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1. KAPITEL: DIE ARBEIT MIT DEM SACHVERHALT

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Juristische Klausuren sind bis einschließlich zum ersten Staatsexamen in ihrer Aufgabenstellung nahezu immer gleich. Man hat ein Gutachten über einen Sachverhalt zu erstellen. Der Gutachtenauftrag lautet bei Klausuren aus dem Strafrecht immer auf die Untersuchung der Strafbarkeit einer oder mehrerer Personen aus dem gestellten Sachverhalt. Bei Klausuren aus dem Öffentlichen Recht ist zu prüfen, ob der Staat bzw. eine andere Gebietskörperschaft des öffentlichen Rechts rechtmäßig gehandelt haben. Bei Gutachten aus dem Zivilrecht ist schließlich die Frage zu beantworten, ob eine Person gegen eine andere Person einen Anspruch auf eine bestimmte oder vom Gutachter noch zu bestimmende Leistung hat. Das Prinzip ist immer das gleiche, aber die Sachverhalte variieren in Umfang, Komplexität und Thematik sehr stark. Es gibt Sachverhalte, die nur ein einziges juristisches Thema vertieft abprüfen (eher selten), und es gibt Sachverhalte, in denen zahlreiche völlig verschiedene juristische Fragestellungen aufgeworfen werden, die allesamt mehr oder weniger vertieft behandelt werden müssen.

Die erste Schwierigkeit in einer juristischen Klausur besteht darin, den Sachverhalt zu erfassen. Der Sachverhalt enthält oftmals eine Vielzahl von einzelnen Handlungsabläufen, oft auch zahlreiche Kalenderdaten. Der erste Arbeitsschritt, den der Prüfungskandidat zu erbringen hat, ist die Erfassung des Sachverhalts in all seinen Details. Man muss wissen, was wann wie und warum passiert ist, um den Sachverhalt rechtlich vertretbar bewerten zu können. Wird ein Detail übersehen, kann dies dazu führen, dass das aufwendig erarbeitete Ergebnis nicht mehr vertretbar ist.

Die erste notenrelevante Leistung bei der Bearbeitung juristischer Klausuren erbringt der Prüfungskandidat also mit der Erfassung des Sachverhalts. Man mag der Auffassung sein, die Erfassung des Sachverhalts sei lästig und koste viel Zeit. Sich mit dem Sachverhalt »herumzuärgern«, sei doch keine juristische Tätigkeit und man studiere Jura, um das Gesetz verstehen zu lernen. In Wahrheit ist die Erfassung des Sachverhalts eine für Juristen sehr alltägliche Aufgabe. Egal ob man als Rechtsanwalt, Staatsanwalt, Richter oder Notar arbeitet. Man muss tagtäglich Sachverhalte erfassen, bevor man zur »eigentlichen« juristischen Arbeit kommt. In der Praxis kommt erschwerend hinzu, dass nicht immer »fertige« Sachverhalte zu erfassen sind. Sofern man nicht bereits das Berufsziel »Revisionsrichter« erreicht hat, muss oftmals zunächst der Sachverhalt vollständig ermittelt werden. Es ist deshalb enorm wichtig, bereits in der juristischen Ausbildung den Umgang mit komplexen Sachverhalten zu lernen. So erlernt und übt man auch, Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden. Ohne diese Fähigkeit kann man keinen juristischen Beruf vernünftig oder gar erfolgreich ausüben.

Das Erfassen des Sachverhalts »kostet« in Wahrheit keine Zeit. Die für die Erfassung des Sachverhalts aufgewendete Zeit stellt eine Investition in eine gute Note dar. Je gründlicher und intensiver der Sachverhalt erfasst wurde, desto besser wird das Gutachten sein, das der Prüfungskandidat verfasst. Die Sachverhaltserfassung stellt eine eigenständige Prüfungsleistung dar. Allein für sie müsste der Korrektor bis zu neun Punkte geben. Das Problem ist, dass der Korrektor nicht ohne Weiteres sehen kann, wie gut der Klausurkandidat den Sachverhalt erfasst hat, sondern dies anhand des vom Prüfungskandidaten verfassten Gutachtens beurteilen muss. Je mehr Umstände und Details aus dem Sachverhalt sich in der Subsumtion wiederfinden, desto besser wurde der Sachverhalt erfasst und ausgewertet. Die Benotung muss dem Rechnung tragen. Umgekehrt wirkt es sich regelmäßig äußerst negativ auf die Benotung aus, wenn aus dem Gutachten ersichtlich ist, dass eigentlich nur abstrakte Ausführungen zu bestimmten Rechtsfragen vorhanden sind, ohne dass eine hinreichende Sachverhaltsauswertung vorgenommen wurde. Oftmals lesen sich in Klausuren verfasste Gutachten, als hätten ihre Verfasser den Sachverhalt lediglich als Anlass oder als günstige Gelegenheit genommen, bestimmte Rechtsfragen abstrakt zu erörtern, anstatt – entsprechend ihrer Aufgabe – den Sachverhalt zu begutachten. Ein guter Jurist zeichnet sich jedoch nicht dadurch aus, dass er das Recht versteht und insoweit über viel Fachwissen verfügt. Erforderlich ist die Fähigkeit, das Recht mit Verständnis auf einen Lebenssachverhalt anzuwenden. Zu diesem Zweck werden Gesetze geschaffen.

Der Sachverhalt gibt den Schwierigkeitsgrad der Klausur vor. Ein Sachverhalt, in dem es um Kreditsicherungsrecht geht, ist nicht unbedingt schwieriger zu begutachten als ein Sachverhalt, in dem es um Fragen des Kaufrechts geht. Denn Kreditsicherungsrecht ist abstrakt gesehen nicht schwieriger als Kaufrecht. Der Gesetzgeber hat auch nicht bewusst bestimmte Rechtsmaterien schwieriger gestaltet als andere, um in juristischen Klausuren eine Differenzierung im Schwierigkeitsgrad zu ermöglichen. Eine schwierige Klausur zeichnet sich daher nicht durch ihre Thematik aus, sondern durch die Komplexität des zur Begutachtung gestellten Sachverhalts.

Da die Erfassung des Sachverhalts die erste Prüfungsleistung ist, können hier auch die ersten Fehler passieren. Regelmäßig sind dies die schlimmsten. Wenn etwa der Sachverhalt dem Klausurkandidaten nicht »liegt«, besteht die Gefahr, dass er ihn beim Verfassen des Gutachtens nicht ausreichend beachtet. Im Extremfall kann dann das gesamte Gutachten als »Themaverfehlung« unbrauchbar sein. Wenn etwa in einer Klausur aus dem Öffentlichen Recht nach der Verfassungsmäßigkeit eines bestimmten Gesetzes gefragt wird, im Sachverhalt aber weit und breit nirgendwo die Rede davon ist, dass zur Prüfung dieses Gesetzes eine abstrakte Normenkontrolle beim Bundesverfassungsgericht eingeleitet wurde, so stellt es einen katastrophalen Fehler dar, im Gutachten die Erfolgsaussichten der abstrakten Normenkontrolle zu prüfen. Selbst wenn der Korrektor diese »Zusatzausführungen« nicht negativ in seine Bewertung einfließen lassen sollte, so schadet sich der Prüfungskandidat zumindest dadurch enorm, dass er viel kostbare Zeit auf etwas verwendet, was überhaupt nicht gefragt ist. Im Bestfall sind solche Ausführungen »am Thema vorbei« für die Benotung nichts wert. Die meisten Korrektoren werden darüber hinausgehend aber sogar einen spürbaren Punktabzug vornehmen, weil die erste Prüfungsleistung – die Sachverhaltserfassung – offenbar misslungen ist, wenn etwas geprüft und erörtert wird, was laut Sachverhalt aber gar nicht passiert ist.

Es gibt auch Rechtsfragen, die der Sachverhalt zwar aufwirft, die jedoch durch den Bearbeitervermerk ausdrücklich von der Prüfung ausgenommen werden. Dies kann dadurch geschehen, dass ein bestimmtes Ergebnis zu unterstellen ist (z. B. »Die formelle Verfassungsmäßigkeit ist als gegeben anzusehen.«), oder dadurch, dass bestimmte Rechtsfragen schlicht nicht erörtert werden sollen (z. B. »Eine Strafbarkeit nach § 239a, § 239b StGB ist nicht zu prüfen.«). Auch in einem solchen Fall wird die Qualität eines Gutachtens erheblich gemindert, wenn unter Verstoß gegen die Anweisung im Bearbeitervermerk etwas untersucht wird, was nicht zu untersuchen ist.

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