Читать книгу Der Junge aus der letzten Reihe - Onjali Q. Raúf - Страница 9
Die Frau mit dem roten Schal
ОглавлениеAls ich am nächsten Tag an der Bushaltestelle stand, erzählte ich Josie, Tom und Michael alles, was mir meine Mum über Geflüchtete erzählt hatte. Auch, dass Ahmet vermutlich in ein Boot ohne Toiletten steigen musste, um vor den Bomben und den ganzen anderen schlimmen Dingen zu fliehen, die die Mobber in seinem Land anstellten.
»Aber mein Dad hat gesagt, dass Geflüchtete gefährlich sind, dass sie lügen und Sachen klauen«, wandte Josie verwirrt ein. »Er hat gesagt, ich soll mich von Ahmet fernhalten und nicht mit ihm sprechen, weil er wahrscheinlich kriminell ist!«
»Aber meine Mum und mein Dad haben gesagt, dass wir besonders nett zu ihm sein sollen. Guckt mal!« Tom öffnete seinen Rucksack und zeigte uns eine riesige Süßigkeitentüte. »Mum hat gesagt, ich soll sie ihm in der Mittagspause geben. Und sie hat gesagt, dass wir besonders nett zu ihm sein und ihn nicht mit Fragen löchern sollen.«
»Meine Mum hat dasselbe gesagt«, sagte Michael, als wir in den Schulbus stiegen. »Und sie will, dass ich ihm eine Banane schenke. Und mein Dad hat erzählt, dass Geflüchtete vor dem Krieg weglaufen, der ständig im Fernsehen gezeigt wird. Von Mobbern hat er aber nichts gesagt!«
Wir sahen Josie an, die auf ihren Haarspitzen herumkaute und die Stirn runzelte. Sie schwieg, aber ich wusste, dass sie darüber nachdachte, ob ihr Dad wohl einen Fehler gemacht hatte. Ahmet konnte auf keinen Fall gefährlich oder kriminell sein – er war genauso alt wie wir und gerade vor Mobbern und einem echten Krieg geflohen.
Mr Thompson hatte uns im letzten Jahr alles über Kriege beigebracht. Es war ein spezielles Erinnerungsjahr an Kriege gewesen, und Mrs Sanders sagte, dass es wichtig war, sie nicht zu vergessen. Wir lernten, dass man sich rote Mohnblumen ansteckt, um an die vielen Kriegsgefallenen zu erinnern, und dass diese Blumen so wichtig sind, weil sie auf Soldatengräbern blühten, und dass ganz viele Länder sich zusammengeschlossen hatten, um in dem allerersten Krieg zu kämpfen. Die höheren Klassen hatten eine Ausstellung zu dem Thema vorbereitet, und wir machten einen Ausflug zum Tower of London, wo die Queen ihre Krone aufbewahrt. In den Gärten dort standen Tausende roter Mohnblüten aus Keramik, sogar an die Wände hatte man welche gesteckt.
Mr Thompson sagte, wir dürften niemals vergessen, wie viele Menschen in Kriegen starben, aber ich kann mir große Zahlen nicht gut merken, schon gar nicht welche, die ständig größer werden. Aber den Ausflug zum Tower werde ich nie vergessen. Die Mauern sahen aus, als bluteten sie. Und später hielt uns ein Mann, der alles über den Ersten Weltkrieg wusste, einen Vortrag im Tower. Er hieß Officer Denny. Ich erinnere mich an den Namen, weil er sich auf den meines Onkels Lenny reimt.
Alle mochten ihn, weil er lustig war und alles über Bomben und Uniformen und einen traurigen Ort namens Flanders Field wusste. Michael und ich sollten einen Rucksack hochheben, der so groß und so schwer war wie ein echter Soldatenrucksack. Aber er war so schwer, dass wir ihn nicht einmal vom Boden heben konnten!
Ich fragte mich, ob Ahmets Rucksack auch so schwer gewesen war, als er davonlief. Vielleicht sah der Rucksack deshalb so alt und schmutzig aus. Er hatte immer noch keinen neuen bekommen – aber seit dieser Woche trug er immerhin die Schuluniform. Ich glaube, er fand das neue Hemd und den Pulli kratzig, weil er ständig am Ausschnitt herumzerrte.
An diesem Tag hatte der Schulbus Verspätung, weil er im Stau stand, der so lang war, dass der Fahrer uns alle früher aussteigen ließ. Wir mussten den halben Weg laufen, und als wir am Schulhof ankamen, klingelte es schon. Mir war ganz heiß, und ich fühlte mich ganz verschwitzt und klebrig, als wir ins Klassenzimmer kamen, daher merkte ich erst nicht, dass alle viel stiller waren als sonst. Aber nach einer Weile fiel mir auf, dass Parvinder und Dean – die in jedem Fach schlau waren und in der vordersten Reihe saßen – ständig über die Schulter schauten. Zuerst dachte ich, dass sie mich anguckten, weil mein Gesicht noch ganz rot war, aber dann hörte ich, wie Parvinder flüsterte: »Wer das wohl ist?!«
Ich drehte mich um und sah eine Erwachsene auf Clarissas Stuhl sitzen. Und nicht irgendeine Erwachsene, sondern eine, die mit Ahmet sprach! Und Ahmet sprach auch mit ihr!
Ich stieß Josie an und sagte: »Guck mal!«
Josie drehte sich um und flüsterte: »Wo ist Clarissa?«
Wir schauten uns um und sahen, dass Clarissa an Felicitys und Natashas Tisch saß. Sie wirkte viel glücklicher.
»Beeilt euch und setzt euch bitte hin«, sagte Mrs Khan und nahm das Klassenbuch. »Bevor wir anfangen, möchte ich euch jemand ganz Besonderen vorstellen. Aber zuerst wollen wir sehen, ob auch alle da sind.«
Als sie alle Namen aufgerufen hatte, sagte Mrs Khan: »Also, liebe Klasse, ich möchte, dass ihr alle Guten Morgen zu Ms Hemsi sagt, unserer neuen Schulbegleiterin.«
Ms Hemsi stand auf und lächelte alle an.
»Guten Mooorgen, Ms Hemsiiiii!«, sagten wir im Chor. Die Hälfte der Klasse schrie es, die andere sagte es leise – als wären sie nicht ganz sicher, ob das auch ihr richtiger Name war. Ich schrie den Namen. Ich mag es, neue Namen zu schreien. Sie kommen mir dann wirklicher vor.
Ms Hemsi lächelte und sagte: »Guten Morgen, ihr alle!«
»Ms Hemsi hilft Ahmet von jetzt an im Unterricht. Mit etwas Glück kann er dann in ein paar Wochen einen Vortrag über seine Heimatstadt halten und darüber, wie er sich jetzt hier in London fühlt.«
Alle drehten sich um und schauten Ms Hemsi an, die nickte und lächelte und sich dann wieder hinsetzte.
»Sie sieht nett aus«, flüsterte Josie. »Ich mag ihr Kopftuch!«
Ich mochte Ms Hemsis Kopftuch auch. Es sah aus wie ein silbriger Fluss und war mit einer glitzernden Klemme an der Seite befestigt, die wie ein Stern aussah. Sie lächelte, ohne die Zähne zu zeigen, aber ich mochte das. Und ihre Augen waren mit einem schwarzen Stift ummalt, was sie größer und interessanter wirken ließ.
Ahmet schien sie ebenfalls zu mögen, und als sie sich wieder setzte, flüsterte sie ihm etwas zu und tätschelte ihm den Rücken, woraufhin er nickte. Ich freute mich für ihn. Jetzt hatte er jemanden, mit dem er sprechen konnte, und musste nicht mehr neben Clarissa sitzen. Es ist viel schöner, neben jemandem zu sitzen, der nicht die ganze Zeit versucht, möglichst viel Abstand zu halten, und der dazu noch eine glitzernde Spange trägt.
Den ganzen Tag machte Ahmet seine Aufgaben, und in den Pausen ging er wie immer in seinen Rückzugsraum. Aber er schaute nicht mehr die ganze Zeit zu Boden, vielleicht, weil Ms Hemsi bei ihm war. Außerdem schien er sich mehr für das zu interessieren, was wir taten. Ich erwischte ihn vor dem Mittagessen zwei Mal dabei, wie er Josie und mich anguckte, und drei Mal am Nachmittag, und jetzt war ich mir sicher, dass er mit uns befreundet sein wollte.
Nach Schulschluss warteten wir wie immer am Schultor – aber diesmal hatte wir alle ein Geschenk für ihn. Josie hatte extra den Schoko-Joghurt aus ihrer Brotdose für ihn aufgehoben, und Michael und Tom hatten die Süßigkeitentüte und die Banane, die ihre Eltern ihnen mitgegeben hatten. Ich hatte heute nur einen Apfel für ihn. Die Schulkantine hatte keine Orangen mehr. Aber das war in Ordnung, weil Tom mir einen Sticker mit einem Wal geschenkt hatte, den ich daraufkleben konnte.
Beim Warten drückte ich die Daumen und hoffte heimlich, dass auch Ms Hemsi mit herauskommen würde. Sie konnte ja richtig mit ihm sprechen und ihm vielleicht ein paar meiner elf Fragen stellen.
Der Schulhof leerte sich schon, als Ahmet endlich herauskam. Er hielt sowohl Ms Hemsis als auch Mrs Khans Hand. Sie gingen zu der Frau mit dem roten Schal, und Michael flüsterte: »Los!« Ich merkte, dass er ganz aufgeregt war, weil er die Augen aufgerissen hatte. Das macht er immer, wenn er es kaum erwarten kann, etwas zu tun.
Wir rannten alle zu Ahmet hinüber und gaben ihm unsere Geschenke.
»Das hier ist von mir«, sagte Tom und hielt ihm die große Süßigkeitentüte wie eine Trophäe hin. »Es sind auch Colafläschchen darin – und Schlümpfe und sogar ein paar Karamellbonbons!«
»Und das hier ist von mir«, sagte Josie und hielt ihm den Schoko-Joghurt hin. »Mein Lieblingsjoghurt!«
»Ähm … das hier ist nur eine Banane. Aber guck mal!«, sagte Michael, drehte die Banane um und zeigte Ahmet die Strichmännchen, die er darauf gezeichnet hatte.
»Und das hier ist von mir«, sagte ich und zeigte ihm den Apfel.
Ahmet hatte jetzt die Arme voller Geschenke, schaute auf und nickte jedem von uns zu. Ich wusste genau, dass es ein glückliches Nicken war, denn auch wenn sein Mund nicht lächelte, sahen seine Löwenaugen ganz glücklich aus.
Ms Hemsi beugte sich zu ihm hinunter und sagte Ahmet etwas in einer fremden Sprache ins Ohr. Er nickte, und dann schaute er wieder zu uns hoch und sagte sehr langsam: »Danke … Freunde.«
Josie, Michael, Tom und ich nickten und strahlten und fingen dann alle gleichzeitig zu reden an.
»Willst du morgen mit uns Fußball spielen?«, rief Tom. »In der Pause?«
»Ich hole dir morgen noch so einen Joghurt, wenn du ihn magst!«, schrie Josie.
»Ich frage Mum, ob sie mir etwas Besseres mitgeben kann als eine Banane!«, übertönte sie Michael. »Wie wär’s mit ein paar Mini-Muffins?«
»Und ich bringe dir morgen etwas Besseres als einen Apfel mit! Welches Obst magst du am liebsten?«, fragte ich extra laut.
Ahmet sah erst uns und dann Ms Hemsi und Mrs Khan an, und dann die Frau mit dem roten Schal. Sie lächelten alle, und die Frau mit dem roten Schal strich ihm über den Kopf.
»Also, Kinder«, sagte Mrs Khan und beugte sich zu uns herunter. »Das sind alles wunderschöne Geschenke. Und ich weiß, dass Ahmet euch sehr dankbar dafür ist. Aber er muss noch ein bisschen mehr unsere Sprache lernen, bevor er all eure Fragen beantworten kann, okay?«
Wir sahen einander an, und dann nickten wir.
»Aber ich finde, dass du da eine sehr gute Idee hattest, Tom. Vielleicht würde Ahmet wirklich gern morgen in der Pause mit euch Fußball spielen!« Mrs Khan warf Ms Hemsi einen Blick zu, und diese nickte. »Ja, das ist eine sehr gute Idee.«
»Toll!«, sagte Tom, und er war so aufgeregt, dass er Ahmet gegen den Arm boxte. Ahmet sah Tom an und dann seinen Arm, als wäre er sich nicht ganz sicher, was da gerade passiert war.
»Und es ist nicht nötig, ihm jeden Tag so viele Geschenke zu geben«, sagte die Frau mit dem roten Schal lachend. »Das ist so lieb von euch, aber wir wollen ja nicht, dass sich Ahmet die Zähne kaputt macht, oder?«
Wir schüttelten alle die Köpfe.
»Wenn ihr ihm nach Schulschluss trotzdem etwas schenken wollt, dann einigt euch auf eine Sache. Das ist dann mehr als genug, in Ordnung?«
Wir nickten erneut, und dann rief ich: »Ms Hemsi!« Ich wollte es eigentlich nicht so laut schreien, aber ich war so gespannt, weil ich jetzt die Gelegenheit hatte, eine meiner Fragen zu stellen, dass ich mich einfach nicht zurückhalten konnte.
»Ja?«, fragte Ms Hemsi lächelnd.
»Kann ich … ähm … wo kommt er denn her? Ich meine, aus welchem Land? Und welche Sprache spricht er?«, fragte ich und sah Ahmet dabei an.
Ms Hemsi lächelte noch breiter – wobei sie immer noch nicht die Zähne zeigte. »Ahmet kommt aus einem Land namens Syrien, und er spricht eine Sprache, die Kurdisch heißt.«
»Und Sie sprechen das UND Englisch?«, fragte Josie, die sehr beeindruckt aussah.
»Ja«, antwortete Ms Hemsi. »Ich bin auch Syrerin.«
»Warum spricht Ahmet kein Englisch?«, fragte Tom.
»Na ja …«, antwortete Ms Hemsi, »weil in Syrien niemand Englisch sprechen muss. Genauso, wie ihr hier kein Kurdisch sprechen müsst.«
»Oh.« Tom runzelte die Stirn, was bedeutete, dass er gerade stark nachdachte.
»Also, Kinder, jetzt aber los«, sagte Mrs Khan und klatschte in die Hände. »Ahmet muss nach Hause, und ihr auch. Und Tom – ich sehe gerade, dass du aus Versehen schon wieder die Turnschuhe deines Bruders trägst! Sieh zu, dass das zum letzten Mal passiert ist, ja?«
»Ja, Mrs Khan«, sagte Tom und wurde feuerrot.
Wir winkten zum Abschied und gingen zu unserer Bushaltestelle. Kurz bevor wir um die Ecke bogen, drehte ich mich noch einmal um und sah, wie Ahmet in den Apfel biss, den ich ihm geschenkt hatte. Das machte mich sogar noch glücklicher als Ms Hemsis Antworten auf meine Fragen! Aber nur eine Sekunde später war das Gefühl schon wieder verflogen, weil ich Brendan-den-Quälgeist entdeckte.
Er stand nur ein paar Meter entfernt vor der Jungentoilette. Seine Wangen waren ganz rosig, die Augen hatte er zu Schlitzen verengt, und er beobachtete Ahmet mit bösem Blick. Jeder weiß, dass Brendan-der-Quälgeist alle hasst, die anders waren als er, aber dies war das erste Mal, dass ich ihn so wütend sah. Er konnte nichts tun, weil Ms Hemsi und Mrs Khan und die Frau mit dem roten Schal da standen, aber auf dem Nachhauseweg machte ich mir trotzdem Sorgen. Ich wusste, dass der böse Blick eine Warnung gewesen war und dass er Ahmet und allen, die seine Freunde sein wollten, das Leben schwer machen würde.
Und es stellte sich heraus, dass ich recht hatte. Denn schon in der ersten Pause am nächsten Tag tat er genau das.