besonders interessant, sowohl als Individuum als auch als zeitgenössischer Nazityp, ist hingegen Fritz Helke.

Auch Helke imponiert nicht gerade durch komplizierte seelische Konditionen – im Gegenteil. Helke ist die hundertprozentig maskuline, eisenharte Verkörperung des jungen Mannes im neuen Deutschland. Klein, sehnig, blond und beinahe hässlich strahlt er trotzdem so ungewöhnliche seelische Zucht und harte, ehrliche Männlichkeit aus, dass jeder instinktiv zuhören muss, wenn er sich mit kurzen, feurigen Wendungen am Gespräch beteiligt.

Der einunddreißigjährige Helke hat seine Position durch Kampf erworben. Schon mit 16 Jahren musste er sich allein durchschlagen. Während der Inflationszeit arbeitete er als Kaufmann, begann dann nachts zu studieren, vertiefte sich besonders in Strindberg und Ibsen und nahm zugleich vehement an politischen Kämpfen teil, indem er unter anderem als Führer der Jugendabteilung im Stahlhelm tätig war. Diese Funktion gab er auf, als er bemerkte, dass die Freimaurerei dort Fuß gefasst hatte und ging 1929 mitsamt seiner 25 junge Männer umfassenden Truppe zu Hitlers Nationalsozialisten über. Heute bekleidet Helke eine recht bedeutende – zugleich für das nazistische System ganz typische – Position im Hauptsitz der Hitlerjugend in Berlin: Als Inspizient der für die Hitlerjugend geeigneten Literatur (!) ist er Referent im Kulturamt der Reichsjugendführung und sein Rang in der Hitlerjugend ist sogar Bannführer im Stabe! Unsere Skandinavier erzählten lachend, was für eine große Überraschung der spartanische und einfache Helke ihnen in Berlin bereitete, als er zur Zeit der Olympischen Spiele plötzlich in vollkommen roter, brauner und silberner Soldatentracht vor ihnen auftauchte.

Als Schriftsteller ist Fritz Helke hervorragender Vertreter der im Dritten Reich kreierten Literaturgattung, deren Hauptaufgabe es nach den Worten von Sven Stolpe ist, „Millionen deutscher junger Menschen primitive Bilder nationaler und militärischer Helden zu präsentieren und der Jugend systematisch die Vorstellung einzuhämmern, dass es kein anderes Heldentum gibt als ein soldatisches“. Helke hat seinen Beruf als „Referent“ für Literatur der Hitlerjugend so genau genommen, dass er selbst Modellromane für die neue Jugendliteratur schaffen wollte. Innerhalb weniger Jahre hat er erstaunlich viele historische Jugendbücher publiziert; das beste davon dürfte Preußische Rebellion sein. In diesem Jahr erschien sein umfassendstes Werk, der für Erwachsene geschriebene historische Roman Der Prinz von Frankreich. Künstlerisch interessieren Helkes Romane wohl niemanden; schon ihre stilistische Konventionalität und Banalität befremdet den belesenen Literaturfreund. Sowohl die historische wie die territoriale Färbung sind unzuverlässig. Als Verdienst darf man ihnen ihre Dramatik und „preußisch“ stilisierte Soldatenbeschreibung anrechnen. Sie haben nur einen Zweck: Nationalsozialisten zu erziehen.

Man kann sich kaum einen typischeren Nazischriftsteller vorstellen als Fritz Helke. Im Vordergrund steht der Zweck … Leichter Hand verurteilte er die traditionelle Jugendliteratur. Abenteuererzählungen, Indianerromantik und Karl May verschrotten …, Robinson Crusoe war fast das einzige, was Gnade fand. Der simple, kleine Helke machte sich richtig schwungvoll daran, seinen Traum vom neuen Jugendbuch zu entwickeln, das spannend wäre, Helden aufziehen würde und zugleich ein so bedeutendes Kunstwerk darstellte, dass es auch erwachsene Leser interessierte. Sein Idol war Heidenstams Karoliner9). Aber – Trygve Gulbranssen10) war auch sehr geeignet für die Hitlerjugend, meinte er!

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Ich sollte den Tenor meiner Darstellung wohl ändern, wenn ich von dem dritten deutschen Schriftsteller, Ottfried Graf Finck von Finckenstein spreche. Dieser aus Ostpreußen stammende, 35-jährige Aristokratenautor, dessen Vorfahre Minister bei Friedrich dem Großen und dessen väterliche Großmutter eine Kayserling waren, war absolut die interessanteste, intelligenteste und tiefgründigste Persönlichkeit im Dichterhaus und auch als Künstler einen Kopf größer als alle anderen. Ich halte es für einen ganz besonderen, persönlichen Gewinn, die Freundschaft und das Vertrauen gerade dieses Mannes errungen zu haben.

Finckensteins nationalsozialistische Überzeugung ist eines der Mysterien des Dritten Reiches, die für mich am schwierigsten zu verstehen waren. Er ist genau genommen der Typ einer ganz anderen Epoche. Der erste Eindruck von Finckenstein ist, dass der Mann direkt aus einem Herrengutsroman ausgeschnitten ist. Er wirkt wie ein schlanker, dürrer Elch. Typische Züge eines deutschen Adligen, Aristokrat vom Scheitel bis zur Sohle, lebhaft und fast bis zur Unachtsamkeit frei und entspannt im Benehmen; ohne jeden Übergang kann sich das plötzlich zu merkwürdig „plastischem“ Nachdenken wandeln. Übersensibel, kultiviert, ein guter und kluger Kopf, von dem ein eigenartig beruhigender Einfluss auf jeden Anwesenden ausgeht. Wenn er anfängt zu erzählen oder einen glänzenden eigenen Gedanken entwickelt, währenddessen mit seinem ganzen Körper und den selten schönen Händen gestikulierend, dann wieder unbewegt an die Lehne seines Stuhls oder nach vorn gebeugt, dann schweigt die ganze Gesellschaft. Was für eine seltsam feine und in bewundernswerter Reihenfolge arbeitende Gehirnmaschinerie, und welche herzliche und menschliche Wärme in all seinen Gedanken! Schon dieses verfeinerte Gesicht, aus dem die Augen so ehrlich, erfahren und „direkt ins Innerste des Anderen“ blicken, erobern einen jeden.


Ottfried von Finckenstein


Rupert Rupp


Fritz Helke

Finckenstein ist ein großartiges Beispiel dafür, wie sich ein harmonischer und reicher Typ gibt, wenn sich alte aristokratische Kultur mit richtig und wahrhaftig begriffenem Lebenskult und nationalsozialistisch aufrichtigem und kompromisslosem Denken liiert. Denn Meilensteine von Finckensteins Entwicklung waren Hitler – und Lawrence11)! Es verlangt tatsächlich die Elastizität des seelischen Mechanismus Finckensteins, um dieses Wunder möglich zu machen. Der Stolpesche Oxford-Hintergrund wirkt wie kalte Berechnung im Vergleich zur lichten und ruhigen, fast heiligenhaft strahlenden Lebensbejahung von Finckenstein.

Lawrence bildete übrigens gerade die Pforte, die Finckenstein und mich zusammenbrachte, und einige „lawrenceartige“ Mondscheingespräche mit ihm auf der Terrasse des Kursaals, auf die ich später zurückkomme, gehören zu den besten Erinnerungen meines Lebens. Ich habe nie jemanden so schön über seine Frau sprechen hören wie Finckenstein. Und dieser Mann kannte Frauen wie kein Anderer. Nachdem er seinerzeit zunächst an die Westfront verschlagen wurde, nur um dort den endgültigen Zusammenbruch mitzuerleben, betätigte er sich als Börsenmakler in Berlin und später in London und New York und leerte den bitteren Kelch des High Life-Nachtlebens der ganzen kosmopolitischen Nachkriegszeit bis zur Neige. „Jeden Morgen dachte ich beim Wachwerden zuerst darüber nach, wo ich einen Schluck Champagner oder Cognac herbekäme, bevor ich an die Arbeit ginge, und mit welcher Frau ich nächste Nacht schlafen würde.“ Dann kam der Überdruss. Das Familiengut in Ostpreußen war dem Sohn seines im Krieg gefallenen Bruders zugefallen, aber er erwarb selbst einen bescheidenen Landsitz in der Nähe. Während dieser Zeit der Depressionen, Selbstvorwürfe und leidenschaftlichen schriftstellerischen Versuche hörte er zufällig eine Rede Hitlers in Königsberg. Da eröffnete sich ihm eine völlig neue Welt, die ihn mehr und mehr an das Landleben band und ihn dazu veranlasste, hier die Bevölkerung für seine literarische Arbeit zu studieren. Aber diese Entscheidung erfolgte keineswegs schmerzfrei. Seine ganze Jugend verbrachte er im Zeichen intellektueller Analysen eines Großstadtmenschen. Damals war er begeisterter Anhänger des Kommunismus. „Das ist noch immer das genialste und nahtloseste wirtschaftliche System, das die Welt jemals erfunden hat“, sagte er. „Es ist nur mit einem fundamentalen Irrtum behaftet: Es geht davon aus, der Mensch täte nur das, was vernünftig ist; aber das stimmt nicht.“ Der Widerspruch zwischen der alten und neuen Anschauung gestaltete sich ihm so schmerzhaft, dass die Krise ihn für ein Jahr in eine Nervenheilanstalt brachte. – Heute ist sein Verhältnis zu Hitler völlig ohne Vorbehalte. „Man muss lernen zu glauben, dass auch in unseren Tagen ein vollkommenes Genie auftauchen kann.“ Über diese Sache mit Deutschen zu diskutieren – auch mit Finckenstein – ist hoffnungslos … Man kann nur zuhören und sich wundern.

Seine Sprachkenntnisse und die vielen Reisen ermöglichten Finckenstein, umfassend die moderne Literatur kennenzulernen, ein seltenes Phänomen unter den jungen Schriftstellern des Dritten Reiches. Der Nationalsozialismus ist derart intensiv nur mit der Schaffung eines eigenen Weltbildes beschäftigt, dass ihn kulturelle Erscheinungen anderer Länder überhaupt nicht zu interessieren scheinen. Welche ungeheure Gefahren in dieser kulturellen Abschottung stecken, ist absolut klar. Als anschauliches Beispiel kann ich erwähnen, dass Doktor Domes den Namen Lawrence (von dessen Büchern übrigens wenigstens zwei im Dritten Reich verboten sind) noch nicht einmal kannte. Für uns Skandinavier war es fast unmöglich, sich mit den Deutschen zu unterhalten, wenn sich das Thema der neuesten Literatur Frankreichs, Englands oder Amerikas zuwandte.

Die Weite von Finckensteins Weltanschauung wie auch der bewundernswert transparente und extrem ausgefeilte Stil seiner Texte rührte größtenteils von seiner Belesenheit her. Seine Prosa ist in der Literatur des Dritten Reiches einmalig. Obgleich er nur zwei Werke veröffentlicht hat, die Novelle Männer am Brunnen und den umfassenden Roman Fünfkirchen, die beide das Landleben in Ostpreußen beschreiben, hat er doch einen hervorragenden Ruf. Wenn er von seinen literarischen Arbeiten spricht, erwähnt er häufig seine Frau. Sie gehörte seinerzeit zur Redaktion einer Nazizeitung und war ihrem zukünftigen Ehemann bei der Herausgabe seiner Novellen behilflich. Nach ihrer Verehelichung wurde sie vom Standpunkt der Nazis aus dem Grunde eine ideale Ehefrau, weil sie nun diese für Frauen „unpassende“ Tätigkeit völlig aufgab und nur noch für ihren Mann, das Kind und das Landhaus lebte.

Graf Ottfried von Finckenstein gehört zu den wenigen makellosen Schriftstellern, deren Entwicklung zu verfolgen sich auch im Ausland lohnt.

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Und schließlich bleibt für die Beschreibung der Beteiligten im Deutsch-Skandinavischen Dichterhaus 1936 nur noch der Verfasser dieser Zeilen. Ich fühlte mich bei der Anreise ins Dritte Reich wie ein richtig ausgewrungener kultureller Schwamm … Aber verflixt nochmal, wie wunderbar konnte sich dieser Schwamm im Strom der täglichen Dichterhausideen dennoch mit Wasser vollsaugen!


Olavi Paavolainen

Zu Gast im Dritten Reich 1936. Rhapsodie

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