Читать книгу Der Junge aus der letzten Reihe - Onjali Q. Raúf - Страница 10
Mr Irons Nasenspitze
ОглавлениеAls es am nächsten Morgen zur ersten Pause klingelte, hielt Mrs Khan ihr Versprechen und ließ Ahmet zum allerersten Mal auf den Schulhof. Tom sollte auf ihn aufpassen, und sie schärfte uns ein, dass wir sofort einen Lehrer holen oder zu Ms Hemsi ins Lehrerzimmer gehen sollten, falls Ahmet Angst bekam oder nicht mehr mit uns spielen wollte. Ich wusste zwar nicht, warum das passieren sollte, aber dann dachte ich, vielleicht waren die Mobber in seinem Land auch in der Schule gemein zu ihm gewesen. Ich hatte bis dahin nie darüber nachgedacht, dass es auf jedem Schulhof Mobber geben könnte.
Josie holte ihren Fußball, und Tom versuchte, Ahmet zu erklären, wie man richtig Fußball spielt.
»DU! SO!«, sagte Tom sehr laut, zeigte auf Ahmet, dann auf seinen Fuß und schließlich auf den Ball. Ahmet nickte.
»Aber NICHT SO!«, fuhr Tom fort und schüttelte den Kopf, während er auf den Fußball und dann auf seine Hand zeigte.
»Das ist doch bescheuert! Er weiß, wie man Fußball spielt«, sagte Michael.
»Vielleicht spielen sie es in seinem Land anders. Weißt du noch, als ich neu hierherkam und nur American Football kannte?«, protestierte Tom und sah mich an, als wüsste ich die Antwort.
Ich zuckte die Achseln. »Nein, weiß ich nicht! Wir hätten Ms Hemsi fragen sollen!«
»Ach, hört doch auf!«, schrie Josie. »Wir fangen einfach an, dann sehen wir ja, ob er es kann.«
Als wir in unserer Ecke des Schulhofs angelangt waren, beschlossen Josie und Tom, dass Ahmet in Josies und Michaels Mannschaft sein sollte. Weil sie im Fußball die Beste war, war es egal, wenn Ahmet nicht spielen konnte. Und weil nur Tom und ich in der anderen Mannschaft waren, hatten wir Anstoß.
Dann fing Ahmet an, zu rennen und zu dribbeln und eine Menge Tricks mit dem Fußball zu machen, die keiner von uns konnte. Und innerhalb der ersten fünf Minuten hatte er zwei Tore geschossen.
»Boah!«, sagte Tom. »Der ist ja sogar besser als Josie!« Er fing Josies Blick auf und fügte hastig hinzu: »Oder zumindest fast so gut!«
»Wuuuuhuuuu!«, jubelte Michael, als Ahmet an Tom und mir vorbeisauste und noch ein Tor schoss. »Wuuuuhuuuuu!«
Inzwischen hatte sich eine kleine Menge gebildet, die uns zuschaute, und ich hörte die Schüler aus den oberen und unteren Klassen reden. Sie sagten Dinge wie: »Schaut mal, das gefährliche Kind darf jetzt raus!« und »Bedeutet das, dass er gar keine Krankheit hat?« und »Aber die Entführer können ihn von hier aus sehen!«.
Gerade hörte ich, wie Jennie allen erzählte, dass Mrs Sanders gesagt habe, dass der neue Junge ein Profifußballer sei, als sie plötzlich aufschrie: »AAAAUUUU!«, und kurz darauf hatten sich Brendan-der-Quälgeist und seine Kumpel Liam und Chris zu unserem »Fußballfeld« hindurchgedrängelt.
Josie sah mich an, und ich sah Tom an, und Tom schaute zu Ahmet herüber, der verwirrt neben Michael stand.
»Wir wollen spielen«, sagte Brendan-der-Quälgeist mit einem fiesen Lächeln auf den Lippen. Er ging zu Ahmet, der den Fußball hatte, und schoss den Ball so hart weg, dass er auf der anderen Seite des Schulhofs landete. Ahmet trat einen Schritt zurück.
»Geh weg, Brendan«, sagte Josie mutig. »Das hier ist unser Spiel, und es ist MEIN Ball.«
Brendan drehte sich zu Josie um, und sie schluckte nervös. Aber in diesem Moment veränderte sich sein Gesichtsausdruck von gemein zu traurig.
Ich drehte mich ebenfalls um und sah, dass Mr Irons auf uns zukam.
»Was ist hier los?«, fragte er mit zuckendem Schnurrbart.
Mr Irons ist berühmt dafür, einer der strengsten Lehrer der ganzen Schule zu sein. Außerdem lächelt er absolut niemals. Er hat ein lang gezogenes Gesicht, eine lange Nase, lange Lippen und einen großen, braunen, stacheligen Schnurrbart, für den er ein winziges Kämmchen in der Brusttasche seiner Jacke trägt. Jeder weiß von dem Kämmchen, denn wenn er glaubt, dass niemand schaut, nimmt er es heraus und kämmt damit seinen Schnurrbart, immer in ganz kurzen, geraden Strichen. Und wenn er sehr wütend wird, pfeift er durch die Nase. Wenn das passiert, weiß man, dass man mindestens ein Mal nachsitzen muss oder eine Strafarbeit bekommt.
Er ist außerdem der schlimmste Lehrer, den man als Aufsicht haben kann, weil er Lärm hasst – besonders fröhlichen Lärm. Wenn er auf dem Schulhof ist, läuft er herum und meckert jeden an, der zu laut lacht oder lustige Geräusche macht. Letztes Jahr hat er einen Erstklässler zum Weinen gebracht, weil er ihm sagte, dass nur Schweine quieken und der Junge deshalb wohl aus einer großen Schweinefamilie kommen müsse. Und ein anderes Mal gab Mr Irons jedem, der Hanna zujubelte, weil sie einen Handstand machte, eine Strafarbeit auf – und das, obwohl sie gerade dabei war, den Weltrekord für den längsten Handstand in der Geschichte zu brechen!
Immer wenn wir Mr Irons kommen sehen, spielen wir extra leise oder gehen weg. Aber wir waren so froh, dass Ahmet mit uns spielte, dass wir ganz vergessen hatten, dass wir in einer Schule waren, in der es nicht nur mobbende Schüler, sondern auch mobbende Lehrer gab.
»Bitte, Sir«, jammerte Brendan. »Sie lässt mich nicht mitspielen! Ich wollte so gern spielen, aber sie hat es mir verboten!«
Mr Irons drehte sich zu Josie um. »Das ist aber kein besonders nettes Verhalten deinem Freund gegenüber, nicht wahr?«
»Der ist nicht mein Freund!«, sagte Josie wütend. »Und er hat überhaupt nicht gefragt! Er ist einfach rübergekommen und hat unseren Ball weggeschossen!«
»Bitte, Sir, und dieser Junge da drüben hat auch gesagt, dass ich nicht mitspielen darf!«, fügte Brendan hinzu. Er zeigte auf Ahmet und grinste fies, aber so, dass Mr Irons es nicht sah.
Mr Irons winkte Ahmet zu sich. Der schaute sich erst um, und dann, als er begriff, dass er gemeint war, ging er zu Mr Irons.
»Hast du diesem Jungen gesagt, dass er nicht mitspielen darf?«, fragte Mr Irons und zeigte dabei auf Brendan.
Ahmet schaute sich erneut um. Alle anderen hatten innegehalten und lauschten auf jedes Wort.
»Bitte, Sir! Brendan lügt!«, rief ich und stellte mich hinter Ahmet.
»Genau!«, sagte Michael.
»Außerdem ist er neu«, fügte ich hinzu. »Und er spricht kein …«
»Wenn ich deine Meinung hören will, frage ich danach! Aber bis dahin, UNTERBRICH MICH NICHT!«, sagte Mr Irons streng. Ich spürte, wie ich rot wurde und sich die Zunge in meinem Mund ganz dick anfühlte. Brendan grinste wieder fies, aber diesmal in meine Richtung.
»So, Junge.« Mr Irons wandte sich an Ahmet. »Ich frage dich jetzt noch einmal. Hast du zu Brendan gesagt, dass er nicht mitspielen darf, oder nicht?«
Ahmet stand wie angewurzelt da und schaute zu uns herüber.
»Aber, Sir!«, platzte ich heraus. »Sie verstehen das nicht! Er kann nicht spre…«
»ALSO GUT!«, rief Mr Irons, wobei seine Nase gefährlich pfiff. »Eine Stunde Nachsitzen für dich!«, dabei zeigte er auf mich. »Und für dich!«, zischte er, wobei er auf Michael zeigte. »Für euch alle drei. Nach der Schule kommt ihr zu mir. Bis dahin beschlagnahme ich diesen Ball!«
Josie schaute wütend zu, wie Liam Mr Irons den Ball gab. Liam grinste dabei schadenfroh.
Wir schauten Mr Irons hinterher, der mit dem Ball unter dem Arm davonging. Es klingelte zum Ende der Pause, und Brendan lächelte uns an.
»Dann bis zum Mittagessen!«, sagte er und rannte davon.
Aber in der Mittagspause war Ahmet nirgends zu sehen, und in der dritten Pause kam Ms Hemsi mit ihm heraus, also hielt auch Brendan-der-Quälgeist Abstand. Nach Schulschluss musste Tom rennen, um den Bus zu erwischen, weil einer seiner Brüder Geburtstag hatte. Wir anderen beschlossen, Mrs Khan zu suchen, statt zu Mr Irons zu gehen. Vielleicht konnte sie uns helfen. Obwohl Ms Hemsi bereits mit ihr darüber gesprochen hatte, was passiert war, wussten wir, dass sie nicht die ganze Geschichte kannte. Ms Hemsi war ja nicht dabei gewesen. Also sagten wir Ahmet, er solle mitkommen, und gingen los, um mit Mrs Khan zu sprechen.
Sie hörte sich unsere Geschichte schweigend an. Als wir fertig waren, schüttelte sie den Kopf. »Lächerlich«, murmelte sie. »Manche Leute können einfach nicht weiter sehen als bis zu ihrer Nasenspitze! Aber keine Sorge! Ihr kommt jetzt alle mit mir mit!«
Wir gingen zu Mr Irons’ Klassenzimmer. Dabei dachte ich darüber nach, was Mrs Khan über Nasen gesagt hatte, und knetete an meiner herum. Ich wollte auf keinen Fall eine Nase bekommen, die so groß war, dass ich nicht darüber hinaussehen konnte!
Vor Mr Irons’ Klassenzimmer sagte Mrs Khan, wir sollten draußen warten. Außer einem lauten Summen wie von zwei riesigen Hummeln hörten wir gar nichts durch die Tür. Aber nach einer Minute kam Mr Irons heraus und starrte Michael, Ahmet und mich mit gereckter Nase an. Vielleicht dachte er, so könnte er besser an seiner Nasenspitze vorbeischauen.
Er gab Josie ihren Fußball zurück und sagte ansonsten kein Wort, aber von dem Tag an verengte er jedes Mal die Augen zu Schlitzen, sobald er einen von uns sah, und pfiff sehr leise durch die Nase. Man muss nicht unbedingt die Sprache des anderen verstehen, um zu begreifen, dass er dich nicht besonders mag. Obwohl Ahmet also damals noch nicht so viele englische Wörter kannte, wusste er, dass er sich – und Josies Fußball – von Mr Irons und seiner schrecklichen Pfeifnase fernhalten musste.