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Kindheit und Jugend

Ich wurde am 3. Dezember 1965 in, wie man so sagt, die gut geregelten Verhältnisse einer ordentlichen Familie hineingeboren. Mein Vater war Jurist, Beamter bei der Deutschen Bundesbahn und über viele Jahre Geschäftsführer von Bahn-Tochtergesellschaften. Meine Mutter war ebenfalls Beamtin. Sie hatte ein halbes Deputat als Grundschullehrerin und umsorgte als Mutter und Hausfrau meinen Vater, meinen drei Jahre jüngeren Bruder und mich. Wie es von mir erwartet wurde, besuchte ich das Gymnasium und alles lief, wenn man so will, nach Plan. Doch schon bald taten sich Diskrepanzen auf zwischen dem, was ich tun sollte und tun wollte.

Weniger nett und höflich ausgedrückt: Ich hasste die Schule. Stundenlang sitzen, zuhören, mitschreiben und Sachverhalte in Denkmustern anderer Menschen nachvollziehen, das alles war mir ein absoluter Graus. Vom Sitzen auf unbequemen Stühlen schmerzte mir der Hintern und der Rücken. Über einen Zeitraum von 6-8 Schulstunden täglich hielt ich so eine Tortur nur aus, indem ich mein Gehirn abschaltete und in eine Traumwelt entfloh. Oder ich quasselte mit meinem Banknachbarn oder haute ab und zu einen dummen Spruch raus, um den lahmen Unterricht etwas aufzumischen. Beliebt machte ich mich bei den Lehrern mit einem derartigen Verhalten nicht. Vor allem unsichere Lehrer fassten das Verhalten, wie ich es an den Tag legte, als persönliche Beleidigung oder als Angriff auf.

Meine Biologielehrerin teilte meinen Eltern bei einem Elternabend ganz aufgeregt mit, dass ich so desinteressiert an ihrem Fach sei und noch nicht einmal ein Heft führen würde. Ich mochte die Lehrerin zwar nicht besonders, interessant fand ich Biologie trotzdem. Deshalb führte ich sogar ein sehr ordentliches Heft – allerdings nur für mich. Ich stand auf dem eigensinnigen Standpunkt, dass die Lehrerin das nichts anging. Als meine Eltern vom Elternabend nach Hause kamen, weckten sie mich aufgeregt, um den Sachverhalt mit dem Heft zu überprüfen. Total verpennt zeigte ich ihnen mein Heft und durfte in Ruhe weiterschlafen. Wahrscheinlich gaben sie der Lehrerin die Schuld, jedenfalls sprachen wir nie über den Vorfall. Ein anderes Mal hatte ich mit einem Religionslehrer einen Streit, ob Jesus tatsächlich zu Fuß über Wasser gegangen war. Der Lehrer beharrte darauf, was mich maßlos ärgerte. Ich hielt es für ein absolutes Unding, dass Lehrer in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts noch derart altmodische und aus meiner Sicht vollkommen sinnlose Bibelauslegungen vertraten und noch nicht einmal Diskussionen darüber zuließen. Mit all meiner jugendlichen Energie wollte ich das ändern und ging den Lehrer rüde an. Da er nicht nachgeben wollte, verweigerte ich die weitere Teilnahme am Unterricht. Zum Halbjahr gab er mir deshalb eine Fünf auf dem Zeugnis. Es lag gar nicht im Rahmen meiner Möglichkeiten seine Einstellung aufzuweichen, doch aufgeben kam für mich auch nicht in Frage, daher rief ich ihn zu Hause an. Ich teilte ihm mit, dass ich aus dem Religionsunterricht austräte, wenn er die Fünf nicht in eine Vier umwandelte. Darauf ließ er sich nicht ein. Also trat ich aus.

Derartige Konfrontationen mit Lehrern wiederholten sich in verschiedenen Formen und unterschiedlich starken Ausprägungen in jedem Schuljahr bis zu meinem Abitur zwei oder dreimal. Ich verstand nicht so recht, was los war, sowohl mit der Schule, als auch mit mir. Ich arbeitete gründlich und war diszipliniert, interessierte mich für viele Dinge und setzte mich mit hoher Energie für sie ein. Trotzdem eckte ich immer wieder an. Ich fühlte mich auf eine sehr unangenehme Weise unzulänglich. Ich verstand nicht, warum mir die Anerkennung und das Lob verwehrt blieben. Ich war durchaus in der Lage mich „auf den Hosenboden zu setzen“, doch irgendwie schienen meine Bemühungen nie so recht den Geschmack der Lehrer und meines Umfelds zu treffen, was mir auch entsprechend zurückgespiegelt wurde. Es war ein permanenter Kampf zwischen meinen Ideen und der Realität, der sich auf mehr oder minder starke Weise durch mein ganzes Leben ziehen sollte.

Ich suchte nach Anerkennung. Dabei war mir jedoch jede Art von Dünkelhaftigkeit, Falschheit, Protzerei und Oberflächlichkeit zutiefst verhasst. Ich wollte mit wahrer Substanz glänzen. Alles andere war mir zu billig.

Die Helden meiner Jugend waren unser Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt und der Abenteurer Rüdiger Nehberg. An Schmidt schätzte ich die Präzision und Klarheit seines Denkens, seiner Sprache und seiner Handlungen. Ich mochte die Effizienz, mit der er den politischen Prozess managte, sein offenkundiges Interesse am Detail, sein Pflichtbewusstsein und die totale Hingabe an seine Aufgabe. Außerdem teilte ich weitestgehend seine politischen Auffassungen. Rüdiger Nehberg war mein größtes Idol. In meinen Augen war er der lebende Beweis einer eigenständigen Lebensführung. Der ehemalige Bäckermeister Nehberg wurde für mich zu einem Symbol, das zeigte, wie man das Geschenk der Freiheit ideal nutzen kann. Jemand, der nach seinen eigenen Regeln lebt, der stark ist und sich gegen die Widrigkeiten der Realität zur Wehr zur setzen weiß.

Die literarische Kombination aus Schmidt und Nehberg entdeckte ich in der Figur des amerikanischen Privatdetektivs Phillip Marlowe. Dieser vom Autor Raymond Chandler geschaffene Charakter löste seine Fälle im Los Angeles der 30er, 40er und frühen 50er Jahre des letzten Jahrhunderts. Er war dabei stets mit einer hoch korrupten Umwelt konfrontiert, der er kompromisslos und unter Anwendung moralischer Prinzipien widerstand. Er war ein Wahrheits- und Gerechtigkeitssuchender, was ihm oftmals Nachteile einbrachte. Entsprechend war er chronisch knapp bei Kasse und musste einiges an Schlägen einstecken. Dennoch ging er unbeugsam seinen einsamen Weg, und wenn er einen Fall aufklärte, feierte er dies alleine bei einem Glas Bourbon und einer Schachparty gegen sich selbst.

Sieht man vom heute nicht mehr zeitgemäßen Alkohol- und Nikotinkonsum ab, war es in der Jugend mein Ziel, so jemand wie Phillip Marlowe zu sein. Jemand der unbestechlich und unbeugsam für Wahrheit, Gerechtigkeit und Vernunft eintritt. Jemand, der sich nicht von Konsum, Prunk und Protz blenden lässt, sondern sich bescheiden, asketisch und fleißig seiner Arbeit widmet und damit hochklassige Ergebnisse abliefert. So und nicht anders wollte ich sein und leben.

Partys, Small Talk, Klamotten kaufen, Spaßreisen an den Ballermann waren mir ein Greuel. Dadurch machte ich mich zum Außenseiter. Fasziniert las ich das Buch „Der Fänger im Roggen“ von J. D. Salinger. Ich erkannte viele Parallelen zum Helden der Geschichte Holden Caulfield, der mit dem elitären, oberflächlichen Gehabe seiner Umwelt im New York der 40er Jahre hadert, an ihr verzweifelt und letztlich in der psychiatrischen Anstalt landet. Caulfield ist Sohn eines erfolgreichen New Yorker Anwalts. Szenen aus seinem Familienleben erinnerten mich an einige Freunde meiner Eltern, die sich als Teil der gesellschaftlichen Elite wähnten. Der diesen Dünkel ausdrückende Spruch: „Nicht jeder kann zur Elite gehören“, brachte mich innerlich zum Kochen. Was sollte dieser Quatsch? Was außer einem abgeschlossenen akademischen Studium und der Ausübung eines regulären bürgerlichen Berufes war an den Bekannten meiner Eltern denn bitte schön „Elite“?

Als solche konnte sich damals allenfalls ein Helmut Schmidt oder ein Rüdiger Nehberg bezeichnen, die nach meiner Wahrnehmung tatsächlich Herausragendes leisteten, anderen Menschen halfen und gleichzeitig persönliches Risiko eingingen. Jedoch hatten beide schlichtweg zu viel zu tun, um sich arrogant über andere Menschen zu erheben.

An den Idealen, die ich meinen Idolen zuschrieb, beurteilte ich mein eigenes Handeln. Was ich damals nicht erkannte, war, wie viel Übung, Ausdauer und Kraft es bedarf, um ein Niveau zu erreichen, das auch nur annähernd an meine Ideale heranreichte. Diesen Idealen näherzukommen, ist eine Lebensaufgabe, die keine Abkürzungen zulässt. Ja, die das Nehmen von Abkürzungen sogar drakonisch bestraft, wie ich auf meinem Lebensweg immer wieder schmerzlich feststellen sollte.

In den Ferien war ich zumeist auf Reisen. Oftmals mit meiner Familie und ab der Mittelstufe auch alleine im europäischen Ausland. Das machte mir eine riesige Freude. Mein Vater war sehr erpicht drauf, dass mein Bruder und ich während der Schulzeit gut Englisch und Französisch lernten. Deshalb verbrachten wir viele Wochen bei befreundeten Familien in England, Frankreich und später auch in den USA. In der Schule organisierte ich jedes Jahr ein Schulturnier in Handball, Basketball oder einer anderen Sportart, Skifahrten oder Kuchenverkäufe und in der elften Klasse wurde ich zum Schülersprecher gewählt. Ich war also alles andere als desinteressiert, und doch passte meine Art des Engagements nicht zu den Regeln der Schule. Ich erledigte die Dinge nach dem Prinzip Ganz- oder-gar-nicht und das war nicht das, was in der Schule gut ankam. Ich über,- oder unterschritt das Maß. Dass eine Abweichung von der Norm einen Schüler im System Schule zum Außenseiter macht, verstand ich damals allerdings noch nicht.

Zu lernen, wie man lernen sollte, langweilte mich. Beim Lernen bevorzugte ich mein eigenes Tempo und meine eigenen Themen. Ich interessierte mich für Politik und Geschichte und dabei am meisten für die Beziehungen zwischen Menschen und deren Machtkämpfe. Durch die Beschäftigung mit dieser Thematik und aufgrund meines eigenen ausgeprägten Freiheitsbedürfnisses entwickelte ich eine Leidenschaft für die Ideen der Aufklärung und für unsere freiheitlich demokratische Gesellschaftsordnung. Ich wurde zunehmend ein großer Fan der USA. Sie verkörperten nach meiner Einschätzung die immense Kraft, die eine freiheitliche Gesellschaft entfalteten kann. Nichts symbolisierte für mich diese Kraft mehr als die enorme Skyline von Manhattan, mit deren Bild ich mir eine ganze Wand meines Zimmers tapezierte. Genau wie das Lernen betrieb ich auch Sport in meinem Tempo. Ich turnte und spielte Tennis. Außerdem fuhr ich recht gut und gerne Ski. In keiner Sportart brachte ich es jedoch zu großer Klasse. Deshalb war ich kein begeisterter Wettkämpfer. Ich hatte keine Lust mich mit anderen zu messen, wenn meine Chancen auf einen Sieg oder eine herausragende Leistung gering waren.

Ich rebellierte nicht offen und lautstark gegen die Systeme Schule, Verein oder Elternhaus, sondern suchte immer wieder nach Wegen abseits von denen, auf denen die meisten anderen Menschen sich bewegten, um der Konkurrenz und den allgemeingültigen Bewertungskriterien ein Schnippchen zu schlagen. Viel lieber, als mich regulär in Sportvereinen zu betätigen, erschuf ich meine eigenen Sportstätten und Geräte. Im Grundschulalter baute ich meine eigenen Turngeräte, mit elf eine Skateboard-Rampe und später einen Tennisplatz und einen Basketball-Court auf dem Hof vor unserem Haus. Mit fünfzehn Jahren entdeckte ich das Rennradfahren für mich. Das Rennradfahren ist die schnellste Form, sich aus eigener Körperkraft fortzubewegen. Ein Rennrad ist ein fortschrittliches und ästhetisches High-Tech-Gerät. Ich empfand es als enorm erholsam, mit dem Rennrad in meinem eigenen Tempo die Umgebung zu erkunden, dabei meine Gedanken schweifen zu lassen, nachzudenken und zu träumen. Das Rennradfahren wurde zu einem meiner Lieblingshobbies, dem ich nach wie vor sehr gerne nachgehe.

Die Kombination aus Reiselust, Freude am Rennradfahren und meiner Begeisterung für die USA brachten in mir den Wunsch hervor, die USA mit dem Fahrrad von Küste zu Küste zu durchqueren. Diesen Plan schmiedete ich mit siebzehn und mit jedem Jahr, das verstrich, ohne, dass ich den Plan umsetzen konnte, symbolisierte er mehr und mehr für mich den zentralen Akt meiner Befreiung aus Sachzwängen und den Beginn eines selbstbestimmten Lebens. Es sollte dann allerdings noch bis zu meinem 44. Lebensjahr dauern, bis ich endlich in der Lage war, diese Idee Wirklichkeit werden zu lassen.

Trotz meiner Abneigung gegen den Schulbetrieb machte ich ein einigermaßen gutes Abitur. Dies war dem Umstand geschuldet, dass ich im letzten Jahr beim Erblicken des Endes des Schultunnels aufs Gas drückte und mich eifrig auf die Abiturprüfungen vorbereitete. Das Lernen (oder besser gesagt: Nachplappern) von vorgefertigten Dingen, die mich nicht besonders interessierten, fiel mir zwar schwer und ich lehnte es mit vollen Herzen ab, doch ich sah ein, dass Rebellion hier nur zum Schulversagen führen würde. Ich biss mich durch und begann, mich gründlich mit meiner Zeit nach der Schule zu beschäftigen.

Was wollte ich tun? Welche Ausbildung passte zu mir? Ein besonderes Talent konnten weder ich noch Außenstehende bei mir entdecken. Nach objektiven Kriterien, wie sie zu meiner Jugendzeit definiert wurden, war ich zutiefst durchschnittlich. Das Gefühl in einen Durchschnitt gepresst worden zu sein, der mir gar nicht entsprach, erzeugte bei mir Leidensdruck. Ich hasste dieses Gefühl. Denn so wollte ich auf keinen Fall sein. Das Gute an diesem Leidensdruck war allerdings, dass er mich auf Trab hielt. Er zwang mich zu Sorgfalt und einem planvollen Vorgehen, wenn ich nicht völlig in der Bedeutungslosigkeit versinken wollte.

Vor allem meinem Vater war mein Hang zum Non-Konformismus immer etwas unheimlich. Als Reaktion auf meine Ideen und meinen Eigensinn hatte er einen Standard-Spruch parat: „Jetzt hör mal auf zu spinnen.“ Auf lange Gespräche über Lebensträume mochte er sich als Kriegskind, das er gewesen war, nicht einlassen. Als Kind hatte er 1945 eine grauenvolle Flucht von Schlesien ins Rheinland erlebt und seine Eltern hatten beide Weltkriege durchlitten und zweimal alles verloren. Stabilität und Sicherheit standen an erster Stelle. Für seine Söhne schwebte ihm vor, dass sie, wie er selber auch, studieren, eine Familie gründen und einen Beruf mit Pensionsregelung ergreifen sollten. Selbstverwirklichung war gefährlich und in diesem Zusammenhang quasi ein Schimpfwort.

Am 21. Mai 1985 hatte ich mein Abitur in der Tasche und realisierte, nie wieder in die Schule zurückkehren zu müssen. Schulfreunde und ich gingen in unsere Stammkneipe und mit dem ersten Bier stellte sich bei mir ein fantastisches Gefühl völliger Entspannung und Befreiung ein, wie ich es zuvor noch nie empfunden hatte. Am nächsten Tag packte ich meine Satteltaschen und machte mich mit einem Freund per Zug und Schiff auf den Weg nach Dublin, von wo aus wir den Süden von Irland mit dem Fahrrad erkunden wollten. Leider kam diese Reise auf dem Ring of Dingle vorzeitig zu einem unvorhergesehenen Ende, weil eine Herde Kühe unsere Räder zertrampelte. Die hatten wir, um sie vor einem Sturm zu schützen, in einem Kuhstall abgestellt, den wir unbenutzt wähnten. Dies war ein Irrtum, und die Kühe, die wir am Abend nicht gesehen hatten, suchten in dieser Nacht ebenfalls vor dem Sturm in ihrem Stall Schutz. So kehrten wir vorzeitig nach Deutschland zurück.

Ein akademisches Studium an einer Universität schied für mich zunächst aus, denn ich verspürte keine Lust, die Erfahrung, die ich in der Schule gemacht hatte, zu wiederholen. Ich hatte mir einige Probevorlesungen an Universitäten angehört, nur Bahnhof verstanden und mich zu Tode gelangweilt. Mein Vater war im Güterverkehr der europäischen Bahnen tätig. Viele seiner in- und ausländischen Kollegen und Geschäftspartner waren bei uns zu Hause zu Besuch. Ich fand die Gespräche spannend. Verhandeln, durchrechnen, Geschäfte abschließen, Projekte umsetzen, Investitionen tätigen und Mitarbeiter führen schienen alles aufregende Tätigkeiten zu sein. Das Gütertransportgewerbe war in meiner Vorstellung aktionsreich, international und wenig abstrakt. All das waren Dinge, die ich immer schon mochte und die mir lagen.

In der zweiten Hälfte der 80er Jahre entstand das Konzept des dualen Studiums, d.h. eines Diplom-Studiums in Kombination mit einer praktischen Ausbildung in einem Unternehmen. Dieses wurde in Baden-Württemberg von sogenannten Berufsakademien angeboten, die heute „Duale Hochschulen“ heißen. Der Zufall wollte es, dass an meinem Wohnort in Lörrach an der Schweizer Grenze eine derartige Berufsakademie entstanden war, die auch ein Betriebswirtschaftsstudium mit Schwerpunkt „Transport, Logistik und Spedition“ anbot. Ich hatte das Gefühl, dass die Verbindung von praktischer Ausbildung und Studium das richtige für mich war. Da mein Vater gute Beziehungen zu den marktführenden Speditionsunternehmen hatte, erhielt ich einen Ausbildungsplatz in der Freiburger Geschäftsstelle des damals größten deutschen Speditionsunternehmens. Die Ausbildungszeit an der Berufsakademie und vor allem die praktische Ausbildung im Unternehmen war für mich eine fantastische und in vielerlei Beziehung lebensprägende Zeit. Sie verschaffte mir signifikante Entwicklungssprünge und zum ersten Mal im Leben das Gefühl, einen wirklich nützlichen Beitrag leisten zu können. Mein Ehrgeiz und meine Leistungsbereitschaft fielen hier nicht wie in der Schule unangenehm auf, sondern wurden anerkannt und gelobt.

Während der Ausbildungszeit durchlief ich alle Speditionsabteilungen, nationale und internationale Landverkehre, die Rollfuhr (das Abholen u. Zustellen von Sendungen per LKW), Seefracht, Luftfracht, Verkauf und Buchhaltung. Oftmals mussten bzw. durften wir für ausgefallene Sachbearbeiter einspringen. Ich genoss es, Kunden am Telefon zu bedienen. Ich genoss die Dynamik des Geschäfts. Häufig meldeten sich Kunden in Notsituationen, die um eine schnelle flexible Lösung baten. Diese Situationen erforderten Improvisation. Außerdem ließ sich mit solchen Fällen viel Geld verdienen. Einmal kam ein Schiff aus Hongkong aufgrund eines Sturms verspätet in Hamburg an. In der Ladung waren Aufkleber für die Ostersonderausgabe eines Comicheftes, das in Barcelona gedruckt wurde. Damit die Aufkleber noch rechtzeitig ankamen, übernahm ich kurzerhand selber den Transport der Aufkleber nach Barcelona.

Ein anderes Mal musste ein Maschinenteil dringend an eine Fabrik in Angers im Loire- Tal geliefert werden, weil sonst Produktionsausfall drohte. Wieder übernahm ich kurzerhand die Fahrt, nachdem ich mit dem Kunden dafür einen exorbitanten Preis ausgehandelt hatte. Es war der profitabelste Auftrag der Geschäftsstelle in diesem Geschäftsjahr. Diesmal begleitete mich mein Bruder auf der Fahrt und wir wechselten uns während der Nacht beim Fahren des Lieferwagens ab. Zum Schlafen hatten wir im Frachtraum eine Iso-Matte neben dem Maschinenteil ausgerollt, auf der wir uns in unserem Schlafsack immer wieder für einige Stunden ausruhten. Diese Tour machte uns riesigen Spaß, sie hatte weniger mit Arbeit als mit Abenteuer zu tun.

Es machte mir nichts aus, über den normalerweise üblichen Einsatz hinaus etwas zu leisten und mich einzubringen. Im Gegenteil, es machte mir ein gutes Gefühl. Denn genau diese Art des hohen Engagements entsprach meinem Wesen. Ich hatte Freude an der Arbeit und diese Freude wiederum steigerte meine Motivation im Studium. Gegen Ende war ich ein guter Student. Die Hausarbeiten, die ich während des Studiums anfertigte, lehrten mich mehr über schriftlichen Ausdruck und den Umgang mit der deutschen Sprache, als ich es während meiner gesamten Schulzeit gelernt hatte. Meinem Selbstbewusstsein war diese Ausbildung stark zuträglich. Und: Ich hatte nach den drei Jahren eine abgeschlossene Berufsausbildung, was sowohl für mich, aber auch für meine Eltern ein gutes Gefühl war.

So gut mir die praktische Ausbildung während der drei Jahre auch gefallen hatte, bestand für mich kein Zweifel daran, dass die Arbeit in einer Speditionsgeschäftsstelle auf lange Sicht nichts für mich war.

Und das hatte mehrere Gründe. Ich kam aus einem anderen sozialen Umfeld als meine Kollegen und Vorgesetzten in der Geschäftsstelle. Keiner von ihnen hatte studiert. Sie kamen alle aus Freiburg bzw. der unmittelbaren Umgebung, sprachen den lokalen Dialekt und gingen fest davon aus, dieses Leben in unveränderter Form bis ans Ende ihrer Tage so fortzusetzen.

Ich hingegen war ein junger Mann auf der Durchreise. Ich wollte international arbeiten und gestalten. Viele Dinge, die ich während meiner drei Ausbildungsjahre beobachtete, bedurften meines Erachtens dringender Verbesserungen. Häufig kam es z.B. vor, dass neugewonnene Kunden nach kurzer Zeit wieder verloren gingen. Grund hierfür waren in vielen Fällen Servicemängel, die sich relativ einfach hätten vermeiden lassen. Es hätte lediglich einer höheren Sorgfalt des Personals bzw. etwas intelligenterer und vorausschauender Führung des Managements bedurft. Das Management dachte jedoch nicht in Prozessen und war mehr mit der Bewältigung von Krisen als der Planung einer besseren Zukunft beschäftigt. Das Personal bestand zudem vielfach aus billigen Hilfskräften anstatt aus loyalen, sorgfältig arbeitenden Langzeitbeschäftigten. Es gab viel zu viele Personalwechsel und immer wiederkehrende Krisen, die niemals richtig aufgearbeitet wurden. Außerdem war der Einsatz der Informationstechnologie nach meinem Dafürhalten ungenügend. Ich betreute zum Beispiel eine Zeitlang den nationalen Bahnverkehr. Den gesamten Prozess hierfür musste ich vollkommen manuell ausführen, d.h. ich musste für jeden Auftrag eine physische Akte anlegen. Den Speditionsauftrag und den Bahnfrachtbrief füllte ich mit einer mechanischen Schreibmaschine aus. Zur Rechnungsstellung musste ich auf die Eingangsrechnung der Bahn warten. Die Kundenrechnung tippte ich am Ende des Monats ebenfalls mit der mechanischen Schreibmaschine. Zuletzt musste ich den abgerechneten Umsatz, die für den Transportauftrag angefallenen Kosten und den sich daraus ergebenden Bruttonutzen auf die Akte schreiben und diese zur Weiterverarbeitung an die Buchhaltung geben. Selbst Ende der achtziger Jahre war dies ein vollkommen veralteter und unproduktiver Prozess. Alles in allem sah ich in diesem Unternehmen und der Speditionsbranche insgesamt ein riesiges Verbesserungspotential.

Es irritierte und frustrierte mich, dass keiner meiner Kollegen und Vorgesetzten meine Meinung teilte. Sie empfanden die Verhältnisse, die sie vorfanden, als vollkommen normal und hatten lediglich das Ansinnen, sich so gut sie konnten darin durchzuwursteln. Ich aber wollte mein Leben weder untätig und abwartend, noch als ewiger aber unwirksamer Kritiker verbringen. Deshalb entschloss ich mich, die Universität aufzusuchen und meiner Ausbildung einen umfassenden theoretischen Background zu geben.

Zur Auswahl der Universität reiste ich eine Woche durch Bayern und schaute mir diverse Universitäten an. Am Ende entschied ich mich für die damals relativ neue Universität in Passau, weil diese meine bevorzugte Fächerkombination aus Unternehmensrechnung und Steuern anbot und außerdem eine sehr gute Fremdsprachenausbildung im Angebot hatte, von der ich zusätzlich zum Studium profitieren wollte. Den Elan meiner abgeschlossenen Berufsausbildung nahm ich mit ins Studium. Er hielt etwa 6 Monate an.

Dann nahm mich das System des Studienbetriebs in Gefangenschaft. Ich fühlte mich in meine Schulzeit zurückversetzt. Plötzlich musste ich wieder Sitzen, Zuhören, abstrakte Inhalte, fehlenden praktischen Bezug und dünkelhafte Professoren ertragen, die vorgaben die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben. Viel Beschäftigung mit heißer Luft wie z.B. Kurvendiskussionen über Konjunkturzyklen.

Ich schleppte mich dennoch bis zum Ende durch. Um mich etwas aufzuheitern und mir Inspiration und Abwechslung zu verschaffen, verlängerte ich das Studium um ein Semester und machte ein längeres Praktikum in den USA. Weil ich zu der Zeit erwog, den Beruf des Wirtschaftsprüfers / Steuerberaters anzustreben, führte ich das Praktikum bei ‚Deloitte and Touche‘, einem der weltweit größten Wirtschaftsprüfungsunternehmen in Philadelphia durch. Die Arbeit dort war allerdings an Langeweile nicht zu überbieten. Ich konnte es mir unmöglich vorstellen, meine Berufsjahre damit zu verbringen, den ganzen Tag Zahlenkolonnen auf endlosen Listen durchzugehen und abzuhaken. Nach dreißig Minuten solcher Arbeit fielen mir die Augen zu. Entsprechend schlecht fiel mein Arbeitszeugnis aus, womit meine „Karriere“ als Wirtschaftsprüfer zu Ende war. Ein Gutes hatte meine Zeit in den USA aber dennoch. Während des Praktikums hatte ich Catherine kennengelernt. Sie stammte aus Mercerville, New Jersey und war Leiterin eines Prüfungsteams, dem ich zugeteilt wurde. Mir gefielen ihr Humor, ihre gelassene Art und ihre Bereitschaft, sich mit mir auf lange Gespräche einzulassen. Sie war sehr belesen und hatte große Teile der Welt bereist. Wir hatten während der Zeit meines Praktikums viel Spaß zusammen und verliebten uns ineinander.

Die gute Zeit auf dem Campus der Universität von Pennsylvania lud mich mit ausreichend Energie auf, um nach der Rückkehr das letzte Jahr meines Universitätsstudiums hinter mich zu bringen. Im Juni 1992 besuchte mich Catherine für mehrere Monate in Deutschland. Sie hatte ihren Job bei ‚Deloitte and Touche‘ aufgegeben und ein MBA-Studium an der Georgetown Universität in Washington DC angefangen. Dort hatte sie begonnen, die deutsche Sprache zu erlernen. Im Sommer / Herbst 1992 verschlug sie ein Austauschsemester in die Nähe von Koblenz und wir konnten uns oft sehen und unsere Beziehung vertiefte sich. Ich hatte die Frau fürs Leben gefunden. Wir heirateten im Dezember 1992. Fehlte nur noch der passende Beruf.

Ich entschied mich für eine Rückkehr ins Transportgewerbe. Da herrschte Action und es gab Gestaltungsmöglichkeiten. Außerdem bestand dort, wie ich während meiner praktischen Ausbildungszeit erkennen durfte, ein großes Verbesserungspotential. Die Jobsuche gestaltete sich relativ einfach. Ein marktführender Speditionskonzern in der Schweiz suchte händeringend nach jungen Menschen mit meinem Profil für den Aufbau eines modernen Konzernrechnungswesen und Controlling. Dieses Anforderungsprofil entsprach haargenau meiner Berufsausbildung. Der angebotene Job war außerdem für deutsche Verhältnisse außerordentlich gut dotiert. Ich schlug ein und unterschrieb ein dreiviertel Jahr vor Abschluss meines Studiums meinen Arbeitsvertrag. Hatte ich bei meinem Ausbildungsbetrieb resigniert, fühlte ich mich nun stark und fähig genug mich dieser Herausforderung der Modernisierung zu widmen. Hier schien mein Platz zu sein. Hier würde ich den besten Beitrag für das Unternehmen leisten können.

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