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Das Syndrom

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Die Geschichte meiner Reisen ist nur die Geschichte einer Unzulänglichkeit. Ich leide an einem Syndrom, das sich mühelos in jedem Atlas klinischer Syndrome finden lässt und das – wie die Fachliteratur behauptet – immer mehr um sich greift. Am besten greift man zu »The Clinical Syndrome« in einer älteren Ausgabe, aus den siebziger Jahren. Das ist eine Art eigener Syndrom-Enzyklopädie. Für mich übrigens eine unerschöpfliche Quelle der Inspiration. Würde es da noch jemand wagen, den Menschen als Ganzes zu beschreiben, allgemein und objektiv? Sich voller Überzeugung des Begriffs der »Persönlichkeit« zu bedienen? Begeisterung für eine überzeugende Typologie aufzubringen? Ich glaube kaum. Der Begriff des Syndroms passt wie angegossen auf die Reisepsychologie. Ein Syndrom ist nicht groß, übertragbar, an keine schlaffe Theorie gebunden, episodisch. Man kann damit etwas erklären und es dann in den Papierkorb werfen. Ein Erkenntniswerkzeug zum Einmalgebrauch. Meines heißt Perseveratives Detoxifikationssyndrom. Ganz nüchtern und schlicht erklärt, bedeutet es nur so viel, dass es dem Wesen nach auf der hartnäckigen Bewusstmachung bestimmter Vorstellungen, ja sogar auf der zwanghaften Suche nach diesen Vorstellungen beruht. Es ist eine Variante des »Mean World Syndrome« (»Böse-Welt-Syndrom«), das in der jüngsten Zeit in der neuropsychologischen Literatur ziemlich gut als eine spezifische Form der Infektion durch die Medien beschrieben wird. Im Grunde ein sehr bürgerliches Leiden. Der Patient verbringt Stunden vor dem Fernseher und sucht mit der Fernbedienung nur die Sender, auf denen besonders schreckliche Nachrichten gebracht werden: Kriege, Epidemien, Katastrophen. Gebannt von dem Anblick, kann der Zuschauer die Augen nicht mehr abwenden.

Die Symptome selbst sind nicht bedrohlich, man kann in Ruhe damit leben, solange man eine gewisse Distanz behält. Dieses unangenehme Leiden lässt sich nicht heilen, die Wissenschaft begnügt sich in diesem Fall mit der bedauernden Feststellung, dass es existiert. Gelangt der über sich selbst entsetzte Patient schließlich in die Sprechstunde eines Psychiaters, wird dieser ihm raten, seine Lebenshygiene zu verbessern: Verzicht auf Kaffee und Alkohol, Schlafen bei offenem Fenster, Gartenarbeit, Stricken oder Weben.

Mein Symptomkomplex besteht darin, dass mich alles anzieht, was kaputt, unvollkommen, defekt, zerbrochen ist. Mich interessiert das Unansehnliche, Irrtümer der Schöpfung, Sackgassen. Das, was sich entwickeln sollte, doch aus irgendwelchen Gründen unentwickelt geblieben oder, umgekehrt, übers Ziel hinausgeschossen ist. Alles, was von der Norm abweicht, was zu klein oder zu groß ist, wuchernd oder verkümmert, monströs und abstoßend. Formen, die keine Symmetrie wahren, die sich vervielfältigen, in die Breite gehen, sprießen oder, umgekehrt, die Vielzahl zur Einzahl reduzieren. Mich interessieren keine wiederholbaren Vorkommnisse, über die sich aufmerksam die Statistik beugt, die von allen mit zufriedenem freudigem Grinsen gefeiert werden. Meine Sensibilitäten sind teratologisch, monstrophil. Ich bin der unbeirrbaren und irritierenden Überzeugung, dass genau darin das wahre Sein zum Vorschein kommt und seine Natur offenbart. Eine plötzliche, zufällige Enthüllung. Ein verschämtes »Hoppla«, ein Zipfel Unterwäsche unter dem sorgsam plissierten Rock. Ein abscheuliches Metallskelett dringt plötzlich durch den Samtbezug, eine Eruption der Federn im Plüschsessel, die jedwede Illusion von Weichheit schamlos demaskiert.

Unrast

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