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Die Londoner Alchemisten des Films oder Der unheimliche Tiegel der Brothers Quay
ОглавлениеDer erste Film der Brothers Quay, den ich sah, löste in mir einen visuellen Schock aus und gleich darauf, nachdem ich mich ein wenig erholt hatte, ein irritierendes Gefühl von Déjà-vu, das bis heute anhält und auflebt, wann immer ich einen ihrer Filme anschaue. Allerdings besteht dieses Déjà-vu weniger im Eindruck, etwas schon gesehen zu haben, sondern vielmehr in der Ahnung, dass ich mich auf vertrautem Grund befinde, in einem Land, dessen Sprache ich verstehe, dessen Sitten ich kenne und dessen spezifischer Sinn für Humor mir nicht fremd ist. Intuitiv spüre ich eine Bedeutungstiefe, etwas, was nicht durch einfaches Skizzieren von Bezügen, Verweise auf Namen oder das Anführen von Zitaten erfasst werden kann. Vielmehr handelt es sich um den Grenzraum der verschwommenen, bruchstückhaften Erinnerung an Kindheit und Jugend, an die Cover geliebter Schallplatten, an Traumbilder. Um sie herum kreisen spontane Visualisierungen der Geschichten aus einst gelesenen Büchern oder aus einst gehörter Musik gesponnene Phantasien.
Was ist das für ein Land? Was für ein Raum, den die Alchemisten-Brüder vor mir entfalten? Alles hier ist mir vertraut und wird doch so gezeigt, dass ich immer wieder ins Staunen gerate. Im Meinigen steckt etwas Nicht-Meiniges, das mich in Alarmbereitschaft versetzt und mich hypnotisch auf das Bild starren lässt, dessen Wirkung sehr rasch auch zu einer sinnlichen Empfindung wird. Die Fingerkuppen machen sich zum Anfassen bereit, die Nase schnuppert schon, im Mund sammelt sich der Speichel. Wo bin ich?
In dem alchemistischen Tiegel, in dem die Brothers Quay schwungvoll rühren, befinden sich neben Zutaten aus alten traditionellen Rezepten auch Substanzen, deren Verwendung nur den beiden in den Sinn kommen konnte. (Haben kreative Alchemisten nicht immer versucht, Rezepte zu ändern, indem sie einer Tinktur einen Eidechsenschwanz, ein Spinnenbein, ein Fledermausauge oder Spuren von Mäusefüßen beimischten?) Sie bedienen sich hier und da, sie zitieren, wiederholen, knüpfen an, kopieren und fügen ein. Und mit jeder Bewegung des Rührlöffels mischen und überlagern sich die Sprachen und Bilder, die Tinktur wird immer eigentümlicher und homogener, unverwechselbarer – Quayiger. Bei genauerem Hinsehen aber zeigen sich an der Oberfläche für einen Augenblick charakteristische Streifen: Murnau, E.T.A. Hoffmann, Buñuel, Schulz, Kafka; eine Prise Dick, ein paar Tropfen surrealistische Malerei und die wunderschöne Ästhetik des Zerfalls, die melancholische und düstere Seelen so sehr anzieht. Und das alles opalisiert um ein paar Kristallisationsachsen.