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Das Flüchtlingskind

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Als ich an dem Abend nach Hause kam, blieb ich so lange auf, wie ich konnte, um meine Mum noch zu sehen. Montags kommt sie immer erst um halb zehn nach Hause, weil die Bücherei an diesem Tag bis spät geöffnet hat. Ich muss dann eigentlich schon im Bett sein, weil sie sonst sauer wird, aber diesmal war es mir egal, ob ich Ärger bekam – ich wollte schließlich herausfinden, wie Ahmet ein Flüchtlingskind geworden ist und warum Mrs Grimsby meinte, dass Flüchtlinge nur Ärger machten und anderen Leuten die Arbeitsplätze wegnahmen.

Im Bus nach Hause sagte Michael, dass Flüchtlingskinder aus großen Zelten in der Wüste kämen. Aber dann sagte Josie, dass man in England nicht in Zelten wohnen darf, außer man geht campen. Und Tom sagte, dass er von den Flüchtlingen im Fernsehen gehört habe, sich aber nicht erinnern könne, warum sie wegliefen, und dass es in England sowieso keine Wüsten mit Zelten darin gebe. Es war alles ziemlich verwirrend, aber ich war mir sicher, dass meine Mum Bescheid wusste, weil sie in einer Bücherei arbeitet, und in Büchereien gibt es Bücher über alles.

Meine Mum ist der schlauste Mensch, den ich kenne – sogar noch schlauer als Mrs Khan. Sie hat zwei Jobs – in der Woche ist sie Bibliothekarin, und samstags ist sie Pflegerin. Sie kümmert sich um Leute, die nicht essen oder gehen können oder sich nicht mehr richtig an Dinge erinnern oder zu krank sind, um allein zu wohnen. Weil Mum die ganze Zeit arbeiten muss, sehe ich sie nicht so oft – außer sonntags. Sonntag ist unser Tag – früher, mit meinem Dad, haben wir dann oft etwas unternommen. Immer wenn er einen Tag freihatte, weckte er uns früh, packte etwas zu essen ein, und wir fuhren im Auto auf Abenteuertour! Normalerweise ging es ans Meer oder in einen Safari-Park oder, wenn es draußen kalt war, zum Bowling oder ins Kino.

Jetzt können wir uns diese Dinge nicht mehr leisten, denn als ich sechs Jahre alt war, starb mein Dad bei einem Autounfall. Manchmal mache ich mir Sorgen, dass ich ihn langsam vergesse, obwohl ich ihn jeden Tag vermisse. Aber wenn ich gut nachdenke und in den tiefsten Teil meines Hirns hinabtauche, ist er noch immer da. Er war der lustigste Dad, den man nur haben konnte. Er war Tischler und baute gern Dinge aus allem, was er finden konnte.

So sieht Dad in meiner Erinnerung aus:


Er redete immer viel mehr als Mum und dachte sich gern Geschichten aus. Aber noch lieber als alles andere hörte er Musik. Er hatte eine riesige Musiksammlung und schraubte ständig an dem altmodischen Grammofon herum, das mein Großvater ihm zum dreizehnten Geburtstag gekauft hatte. Er brachte mir bei, wie man die großen schwarzen Platten darauf abspielte und wie man den riesigen goldenen Schalltrichter ordentlich polierte.

Mum wollte es letztes Jahr verkaufen, um damit Rechnungen zu bezahlen, denn offenbar sind die Dinge umso mehr wert, je älter sie sind. Aber zum Glück brachte mein Onkel Lenny sie dazu, es mir zu schenken. Onkel Lenny ist der Bruder meiner Mutter und der beste Onkel der Welt, obwohl er mit meiner Tante Christina verheiratet ist, die ich eigentlich nicht besonders mag. Er hat einen Sohn namens Jacob, der gern Sachen kaputt macht. Onkel Lenny besucht uns mindestens einmal die Woche, meistens allein. Dann fragt er mich immer, ob ich etwas brauche. Das mag ich an ihm. Und ich werde ihn immer dafür liebhaben, dass er mir dabei geholfen hat, Dads Grammofon zu behalten. Es steht jetzt in meinem Zimmer, aber ich mache es nie an, wenn Mum zu Hause ist. Sie mag es nicht so gern, wenn ich es benutze. Vielleicht erinnert es sie daran, wie Dad mit ihr stolz im Zimmer herumtanzte, wenn er einen Stuhl oder Tisch fertig gebaut hatte, und dann wird sie traurig.

Ich spielte eine von Dads Lieblingsplatten, um mich wach zu halten, als ich plötzlich Mums Schlüssel im Schloss hörte. Man weiß immer genau, dass sie es ist, weil sie laut klimpert. Ich schaltete das Grammofon schnell aus und rannte ins Wohnzimmer.

»Na, hallo, mein kleiner Zwerg!«, sagte Mum. Ich merkte, dass sie überrascht war, mich zu sehen, weil ihre Augenbrauen nach oben zuckten und in ihren Haaren verschwanden. »Was machst du denn noch so spät hier?«

»Ich kann nicht schlafen«, antwortete ich.

»Ach so«, sagte sie. Sie umarmte mich, sah mich dann nachdenklich an und legte mir die Hand auf die Stirn. Das tat sie immer, wenn sie sich um mich Sorgen machte.

»Fühlst du dich krank?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Hast du zu Abend gegessen?«

Ich nickte. Normalerweise esse ich montags abends eine Dosensuppe und ein Brötchen. Mrs Abbey von nebenan kommt und hilft mir dabei. Sie ist alt und kann nicht mehr gut gehen, aber manchmal macht sie mir auch Fischstäbchen. Meine Lieblingssuppe ist Tomatensuppe, weil sie mich an Tomatenketchup erinnert. Ketchup gehört zu den Dingen, die ich am allerliebsten esse. Man kann einen Klecks Ketchup auf alles geben, was nicht gerade ein Nachtisch ist, und ich wette mit euch um mein Taschengeld, dass jedes Gericht damit sofort besser schmeckt! Ketchup steht an dritter Stelle auf meiner Liste der leckersten Dinge, direkt hinter Schokolade und Eis in der Waffel vom Eiswagen.

»Tja«, sagte Mum und stellte ihre Taschen ab. »Dann wollen wir doch mal sehen, ob dich ein bisschen heißer Kakao müde macht! Komm, leiste mir ein wenig Gesellschaft beim Teetrinken.«

Ich folgte Mum in die Küche und schaute ihr dabei zu, wie sie das Kakaoglas herausholte und den Kessel aufsetzte. Und dann platzte es aus mir heraus: »Mum, was ist ein Flüchtlingskind?« Manchmal macht mein Mund Sachen, für die mein Gehirn noch gar nicht bereit ist.

Mum hielt inne und sah mich an.

»Ein Flüchtlingskind?«, wiederholte sie mit gerunzelter Stirn. »Wo hast du das denn gehört?«

»In der Schule«, antwortete ich. »Jemand hat den neuen Jungen in unserer Klasse ein Flüchtlingskind genannt.«

»Ihr habt einen neuen Jungen in der Klasse?«

Ich nickte.

»Und Mrs Khan hat euch nichts über ihn erzählt?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nur, dass er Ahmet heißt und neu in London ist. Ich habe versucht, mich mit ihm anzufreunden, aber er spricht mit niemandem, deshalb weiß ich nicht, ob er sich auch mit mir anfreunden will …«

»Verstehe …« Mum verstummte. Sie goss Milch ins Milchtöpfchen und wartete, bis sie heiß wurde. Ich wusste, dass sie über etwas Ernstes nachdachte, weil sie sich die ganze Zeit das Kinn rieb. Das macht sie nur, wenn sie etwas sehr Wichtiges sagen will.

»Mum?«, flüsterte ich.

Aber Mum schwieg, und ich begann schon, mir Sorgen zu machen. Normalerweise antwortet Mum immer sofort auf meine Fragen. Vielleicht war es ja nicht nett von Mr Brown gewesen, Ahmet »Flüchtlingskind« zu nennen.

Ich setzte mich auf meinen Stuhl, schaute aus dem Fenster und wartete auf meinen heißen Kakao. Unsere Wohnung ist nicht besonders groß, aber wir haben einen kleinen Tisch am Fenster, um den vier Stühle stehen.

Als Mum mit dem heißen Kakao und ihrem Tee fertig war, setzte sie sich auf den Stuhl mir gegenüber und nahm zwei Zuckerwürfel aus dem Zuckerdöschen. Sie balancierte sie auf dem Löffel und rührte dann in kleinen Kreisen ihren Tee um. Wir sahen beide dabei zu, wie die Würfel immer kleiner wurden und sich schließlich auflösten.

»Mum … kannst du mir erklären, was ein Flüchtlingskind ist – ich meine, wo kommen sie her?«

Mum sah mich an. Sie hat mindestens zwanzig unterschiedliche Blicke, und ich weiß genau, was sie jeweils bedeuten. Dieser hier bedeutete, hör auf, mich zu löchern. Dann sagte sie: »Erinnerst du dich an diese Rettungsboote im Fernsehen, mein Schatz? Die, in denen so viele Leute ganz eng beieinandersaßen? Du hast mich damals danach gefragt.«

Ich nickte. Das war in den Sommerferien gewesen, Mum und ich hatten im Wohnzimmer gesessen. Sie löste ein Kreuzworträtsel, und ich malte ein paar Zeichnungen aus. Im Hintergrund liefen die Nachrichten. Erst erschien eine Reporterin auf dem Bildschirm, die an einem Strand stand, dann wurden Leute in Booten mitten auf dem Meer gezeigt, die alle sehr verängstigt aussahen. Sie hatten mir leidgetan, und ich hatte Mum gefragt, was da los war.

»Erinnerst du dich noch daran, was ich damals gesagt habe?«, fragte Mum.

»Du hast gesagt … dass sie versuchen, ein neues Zuhause zu finden, weil sie in ihrem Zuhause nicht mehr leben können.«

»Ganz genau, mein Liebling. Das waren Flüchtlinge, wie die Leute sie nennen, wobei man besser geflüchtete Menschen oder einfach Geflüchtete sagt.. Und Kinder wie der neue Junge in deiner Klasse sind geflüchtete Kinder, weil sie ihre Heimat verlassen und sehr weit reisen müssen, um ein neues Haus zum Leben zu finden.«

»Meinst du, so wie Dena?«, fragte ich und überlegte, ob Dena wohl auch ein geflüchtetes Kind war. Sie musste nach Wales ziehen, weil ihre Mum und ihr Dad in London kein neues Haus finden konnten.

Mum schüttelte den Kopf. »Nicht ganz«, sagte sie. »Denas Mum und Dad wollten umziehen. Sie wollten in einem viel größeren, schöneren Haus wohnen als in dem, das sie schon hatten. Aber Geflüchtete sind gezwungen fortzugehen – weil böse Leute es ihnen unmöglich gemacht haben zu bleiben. Diese bösen Leute werfen Bomben auf ihre Häuser und zerstören alle schönen Gegenden in ihrer Stadt. Und so werden die Städte so schrecklich und so beängstigend, dass die Menschen nicht mehr dort leben können. Also laufen sie viele Kilometer und steigen in Boote, um in Länder zu reisen, in denen sie noch nie waren, und sich einen Ort zu suchen, an dem sie sich wieder sicher fühlen.«

»Oh«, sagte ich leise. Ich fragte mich, was die Geflüchteten wohl getan hatten, dass die bösen Leute so wütend auf sie waren. Letztes Jahr hatten zwei Erstklässler Brendan-dem-Quälgeist ein Bein gestellt, weil er sie ständig jagte. Das hatte ihn so wütend gemacht, dass er ihre Brotboxen auf den Boden geworfen hat und auf ihrem Essen herumgetrampelt ist.

»Was haben die Geflüchtete denn gemacht, dass die bösen Menschen ihnen jetzt wehtun wollen?«, fragte ich. Es musste schon etwas sehr Schlimmes sein, wenn man ihnen deswegen Bomben auf die Häuser warf. Mum schüttelte den Kopf. »Gar nichts, Liebling. Die bösen Menschen sind nur einfach viel stärker als sie, und es gefällt ihnen, sich groß und mächtig zu fühlen, indem sie anderen wehtun. Weißt du, manche Leute glauben, dass sie mehr Macht haben, wenn sie anderen Menschen etwas wegnehmen. Und je mehr Macht sie haben, desto mehr wollen sie davon. Also verletzen und verängstigen sie immer mehr Menschen, bis alle nur noch weglaufen wollen.«

»Genau wie die Mobber in der Schule!«, sagte ich zornig.

»Na ja … wahrscheinlich ist es ein wenig so«, stimmte mir Mum zu und lächelte. »Nur dass die Mobber, vor denen die Geflüchteten weglaufen, viel größer und schrecklicher sind. Sie zwingen die Menschen, alles zurückzulassen, was sie je besaßen. Sogar die Menschen, die sie am allerliebsten haben.«

Ahmet tat mir leid. Vielleicht war er auch gezwungen worden, die Dinge zurückzulassen, die er am allerliebsten hatte, und deshalb sprach er mit niemandem. Ich versuchte, mir zu überlegen, was ich zurücklassen würde, wenn ich vor Mobbern davonlaufen müsste. Aber ich konnte mich nicht entscheiden. Ich weiß nur, dass ich Dads Grammofon niemals zurücklassen könnte, und seinen Lieblingshammer, der immer noch in der untersten Küchenschublade liegt, auch nicht.

Mum stand auf und stellte ihren Becher in die Spüle. »Also, ich weiß, dass du dich gern mit diesem neuen Jungen anfreunden würdest, aber du darfst nicht zu ungeduldig sein. Er braucht erst mal eine Menge Zeit und Ruhe, okay?«

Ich nickte, obwohl ich nicht verstand, was sie meinte. Wenn ich neu wäre, würde ich so schnell wie möglich Freunde finden wollen – besonders, wenn ich gerade vor Mobbern davongelaufen wäre, die viel größer und schrecklicher sind als die Mobber an der Schule! Ich überlegte, meiner Mum von den Zitronendrops, den weißen Mäusen und der Orange mit dem Smiley darauf zu erzählen, aber da sagte sie: »Die Welt war noch nie nett zu Geflüchteten«, und es klang traurig. Sie klang genauso, wie wenn sie von meinem Dad sprach. Obwohl ich noch mindestens vier Fragen stellen wollte, beschloss ich, nichts mehr zu sagen.

»Jetzt trink aus, und dann ab ins Bett! Ich komme in ein paar Minuten und decke dich zu.« Mum streichelte mir über das Haar. Das macht sie immer, wenn sie will, dass ich sie für glücklicher halte, als sie es in Wahrheit ist.

Also trank ich meinen Kakao schnell aus und rannte ins Bett. Mum deckt mich nur selten zu, deshalb war es etwas Besonderes. Ich mag es sehr – sogar noch mehr, als beim Wettrennen zu gewinnen oder ein Tor zu schießen. Es ist das allerbeste Gefühl auf der ganzen Welt, wenn dich jemand, den du mehr liebst als jeden anderen auf der Erde und der dich genauso zurückliebt, schön warm und weich in eine Decke wickelt.

Ich wartete darauf, dass Mum hereinkam, und dachte über die Dinge nach, die sie gesagt hatte – über die Bomben und die Boote und die bösen Menschen, die so gierig waren, dass alle vor ihnen davonliefen. Ich hatte Josie, Tom und Michael so viel zu erzählen! Zumal ich nicht glaubte, dass ihre Mums und Dads ihnen auch nur halb so viel erzählt hatten wie meine mir.

Das gehört zu den Dingen, die ich an Mum am meisten liebe. Sie versucht immer, meine Fragen zu beantworten, egal wie müde sie ist oder wie schwierig die Fragen sind. Und sie sagt mir immer die absolute Wahrheit. Michaels Eltern sagen immer »Jetzt nicht, Schatz« oder »Das erklären wir dir, wenn du ein bisschen größer bist«, und Josies Mum sagt ihr immer, dass Mädchen nicht so viele Fragen stellen sollen. Aber meine Mum sagt so etwas nie. Ich glaube, das liegt an all den Büchern, die sie liest. Mum sagt, dass die besten Bücher mehr Fragen aufwerfen, als sie beantworten, und dass der lustige Teil daran sei, dass man versuchen muss, die Antworten darauf woanders zu finden. Und Dad sagte immer, dass man nur schlauer wird, wenn man auch Fragen stellt.

Ich glaube, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben wirklich ganz besonders viel über etwas wissen wollte, weil ich schon eine lange Liste an Fragen in meinem Kopf hatte, die ich Ahmet stellen wollte. Genauer gesagt waren es elf Fragen.

Und so sah meine Liste aus:

Meine 11 Fragen

1. Aus welcher Stadt musstest du weglaufen?

2. Welche Sprache sprichst du?

3. Wer ist die Frau mit dem roten Schal?

4. Hast du Brüder oder Schwestern?

5. Was haben die Mobber getan, dass du vor ihnen weglaufen musstest?

6. Musstest du in ein Boot steigen, so wie die Leute in den Nachrichten?

7. Was ist deine Lieblingssportart?

8. Welches Obst isst du am liebsten?

9. Wie weit musstest du laufen, um den Mobbern zu entkommen?

10. Gefällt es dir hier, oder vermisst du dein altes Haus?

11. Hast du einen besten Freund?

Meine elf Fragen würden mir dabei helfen, alles über Ahmet zu erfahren, was ich wissen musste, damit ich seine Freundin sein konnte. Deshalb musste ich die Antwort auf jede einzelne herausfinden.

Der Junge aus der letzten Reihe

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