Читать книгу Der Junge aus der letzten Reihe - Onjali Q. Raúf - Страница 5
Der Junge mit den Löwenaugen
ОглавлениеDen Rest des Tages schaute ich immer wieder heimlich über die Schulter zu dem neuen Jungen und merkte, dass alle anderen dasselbe taten.
Die meiste Zeit hielt er den Kopf tief gesenkt, aber hin und wieder erwischte ich ihn dabei, wie er zu mir herübersah. Er hatte die merkwürdigste Augenfarbe, die ich je gesehen habe – wie ein Meer, aber an einem halb sonnigen, halb bedeckten Tag. Sie waren grau und silbrigblau mit goldbraunen Flecken darin. Sie erinnerten mich an einen Film, den ich einmal über Löwen gesehen hatte. Der Kameramann hatte so nah an das Gesicht des Löwen herangezoomt, dass man nur noch seine Augen sehen konnte. Die Augen des neuen Jungen waren genau wie die Löwenaugen. Man wollte gar nicht mehr aufhören hineinzustarren.
Als Tom letztes Jahr in unsere Klasse kam, habe ich ihn auch oft angestarrt. Ich stellte mir vor, dass er aus einer amerikanischen Spionfamilie kam – so wie die aus den Filmen. Er erzählte mir später, dass er schon dachte, dass ich eine Meise hätte. Das dachte der neue Junge vermutlich auch, aber es ist schwierig, neue Leute nicht anzustarren, besonders, wenn sie Löwenaugen haben.
In der ersten Stunde hatten wir Erdkunde, deshalb konnten wir nicht aufstehen und den neuen Jungen begrüßen. In der Pause suchte ich dann auf dem Pausenhof nach ihm, konnte ihn aber nirgends finden. In der zweiten Stunde hatten wir Sport, aber der neue Junge machte nicht mit; er saß in der Ecke und starrte seinen Rucksack an, der rot und sehr schmutzig war und einen schwarzen Streifen darauf hatte. Bestimmt hatte er seine Sportsachen vergessen, weil sein Rucksack ganz leer und schlaff aussah. Ich versuchte, ihm zuzuwinken, aber er schaute überhaupt nicht hoch, nicht ein einziges Mal.
Beim Sport stelle ich mir immer vor, dass ich für ein Abenteuer mit Tim und Struppi trainiere und deshalb superschnell sein muss. Das Problem dabei ist bloß, dass meine Beine noch nicht so lang sind, wie ich sie gern hätte. Selbst wenn ich so stark abspringe, wie ich kann, bleibe ich irgendwie immer mitten im Sprung hängen. Jedes Mal wünsche ich mir zum Geburtstag, dass ich mindestens zehn Zentimeter wachse, und ich trinke auch so viel Milch, wie ich kann, damit sich meine Knochen strecken. Aber obwohl ich jetzt schon neundreiviertel bin, bin ich seit meinem letzten Geburtstag nur knapp vier Zentimeter gewachsen. Ich versuchte also mit aller Kraft, vor den Augen des neuen Jungen schon beim ersten Mal über die Stange zu springen, blieb aber hängen. Zum Glück bekam er das aber gar nicht mit, weil er die ganze Zeit seinen Rucksack anstarrte.
Danach hatten wir Mittagspause, und Josie, Tom, Michael und ich beschlossen, den neuen Jungen zu suchen, damit er nicht ganz allein war. Wir warteten direkt neben dem Tor zum Schulhof, aber er kam nicht. Tom ging sogar in die Jungentoilette, um nachzuschauen, weil er sich an seinem ersten Tag selbst dort versteckt hatte, als er noch niemanden kannte. Aber da war auch niemand.
»Vielleicht isst er aus Versehen mit den Kleinen?«, fragte Josie. Aber im Speisesaal fanden wir ihn auch nicht.
Am Nachmittag hatten wir Geschichte und wurden in Gruppen eingeteilt. Der neue Junge durfte allein sitzen und musste nicht mitmachen. Mrs Khan saß länger bei ihm als bei den Gruppen, und sie zeigte ihm Dinge in einem neuen Arbeitsheft.
»Vielleicht ist er taub?«, flüsterte jemand.
»Vielleicht kann er kein Englisch?«, murmelte jemand anderes.
»Irgendetwas ist auf jeden Fall nicht in Ordnung mit ihm«, wisperten alle.
Ich glaube nicht, dass auch nur einer von uns an diesem Nachmittag irgendetwas über Gladiatoren zur Zeit der Römer lernte, weil wir alle viel zu sehr damit beschäftigt waren, uns über den neuen Jungen zu unterhalten. Er bekam das bestimmt mit, weil sein Gesicht die ganze Zeit rot war. Dann, in der letzten Pause, verschwand er wieder.
»Er muss drinnen sein«, sagte Michael, nachdem wir den ganzen Schulhof schon zum dritten Mal abgesucht hatten. Inzwischen waren die Zitronendrops in meiner Jackentasche ganz klebrig geworden und sahen aus wie knallgelbe Fussel.
Nach Schulschluss redeten immer noch alle über den neuen Jungen und überlegten, wer er wohl war. Ich glaube, das lag daran, dass ein ganzer Tag vergangen war und niemand irgendetwas über ihn herausgefunden hatte, abgesehen von seinem Namen. Nicht einmal Clarissa – und die saß immerhin direkt neben ihm!
Die Leute waren den ganzen Tag über ständig zu ihr gerannt, um sie zu fragen, ob der neue Junge ihr irgendetwas erzählt hätte, aber sie schüttelte nur den Kopf und sagte, dass er ein Arbeitsheft für die Kleinen benutze und dass er vermutlich nicht besonders gut im Lesen und Schreiben sei.
Auf dem Weg zur Bushaltestelle sahen wir, dass alle um Jennie herumstanden. Jennie ist in der Schule berühmt dafür, immer über alles Bescheid zu wissen, also rannten auch wir zu ihr, um zu hören, was sie zu sagen hatte.
Jennie geht in unsere Parallelklasse und hat die längsten Haare der ganzen Schule. Sie spioniert den Leuten gern hinterher und erzählt dann Geschichten über sie. Manchmal stimmen die Geschichten, aber meistens sind sie nur halb wahr, weil sie noch Dinge dazuerfindet. Aber trotzdem glauben ihr alle. Manchmal denke ich, dass die Leute gern eine Lüge glauben, selbst wenn sie wissen, dass es eine Lüge ist, weil Lügen aufregender als die Wahrheit sind.
Als wir näher herankamen, hörten wir, wie Jennie allen erzählte, dass der Junge an seiner alten Schule etwas Schlimmes getan habe und es zu gefährlich sei, ihn zu uns auf den Schulhof zu lassen. Aber ich glaubte ihr nicht, und Michael auch nicht, weil er sie fragte, woher sie das so genau wisse. Jennie wurde wütend und schwor hoch und heilig, dass sie gehört habe, wie Mr Owen vor dem Lehrerzimmer mit Mrs Timms sprach, und dass beide gesagt hätten, wie sehr ihnen Mrs Khan leidtue. Und wie froh sie seien, dass der neue Junge nicht in ihrer Klasse sei, weil es nicht leicht werden würde, mit ihm zurechtzukommen. Aber bevor wir ihr noch weitere Fragen stellen konnten, hupte Jennies Dad in seinem Auto nach ihr, und sie rannte los.
Wir schauten wieder auf das Schultor, um zu sehen, ob der neue Junge endlich herausgekommen war. Aber wir konnten ihn nirgends entdecken.
»Er ist bestimmt schon weg«, bemerkte Josie.
Tom und Michael nickten. »Lasst uns noch zwei Minuten warten«, sagte ich und hoffte, dass er doch noch drinnen war. Und ein paar Sekunden später kam der neue Junge tatsächlich aus der Tür! Er ging an Mrs Khans Hand und hielt den Blick auf den Boden gesenkt. Eine Frau, die bei den Bänken gewartet hatte, rief plötzlich »Huhuuu!« und rannte zu ihnen hinüber. Sie trug einen langen braunen Mantel, eine Wollmütze und einen knallroten Schal. Sie stand lange bei Mrs Khan und redete mit ihr und nickte furchtbar oft, aber wir standen zu weit weg, um zu hören, was sie sagten.
»Ob das wohl seine Mum ist?«, fragte Josie. Ich glaubte es nicht, weil der Junge sie überhaupt nicht umarmte und noch immer ganz schüchtern wirkte.
»Komm mit«, sagte Michael. Er zeigte auf seine Armbanduhr, die wie ein U-Boot piepte. Michael hat eine besondere Uhr, die ihm sagt, wann der nächste Bus kommt. Sie soll ihm eigentlich dabei helfen, pünktlich zu sein, aber in Wirklichkeit stößt er ihretwegen nur noch häufiger gegen Gegenstände.
»Nein! Warte!«, sagte ich. Und bevor ich noch darüber nachdenken konnte, rannte ich zu dem neuen Jungen hinüber.
»Hallo!«, sagte ich und tippte ihm auf die Schulter.
Mrs Khan und die Frau mit dem roten Schal schauten auf mich herunter. Ich holte die Zitronendrops heraus. »Hier!«, sagte ich und hielt sie ihm hin. Es war mir ein bisschen peinlich, weil sie ganz aufgequollen waren. Aber sie würden immer noch gut schmecken.
Vielleicht hatte ich zu laut gesprochen, denn der neue Junge trat erschrocken einen Schritt zurück.
»Ist schon gut, Ahmet, du kannst eins nehmen«, sagte die Frau und bewegte dabei die Hände wie in Zeichensprache.
Aber der Junge nahm nur ihre Hand und versteckte sich hinter ihr. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, weil ich noch nie jemanden so erschreckt hatte, dass er sich vor mir verstecken wollte. Die Frau sprach wieder ganz sanft mit ihm, und nach ein paar Sekunden nahm er den Drops und sah mich direkt mit seinen Löwenaugen an. Dann versteckte er sich wieder.
»Danke«, sagte die Frau. Sie lächelte mich an. Ich mochte ihre dunkelbraunen Augen, weil sie so freundlich schauten, und ihre rosigen Wangen. »Ahmet wird ihn sicher schon auf der Fahrt nach Hause essen.«
Ich nickte und rannte zurück zu Josie und Tom, die auf mich warteten. Ich war besonders froh, weil Mrs Khan mich angelächelt und mir sogar zugezwinkert hatte – genau wie mein Dad früher, wenn er fand, dass ich etwas besonders gut gemacht hatte, oder wenn er meine Mum auf den Arm nahm. Wenn ich erwachsen bin, werde ich anderen Menschen auch so zuzwinkern wie er, damit sie sich besonders fühlen. Und als wir nach Hause gingen, beschloss ich, Ahmet so oft wie möglich zuzublinzeln, wenn er mich ansah.