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ОглавлениеDie Strandmuschel
Südfrankreich im Sommer 2008. Familienurlaub. Meine Frau, meine drei Kinder (Alter 13, 11 und 7) und ich hatten für zwei Wochen ein wunderschönes Sommerhaus in den Weinbergen unweit des von uns geliebten Mittelmeers gemietet. Wir freuten uns auf Sonne, Schwimmen, Spaziergänge, gemütliche Frühstücke mit Baguette und Marmelade, leckere Abendessen mit frischem Gemüse, Fisch und Rotwein. Eine befreundete Familie begleitete uns, was angeregte Gespräche und zugleich tiefe Entspannung versprach. Der Rahmen war ideal und es sah so aus, als würde es ein wundervoller Urlaub.
Einziger Wehmutstropfen: da die Geschäftslage in diesem Sommer extrem angespannt war, würde ich als verantwortlicher Finanzchef nicht in der Lage sein, mich während des Urlaubs vollständig aus dem Geschäftsbetrieb auszuklinken. Ich war deshalb auf eine gute Kommunikationsverbindung angewiesen. Doch leider stellte ich bei der Ankunft im Ferienhaus fest, dass es im Haus kein W-LAN gab und auch die Mobilfunkverbindung hundsmiserabel war. Erschwerend kam hinzu, dass wir uns gerade in einem Verkaufsprozess befanden und dabei waren, eine stark verlustbringende Tochtergesellschaft abzustoßen. Ein erfolgreiches Abstoßen dieser Firma brächte eine beträchtliche Entlastung unserer angespannten Ertragslage. Ich war der Hauptverhandlungsführende und die Verkaufsgespräche waren kurz vor meinem Sommerurlaub in die heiße Phase übergegangen.
Ein Investor war extrem stark an der Übernahme interessiert. Meine Hoffnung, dass er sich mit dem Fortsetzen der Verkaufsverhandlungen bis zum Ende des Sommerlaubs gedulden würde, ging nicht auf. Er wollte weiterverhandeln.
Sofort. Am zweiten Tag meines Urlaubs rief er mich an: „Oliver, wir müssen uns unbedingt sehen. Dein Ferienhaus ist wenige Kilometer von einem kleinen Flughafen entfernt, wo ich mit meinem Privatjet landen kann. Passt dir morgen Mittag?“ Mist! Ich sah meinen Urlaub schwinden. Andererseits war es für die Verhandlungen von Vorteil, dass er es eilig hatte. Es wäre unverantwortlich von mir gewesen, wenn ich seinen Druck nicht zu unserem Vorteil zu nutzen versuchte. Deshalb entsprach ich seinem Wunsch auf ein kurzfristiges Treffen und sagte zu.
Während seines Anrufes waren wir gerade im Auto auf dem Weg zum Strand und meine Frau maulte leise, dass wir unsere Familienunterhaltung wieder einmal wegen eines eingehenden Geschäftsgespräches unterbrechen mussten. Als ich das Telefonat beendete, waren meine Gedanken schon nicht mehr bei der Familie, sondern bei der Frage, wie ich schnell an die nötigen Informationen kommen und wie ich am besten einen Kontakt zu Peter, unserem Chief Executive Officer (CEO), herstellen konnte. Denn zum Fortsetzen der Gespräche fehlten mir notwendige Unterlagen. Die hatte ich natürlich zu Hause gelassen. Ich hatte ja Urlaub. Außerdem musste ich vor dem Treffen einige Verhandlungspositionen noch mit unserem CEO Peter abstimmen. Der sich allerdings aktuell auf seiner Jacht in der Karibik befand. Ich würde vom Strand aus einige Telefonate führen müssen. Das alles bis zum morgigen Mittag zu schaffen würde knapp und erforderte, dass ich mich sofort an die Arbeit machte.
Den Strand erreichten wir nach 30 Minuten Autofahrt, währenddessen ich über die Lösung meiner Probleme nachdachte. Ohne dass ich es recht mitbekam, schleppten wir die gesamte Strandausrüstung bestehend aus Kühltasche, Sonnenschirm, Strandmuschel, Taucherbrillen, Spielsachen, Luftmatratze, Handtüchern und Leseutensilien zum Strand und richteten uns ein. Meine Frau schnappte sich ihr Buch. Die Kinder rannten Richtung Wasser, so gewann ich Zeit, um konzentriert meiner Arbeit nachgehen zu können.
Mein zuständiger Mitarbeiter, der mich mit den für das Investorengespräch fehlenden Informationen und Unterlagen versorgen konnte, war ebenfalls im Urlaub. Glücklicherweise erreichte ich ihn. Einige wichtige Punkte klärte ich mit ihm telefonisch. Die fehlenden Unterlagen versprach er mir abends zu mailen, wenn er Zugriff auf seinen Computer haben würde. Die Kontaktaufnahme mit dem CEO Peter gestaltete sich schwieriger. Erst einmal schrieb ich ihm von meinem Blackberry eine Mail, in der ich ihm kurz die Lage mitteilte. Da er sich mit seiner Jacht in einer anderen Zeitzone befand und sechs Stunden hinter meiner Zeit zurücklag, konnte er nicht sofort antworten. Nach drei Stunden bekam ich eine Antwort. Das Satellitentelefon auf seiner Jacht war ausgefallen und er somit telefonisch nicht erreichbar. Also blieb uns nur die Kommunikation über E-Mail. Das wurde kompliziert. Denn er war nicht wirklich im Thema und ein Fortsetzen der Verkaufsgespräche erforderte einige organisatorische Entscheidungen, die kurzfristig zu fällen waren. Sind wir z.B. grundsätzlich dazu bereit nach Verkauf des Unternehmens Leistungen des verkauften Unternehmens weiter für uns zu nutzen und wenn ja, für wie lange? Die Antwort auf diese und ähnliche Fragen hatte auf den Verkaufspreis starke Auswirkungen. Sie ließ sich jedoch nur unter Berücksichtigung anderer komplizierter innerbetrieblicher Verflechtungen beantworten, und um diese richtig beurteilen zu können, brauchte ich die Einschätzung des CEO. Zuvor jedoch musste ich ihn gezielt an diese Thematik heranführen. Das war schwierig. Darüber am Telefon zu sprechen, wäre der einzige vernünftige Weg gewesen.
Es per E-Mail zu machen war sehr aufwendig und erforderte das Verfassen eines langen Textes. Diesen auf der kleinen Tastatur des Blackberry anzufertigen war äußerst mühsam. Es war jedoch der einzige Weg. Also schickte ich die Familie und die Freunde zum Mittagessen, zog mich in die Strandmuschel zurück und begann zu tippen.
Es dauerte etwa eine Stunde, bis ich einen einigermaßen ausführlichen Text verfasst hatte. Kurz vor der Vollendung kam meine Familie vom Mittagessen zurück, die Kinder hüpften um meine Strandmuschel, die Freunde und meine Frau machten über meine Situation sarkastische Bemerkungen: „Eigentlich könnte er auch den ganzen Tag in der Unterkunft bleiben, vom Strand kriegt er eh nichts mit.“
Ich hörte von meiner Strandmuschel aus, wie mein jüngster Sohn erzählte, dass ich im letzten Skiurlaub selbst auf der Liftfahrt im Schlepplift eingehende E-Mails auf meinem Blackberry las und wir deshalb aus dem Lift gefallen seien. Lustig! Alle lachten. Ich hoffte, dass der CEO meinen Text erhalten und richtig verstanden hatte, so dass er mir eine qualifizierte Antwort geben konnte. Außerdem hatte ich Hunger und würde auch gerne mal eine Runde schwimmen. Also kroch ich aus meiner Strandmuschel und machte mich auf den Weg zum Wasser. Da klingelte mein Blackberry. Die Nummer war mir unbekannt. Ich nahm ab.
„Hi, this is Peter. I think I got the satellite phone to work. Let’s briefly talk about the transaction.”
Hurra! Ich fühlte mich direkt entspannter und setzte an, dem CEO den Sachverhalt zu erläutern. Ich lief zurück zur Strandmuschel, doch auf der anderen Seite wurde es seltsam still.
„Peter, Peter …. hello …. are you there ….?“
Nichts. Schweigen. Die Leitung war zusammengebrochen. Scheiße! Ich machte mich erneut auf den Weg zum Wasser. Das Telefon klingelte. Wieder Peter. Wir wechselten drei Worte. Ende. Die Leitung war tot. Dieses Drama wiederholte sich unter den belustigten Blicken meiner Freunde und den leicht gequälten Blicken meiner Frau noch viermal. Eine weitere Stunde verstrich. Mein Magen knurrte mittlerweile deutlich und mein Stresslevel stieg. Die Kinder quengelten, die Frau murrte, die Freunde machten sich lustig. Irgendwann hatte ich die Schnauze gestrichen voll.
„Scheiß Urlaub!“, rief ich, obwohl der Urlaub ja nichts dafür konnte.
Ich fühlte mich gelähmt und von den Ansprüchen der anderen erdrückt. Um meinen Hunger zu stillen, kramte ich ein paar Stücke geschmolzener Schokolade aus der mittlerweile nicht mehr kühlenden Kühltasche und verschlang sie hastig. Ich verbrachte noch eine weitere Stunde auf meinen Blackberry starrend in der Strandmuschel, bevor wir zusammenpackten und in unser Ferienhaus zurückfuhren.
Kaum angekommen hechtete ich die Treppe hoch in den ersten Stock, um ungestört im Schlafzimmer arbeiten zu können. Ich hoffte inständig, dass das Mobilfunknetz heute Nachmittag stark genug sein würde, um das Herunterladen der Unterlagen meines Mitarbeiters zu ermöglichen. Das Herunterladen einer 8 MB Datei sollte laut meines Telefons etwa 45 Minuten dauern. Ich sah schwarz. Doch im zweiten Anlauf klappte es tatsächlich. Meine Frau erschien plötzlich im Schlafzimmer – ich hatte sie gar nicht reinkommen hören - und fragte, ob ich den Freunden nicht beim Einkaufen helfen wolle. Ok. Nachdem ich einen kleinen Teilerfolg erzielt hatte, konnte ich ja wenigstens mal einkaufen. Eine Antwort von Peter auf meine E-Mail von heute Vormittag stand allerdings noch aus. Nachdem sein Satellitentelefon ausgefallen war, ging jetzt wahrscheinlich seine Internetverbindung auch nicht mehr. Also würde ich das Gespräch mit dem Investor eben ohne vorherige Absprache mit Peter führen müssen. Such is life.
Dieser Tag war der Auftakt zu einem Drama, das sich durch den gesamten Urlaub ziehen sollte. Nachdem der Investor am nächsten Tag mit seinem Jet in der Nähe unseres Feriendomizils gelandet war, wurde ich ihn für den Rest der Zeit nicht mehr los. Es half nichts. Das Eisen war heiß. Ich musste den Verkauf trotz der miserablen Arbeitsbedingungen weiter vorantreiben. Ich tätigte Telefonanrufe und Telefonkonferenzen, versandt Dateien und Unmengen von Mails aus der Strandmuschel, dem Auto oder dem Schlafzimmer unseres Ferienhauses. Ab und zu und meistens zur Unzeit meldete sich Peter aus der Karibik. Wir hangelten uns kommunikativ von einem unterbrochenen Telefonat zum nächsten. Es war die Hölle. Für mich und für meine Mitreisenden. Ein Scheiß-Urlaub, den ich schwor in dieser Form nie mehr zu wiederholen. Hoch und heilig. Doch um dem Elend die Krone aufzusetzen, telefonierte ich zu lange und wir brachen etwas später als geplant zum Bahnhof auf. Die 20 km lange Strecke ließ sich im Normalfall in zwanzig Minuten bewältigen. Doch am Samstag unserer Rückreise dauerte sie eineinhalb Stunden. Es war An- und Abreisetag in Südfrankreich. Der Verkehr auf Autobahn und Landstraße kam in beiden Richtungen zum Erliegen und wir verpassten bei der Rückreise unseren Auto-Reisezug um 5 Minuten.
Glücklicherweise konnten wir auf einen Ersatzzug der französischen Staatsbahnen ausweichen. Denn zu Hause warteten meine Eltern, die sich in unserer Abwesenheit dankenswerterweise um unser Haus gekümmert hatten. Ich freute mich, endlich nach Hause zu kommen und meine Eltern zu sehen. Doch zur Begrüßung schmetterten sie mir ein entsetztes:
„Wie siehst du denn aus?“ entgegen.
Schweigend stellte ich die Taschen und Koffer ab.
„Du siehst ja miserabel aus. Hast du dich denn gar nicht erholt?“
Nein! Hatte ich nicht. Und das Letzte, was ich nach diesem „Urlaub“ und der Nacht im Zug brauchte, war eine Erinnerung daran, mit was ich meine Zeit zugebracht hatte. Zumal der Hinweis auf mein erschöpftes Aussehen während des gesamten letzten Jahres zu einer Standardfloskel in der Begrüßung meiner Eltern geworden war. Der Hinweis versetzte mich jedes Mal in Hilflosigkeit und löste zunehmende Stressgefühle aus. Wie sollte ich darauf reagieren?
Haltet die Klappe, konnte ich ja schlecht sagen. Denn meine Eltern hatten im Prinzip ja Recht. Ich fühlte mich zunehmend erschöpft und ausgebrannt und das sah man mir auch an. Meine Haut war fahl, die grauen Haare mehrten sich. Es half mir aber auch nicht, wenn meine Eltern mich darauf vorwurfsvoll hinwiesen. Am liebsten hätte ich sie angeblafft, dass sie das nichts anginge. Aber sie meinten es ja gut. Außerdem wäre ein Anblaffen meinerseits ein Zeichen von Schwäche, mit dem ich zugeben würde, dass es sich tatsächlich so verhielt. Diese Blöße wollte ich mir nicht geben. Also ließ ich es auf sich beruhen, obwohl ich innerlich kochte.
Jedoch gab es aus dieser unerträglichen Situation kein Entrinnen. Am Montag früh saß ich wieder in meinem Büro. Das Ergebnis des letzten Monats war erbärmlich, noch deutlich schlechter als wir es in der ohnehin schon dürftigen Prognose vorhergesehen hatten. Verantwortlich für diese Fehlprognose war der Finanzchef: ich! Nun musste ich mich erklären, mich rechtfertigen. Das stank mir. Denn in den höheren Instanzen interessierte es niemanden, wie ich mit meinen Kollegen um die Ergebnisprognose gerungen hatte, wie ich am Ende klein beigeben musste, obwohl ich die Lage pessimistischer gesehen hatte und mir obendrein unsere gesamte Strategie missfiel. Gleichzeitig musste ich den Verkauf unserer Tochtergesellschaft weiter voranbringen. Zudem war die Prognose für das nächste Quartal bald fällig, Mitarbeiterbeurteilungsgespräche standen an und die Budgetierung wartete darauf angegangen zu werden, außerdem würde die nächste Geschäftsführungssitzung in der kommenden Woche schon in Mexico City stattfinden. Das war mir alles zu viel.
Doch was sollte ich tun? Ich machte weiter und wählte die Nummer von Peter, dem CEO. War er eigentlich immer noch in der Karibik auf seiner Jacht? Keiner wusste es. Anrufe sowohl auf sein Satellitentelefon wie auch auf sein reguläres Mobiltelefon verliefen erfolglos. Also lud ich meinen Frust in einer längeren Telefonnachricht ab. Meinen angespannten Zustand konnte das jedoch nicht lindern. Es war einfach alles zum Kotzen. Das ging nicht mehr so weiter.
Wie war ich in dieses Elend hereingeraten? Und noch viel wichtiger: Wie kam ich da wieder raus? Es war mir sonnenklar, dass sowohl der Zustand unseres Geschäftsbereichs als auch mein persönlicher Zustand vollkommen unhaltbar geworden waren. Ich war unglücklich, ausgelaugt und sah überhaupt keinen Weg mehr, wie ich irgendetwas an diesem Zustand würde ändern können.