Читать книгу Der Junge aus der letzten Reihe - Onjali Q. Raúf - Страница 6
40 Mal zwinkern
ОглавлениеAm nächsten Tag, und an den Tagen danach auch, lächelte ich Ahmet an und zwinkerte ihm freundlich zu, sooft ich konnte. Mein Ziel war es, ihm mindestens vierzig Mal am Tag zuzuzwinkern, aber nach einer Weile fühlten sich meine Augenbrauen ganz komisch an. Ich merkte, dass Ahmet niemand anderen mehr ansah, nur noch mich. Er fand mein Zwinkern also bestimmt interessant. Aber dann sah Michael, wie ich versuchte, mit beiden Augen zu zwinkern, erst mit dem einen, dann mit dem anderen, und sagte, ich sähe aus, als müsste ich zum Arzt. Ich muss wirklich etwas komisch ausgesehen haben, weil ich nicht so gut mit dem linken wie mit dem rechten Auge zwinkern kann. Also beschloss ich, nicht mehr ganz so viel zu zwinkern.
In dieser Woche brachte uns Mrs Khan alles über Fotosynthese bei und gab jedem von uns einen kleinen Topf mit einem winzig kleinen Keimling darin, um den wir uns kümmern sollten. Alle freuten sich sehr, vor allem, weil derjenige mit der schönsten Pflanze einen Preis bekommen würde. Ahmet bekam auch einen Topf, und ich glaube, dass er sich freute, weil er den Keimling die ganze Zeit anschaute. Ich flüsterte meiner Pflanze eine Menge fröhlicher Worte wie »Regenbogen« und »Popcorn« und »Marshmallows« zu, weil ich irgendwo gelesen hatte, dass Pflanzen schneller wachsen, wenn man ihnen von schönen Dingen erzählt. Ich hatte noch nie einen Preis gewonnen. Nicht mal auf dem Jahrmarkt. Ich hoffte, dass ich diesmal gewinnen würde, wenn ich mich wirklich richtig stark bemühte und ständig mit meiner Pflanze redete. Aber wenn ich nicht gewinnen würde, wollte ich, dass es zumindest Ahmet tat, weil er seinen Keimling wirklich zu mögen schien.
Allerdings machte ich mir Sorgen wegen Brendan-dem-Quälgeist-Brooks. Das ist unser Klassenschläger. Seine Wangen sind immer rot, weil er die meiste Zeit damit verbringt, Kleinere über den Schulhof zu jagen. Er ist nicht besonders schlau und hasst alle, die es sind. Wenn jemand eine Eins oder einen Preis bekommt, versucht er, denjenigen nach Schulschluss zu verhauen. Als er Ahmets Topf ansah, verengte er die Augen zu Schlitzen. So macht er es immer, wenn er etwas Gemeines vorhat. Und das gefiel mir überhaupt nicht.
Sein Lieblingstrick ist es, einem ein Bein zu stellen. Er schlägt auch gern mal gegen das Tablett mit dem Mittagessen, sodass das Essen einem auf die Brust schwappt wie Eierpampe. Das hat er schon ein paar Mal mit mir gemacht. Manchmal wird er dabei erwischt. Aber meistens nicht. Und selbst, wenn er erwischt wird, muss er nicht nachsitzen.
Die meisten Lehrer scheinen ihn irgendwie zu mögen. Wenn er lächelt, sieht er so aus wie einer von den Jungen, die im Fernsehen im Kirchenchor auftreten. Vielleicht liegt es daran. Mr Thompson nennt ihn immer einen »Bengel«, was ein gutes Wort sein muss, weil er Brendan-dem-Quälgeist dabei zuzwinkert, ihm auf die Schulter klopft und ihn dann wieder laufenlässt. Seitdem hassen ihn alle in der Klasse noch viel mehr – außer natürlich Liam und Chris, das sind seine einzigen Freunde. Selbst die Mobber aus den höheren Klassenstufen finden ihn nervig. Es ist schon lustig, dass die meisten Mobber andere Mobber nicht leiden können. Vielleicht fühlen sie sich dann nicht mehr so besonders. Aber in der Schule wissen alle, wer die Mobber sind, und auch, wen sie am liebsten mobben. Trotzdem mobben niemals zwei Mobber dieselbe Person. Es ist schon ein seltsames System. Aber so sind nun mal die Regeln, und alle halten sich daran. Und die Lehrer bekommen davon nichts mit.
Aber Mrs Khan ist anders.
Sie scheint Brendan-den-Quälgeist nicht so gern zu mögen wie die anderen Lehrer. Sie hat ständig ein Auge auf ihn, und seit sie unsere Klassenlehrerin ist, ist er viel vorsichtiger. Aber ich passe trotzdem lieber auf.
Kurz nachdem Ahmet in unsere Klasse kam, kursierten eine Menge Gerüchte über ihn. Sie gingen auf dem Schulhof herum wie bei der Stillen Post.
Die meisten glaubten Jennie und sagten, der neue Junge sei bestimmt gefährlich und dürfe deshalb in den Pausen nicht raus. Aber dann erzählten andere, dass er eine superansteckende Krankheit habe. Das Krankheitsgerücht jagte Clarissa solche Angst ein, dass sie versuchte, sich so weit wie möglich von ihm wegzusetzen, ohne vom Stuhl aufzustehen. Einmal beugte sie sich so weit weg, dass sie auf den Boden fiel!
Ich fand überhaupt nicht, dass Ahmet auch nur im Geringsten gefährlich oder ansteckend aussah. Das Gerücht, das am wahrscheinlichsten klang, war, dass er aus einer superreichen Familie stammte und dass seine Eltern ihn undercover auf unsere Schule geschickt hätten, damit er nicht entführt würde. Michael sagte, dass Entführer nicht an unserer Schule nach ihm suchen würden, weil sie nicht in einer schicken Gegend liegt, und Tom war ganz seiner Meinung.
Ich wollte Ahmet fragen, ob die Gerüchte über die Entführer stimmten und ob er uns als Bodyguards brauchte. Aber er machte immer noch all seine Aufgaben allein, und in jeder Pause und zum Mittagessen verschwand er, sodass niemand außer Clarissa mit ihm reden konnte. Und die wollte nicht mit ihm reden! Ich versuchte, ihm zuzulächeln und »Hallo« zu flüstern, aber Mrs Khan erwischte mich dabei und sagte, ich solle mich gefälligst auf meine Arbeit konzentrieren.
Als Nächstes versuchte ich, ihm einen Zettel zu schicken, den ich zu einem Flieger gefaltet hatte – das kann ich nämlich gut –, aber stattdessen knallte er Nigel an den Kopf. Nigel ist eine alte Petze und hat mich sofort verraten. Mrs Khan kam zu mir und nahm mir den Zettel weg und las ihn. Sie schüttelte den Kopf, aber ich glaube, dass sie meine Zeichnung auch ein bisschen lustig fand, weil ihr Mund ein wenig lächelte, was aber nur ich sehen konnte. Es war allerdingst zu riskant, noch mehr Zettel per Luftpost zu schicken. Zumal ja eine Petze in der Nähe war.
In der Pause am nächsten Tag beschlossen Josie, Tom, Michael und ich, Ahmet zu folgen und herauszufinden, wohin er ging. Aber Mrs Khan erwischte uns dabei und verbot es uns. Sie wirkte nicht besonders wütend, aber sie sagte, dass Ahmet gerade noch viel Rückzugsraum brauche und dass es zu seinem eigenen Besten sei, also versprachen wir, ihm nicht mehr zu folgen.
»Was heißt ›Rückzugsraum‹?«, fragte Josie, als wir wieder auf den Schulhof hinausgingen. Keiner von uns wusste das so genau, nicht einmal Michael, obwohl er sagte, dass Ahmet vielleicht ein spezielles Zimmer benötige, so wie ein sehr kranker Mensch im Krankenhaus. Vielleicht hatte er also doch eine ansteckende Krankheit.
Aber bald fanden wir heraus, was »Rückzugsraum« wirklich bedeutete und warum Ahmet so viel davon brauchte.