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ОглавлениеHongkong
Anfang 1995 wurde ich zum Finanzchef der Region Greater China befördert, die die Landesorganisationen von China, Hongkong und Taiwan umfasste. Zusammen mit meiner Frau Catherine und unserem vier Monate alten Baby zogen wir nach Hongkong um. Für unsere junge Familie war dies ein aufregendes Erlebnis. Die asiatische Metropole, die aufgrund ihrer Geschichte als englische Kronkolonie, ihrer einzigartigen geografischen Lage und ihrer daraus resultieren enormen Wirtschaftskraft eine herausragende Stellung einnahm, ließ uns mit ihren fremdartigen Gerüchen und Geräuschen staunen und machte auf vieles neugierig.
Beruflich war es für mich jedoch ein hartes Erwachen. Denn ich hatte beim Antritt der Stelle die kindliche Vorstellung, Maliks Managementprinzipien zügig in der Praxis umzusetzen und die Veränderung im Unternehmen mit demselben Schwung weiter voranzutreiben, wie ich sie in der Zentrale in Basel im Finanzbereich angegangen war. Doch anstatt mit meinem Schwung einen nachhaltigen Durchbruch zu erzielen, krachte ich voll gegen eine Wand aus eingeschliffenen Gewohnheiten. Der Region Greater China stand ein älterer Herr vor, der seit über zehn Jahren das Geschehen des Unternehmens in Hongkong verwaltete. Seine Aufgabe bestand im Wesentlichen darin, in Europa verkauftes Fernostgeschäft so kostengünstig, wie es eben ging, abzuwickeln. Dazu beschäftigte er eine Truppe Hongkong-Chinesen, die er wie eine Kindergruppe überwachte. Eigenes kommerzielles Engagement war in seiner Rolle kaum gefordert. Trotzdem bescherte dieses Modell dem Unternehmen reiche Gewinne, denn Luft- und Seefracht warfen in Hongkong damals fette Margen ab. Allerdings begann dieses eher passive Modell zu Beginn der 90er Jahre zu kippen. Denn die Konkurrenz wurde aggressiver, und die fetten Margen schmolzen ab. Außerdem erwachte China.
Hongkong hatte aufgrund des von den Engländern geschaffenen Wirtschaftssystems und der hervorragenden, modernen Infrastruktur eine Sonderstellung in der Region. Es war das Tor in den Fernen Osten, wodurch die dort ansässigen Transportunternehmen großartig profitierten. Nun begannen die Chinesen überall eigene Verkehrsinfrastrukturen auszubauen. Flug- und Seehäfen wurden neugebaut oder modernisiert. Hongkong begann seine Sonderstellung zu verlieren. Es wurde erforderlich, dass Speditionsunternehmen wie das unsere, in allen großen chinesischen Städten eigene Büros einrichteten. Aufgrund der rechtlichen Rahmenbedingungen in China war dies damals schwierig. Außerdem stand dringend an, das Geschäftsmodell zu erneuern. Hatten wir uns in Hongkong bis zu diesem Zeitpunkt fast ausschließlich auf die Verkaufsleistungen der Kollegen in Europa und USA gestützt, wurde es nun zunehmend wichtig, Transportleistungen an asiatische Kunden zu verkaufen. Schließlich hinkten wir im Bereich der elektronischen Datenverarbeitung hinterher, so dass auch hier ein großer Veränderungsdruck entstand.
Die Notwendigkeit, diese drei komplexen Baustellen anzugehen, führte zu einer immensen Überforderung meines damaligen Vorgesetzten, der darauf hoffte, die Entwicklung doch noch irgendwie anhalten und die Zeit zurückdrehen zu können. Als naiver Idealist, der ich damals war, hatte ich für die Situation, in der sich mein Vorgesetzter befand, überhaupt kein Verständnis. Ich erwartete Veränderung und zwar sofort. Dass ich das Feld mit derselben Radikalität umwälzen konnte, wie wir in Basel den Finanzbereich umgewälzt hatten, war eine Illusion.
Ich erkannte nicht, dass ich gar nicht in der Position war, das Unternehmen zu verändern. Mein Idealismus war an sich ja gut, wie ich damit umging war jedoch schlecht. Anstatt meine Mission langfristig anzulegen, geduldig auf Verbesserungen hinzuarbeiten, mir Zeit zu nehmen, die neue Kultur und das Umfeld, in dem ich arbeitete, gründlich zu durchdringen, setzte ich voll auf Konfrontation. Ich legte mich mit etlichen Kollegen an und gebärdete mich wie ein Elefant im Porzellanladen. Der Luftfrachtchef in Hongkong war ein stolzer chinesischer Kollege, der sein Geschäft ebenfalls seit mehr als zehn Jahren erfolgreich betrieben hatte. Er war es gewohnt, Serviceprobleme mit Kunden zu regeln, indem er ihnen Abschläge vom Rechnungsbetrag erlaubte. Dabei ging er eigenmächtig und nicht in allen Fällen im Sinne des Unternehmens vor. Sein Gebaren war undurchsichtig und verursachte in der Verwaltung unserer Außenstände überdies ein erhebliches Maß an Unordnung. Ich reagierte darauf, indem ich den Mann bei einer der ersten Managementsitzungen, an denen ich teilnahm, rüde zusammenfaltete. Auch wenn ich in der Sache Recht gehabt haben mag, war mein Vorgehen vollkommen daneben. Wer sich auch nur ein bisschen mit den sozialen Gepflogenheiten in China auskennt, der weiß, dass ein derart direktes und somit ehrverletzendes Vorgehen ungehörig und kontraproduktiv ist. Eine derart tölpelhafte „Härte“, wie ich sie an den Tag legte, entsprang meiner Angst, in meiner neuen Funktion nicht schnell genug sichtbare Resultate vorzuweisen. Es baute sich in mir ein Druck auf, den ich am Ende nicht mehr aushalten konnte.
Als Hilfeschrei wandte ich mich mit einem ungeschickten Schreiben an unseren Basler Hauptsitz, in dem ich meinen Vorgesetzten quasi als unbrauchbar denunzierte. Meine Diagnose war zutreffend. Meine Art damit umzugehen jedoch dumm und naiv. Entsprechend ging der Schuss nach hinten los. Denn unsere armen Vorstände in Basel, die Empfänger meines Schreibens waren, hatten zu diesem Zeitpunkt Wichtigeres zu tun, als sich mit den Problemen eines jungen Managers in Hongkong zu beschäftigen. Sie erwarteten, dass ich dort meine Arbeit verrichtete. Nicht mehr und nicht weniger. Deshalb waren die ersten Rückmeldungen, die ich auf mein Schreiben erhielt, verheerend negativ. Ich fürchtete um meine berufliche Existenz und der Druck erhöhte sich. Noch dazu machte mich die Stadt Hongkong mit ihrer dreckigen Luft, in der es überhaupt keinen Auslauf und keinen Rückzugsort von den Menschenmassen zu geben schien, fast wahnsinnig. Auf einem meiner Besuche in Deutschland berichtete ich meinem Vater über den Vorfall mit meinem Vorgesetzten und den Stress, den die Situation bei mir auslöste. Ich sprach von meiner Angst, meine Stelle zu verlieren oder noch schlimmer, meinen Ruf zu ruinieren. Ich sah ihn über den Tisch hinweg an und erwartete ein paar aufmunternde Worte. Stattdessen machte mein Vater mir Vorwürfe. Ich wäre selber schuld, sagte er scharf. Ich sei zu schwach, um mit dieser von mir verbockten Situation richtig umzugehen. Mir wurde schwarz vor Augen. Es war, als ginge in meinem Kopf das Licht aus. Ich verlor kurz das Bewusstsein und fiel beim Abendessen vom Stuhl. Meine Eltern riefen den Notarzt. Der diagnostizierte eine Panikattacke, und nach ein paar Minuten hatte ich mich wieder erholt.
Am nächsten Morgen flog ich ziemlich zerstreut nach Hongkong zurück. Die nächsten beiden Wochen wurden zu einer nervenzerreißenden Hängepartie. Die Stadt kam mir plötzlich noch enger, verbauter und übervölkerter vor als zuvor. Die schlechte Luft verstärkte meine Platzangst und der Druck im Job erzeugte ein Gefühl, als würde ich auf schwankendem Grund laufen.
Die Spannung, ob ich nun meinen Job verlieren würde oder nicht, löste sich erst auf, als unangekündigt eine Delegation aus der Nachbarregion Singapur bei uns auftauchte. Sie wurde angeführt vom „neuen starken Mann“ in Asien. Den hatte man offenbar am Vortag, ohne dass es bisher offiziell verkündet worden war, zum Chef von Gesamtasien ernannt. Seine erste Amtshandlung war es, nach Hongkong zu reisen und meinen Chef, den älteren Herrn und bisherigen Leiter von Greater China zu entlassen. Ich fing mir an diesem Tag eine Rüge für mein Verhalten ein, die jedoch mit einem Augenzwinkern ausgesprochen wurde. Meine Lagebeurteilung war offenbar doch auf offene Ohren gestoßen. Das war auch der Grund, warum mich das Unternehmen nach meinen Fauxpas nicht fallen ließ. In der Folge bot man mir eine Beförderung und die Rückkehr in die komplett reorganisierte Basler Zentrale an, die ich dankbar annahm. Sehr zum Bedauern meiner Frau, die sich in Hongkong pudelwohl gefühlt hatte, packten wir nach siebzehn Monaten im Juni 1996 wieder unsere Siebensachen und kehrten nach Europa zurück.
Im Rückblick war dieses Hongkonger Abenteuer für mich eine der wichtigsten Lernerfahrungen meines Lebens. Ich gewann dadurch an Reife und Statur, was mich trotzdem nicht davor bewahrte, noch in etliche Fettnäpfchen zu treten. Im nächsten Karriereschritt konnte ich das in Hongkong gelernte jedoch voll ausspielen und es lagen sechs tolle und hochproduktive Jahre vor mir.