Читать книгу Der Junge aus der letzten Reihe - Onjali Q. Raúf - Страница 4

Der leere Stuhl

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Früher gab es ganz hinten in meiner Klasse einen leeren Stuhl. Er war gar nichts Besonderes. Er war nur leer, weil niemand auf ihm saß. Aber dann, genau drei Wochen nach den Ferien, begann für mich und meine drei besten Freunde die aufregendste Zeit unseres bisherigen Lebens. Und alles fing mit diesem Stuhl an.

Das Beste an einem neuen Schuljahr ist, dass man Extrataschengeld bekommt, um sich davon neue Schreibsachen zu kaufen. In den Sommerferien machen meine Mum und ich immer einen Ausflug, damit ich mir ein neues Schreibset kaufen kann. Ich freue mich jedes Jahr so sehr darauf, dass sich meine Füße ganz zappelig anfühlen. In unserer Nähe gibt es nicht so viele schöne Schreibwarenläden – hier haben sie immer nur langweilige Dinosaurier- oder Prinzessinnen-Sets. Deshalb fährt Mum immer mit mir in die Stadt, wo es ganze Straßen voller Einkaufsläden gibt.

Letztes Jahr habe ich mir ein Weltraum-Set gekauft, mit Bildern von einem Astronauten, der am Mond vorbeifliegt. Es war heruntergesetzt, deshalb konnte ich mir ein Federmäppchen, ein Geodreieck, einen Zirkel, zwei Radiergummis und ein langes Lineal kaufen. Das Lineal mochte ich am liebsten, weil der Astronaut darin in Wasser mit Silbersternchen schwebte. Ich habe so viel damit gespielt, dass der Astronaut irgendwann in einer Ecke stecken blieb.

In diesem Jahr habe ich mir ein Tim-und-Struppi-Set gekauft. Ich liebe Tim. Auch wenn er nur eine Figur in einem Comicbuch ist, will ich so sein wie er, wenn ich groß bin. Reporter zu sein und Geheimnisse aufzudecken und Abenteuer zu erleben, muss der beste Beruf der Welt sein. Seit ich denken kann, habe ich zum Geburtstag immer das neueste Tim-und-Struppi-Heft bekommen. Und Mum bringt mir alle alten Comics mit, die ihre Bücherei wegwerfen will, deshalb habe ich jetzt schon eine ganze Sammlung. Ich habe sie alle mindestens schon fünfzig Mal gelesen. Allerdings werde ich mir ein anderes Tier aussuchen müssen, mit dem ich dann reise, weil ich allergisch gegen Hunde bin. Aber ich glaube nicht, dass Katzen oder Hamster oder selbst dressierte Mäuse auch nur halb so nützlich sind wie Tims Hund Struppi. Und obwohl ich schon sehr lange darüber nachdenke, ist mir noch keine Lösung für dieses Problem eingefallen.

Weil das Tim-und-Struppi-Schreibset viel teurer war als das Astronauten-Set, konnte ich nur ein Federmäppchen, ein kleines Lineal und zwei Radiergummis kaufen. Ich habe sehr lange darüber nachgedacht, aber dann fand ich doch, dass es sich lohnen würde, mein gesamtes Taschengeld dafür auszugeben. Vor allem, weil Struppi bellt und Kapitän Haddocks Stimme »Hunderttausend heulende Höllenhunde!« ruft, wenn man auf einen Knopf auf dem Federmäppchen drückt. Ich habe schon Ärger bekommen, weil ich mitten im Matheunterricht darauf gedrückt habe, aber wenn man in Mathe nicht mal sein Federmäppchen bellen lassen kann, dann hat das alles ja überhaupt keinen Sinn.

Ich mag Mathe nicht. Einfache Rechenaufgaben sind in Ordnung, aber gerade lernen wir schriftliche Division und Quadratzahlen und solche Dinge, die mein Hirn einfach nicht gern tut. Manchmal frage ich noch mal nach, wenn ich etwas nicht verstehe. Und zum Glück helfen mir Tom, Josie und Michael, wenn ich nicht mehr weiterweiß. Sie sind meine besten Freunde. Wir machen alles zusammen.

Tom hat kurzes, stacheliges Haar und ein schiefes Grinsen. Er ist der Kleinste in unserer Gruppe, aber auch der Lustigste. Er ist erst letztes Jahr in unsere Klasse gekommen, weil seine Eltern aus Amerika hierhergezogen sind, aber wir haben uns sofort angefreundet. Er hat drei ältere Brüder, die ihn ständig ärgern. Nicht ernsthaft – nur zum Spaß. Aber ich habe den Verdacht, dass sie ihm auch das Essen klauen und dass er deshalb so dünn und immer superhungrig ist. Einmal hat er mittags eine ganze Pizza mit Extrabelag und einen doppelten Cheeseburger verdrückt, und danach hatte er immer noch Hunger! Deshalb verstecke ich lieber meine Pausenbrote und Schokoriegel vor ihm.

Josie hat große braune Augen und mindestens eine Million Sommersprossen im Gesicht. Sie ist groß und schlaksig und kaut immer auf ihren Haaren herum. Sie ist das schnellste Mädchen in unserem Jahrgang und kann von der entgegengesetzten Seite des Fußballfeldes einen Ball am Torwart vorbei ins Tor schießen. Sie ist der coolste Mensch, den ich kenne, und ich kenne sie schon, seit wir drei Jahre alt sind. Unsere Mums sagen, dass wir schon vom ersten Tag im Kindergarten an Freundinnen waren. Und deshalb wurden sie kurz darauf ebenfalls Freundinnen. Josie kommt in all meinen Erinnerungen aus der Schulzeit vor. Wir mussten letztes Jahr sogar zum ersten Mal zusammen nachsitzen – wegen eines Hamsters namens Herbert.

Josie hatte gehört, wie einer dieser Mobber aus der Stufe über uns sagte, dass er unseren Klassenhamster Herbert nach dem Unterricht in der Toilette runterspülen würde. Deshalb beschlossen wir, gemeinsam auf Hamsterrettungsmission zu gehen. Wir versteckten Herbert in meinem Rucksack und nahmen ihn einfach mit zu mir nach Hause. Aber natürlich fand Mum es heraus und zwang mich, ihn am nächsten Tag wieder zurückzubringen. Ich versuchte noch, dem langweiligen Mr Thompson zu erklären, was passiert war, aber der wollte mir gar nicht zuhören und erteilte mir zur Strafe Nachsitzen. Und obwohl Josie das gar nicht musste, stand sie auf und sagte, sie hätte mitgeholfen, Herbert zu klauen – nur damit wir zusammen nachsitzen konnten. Du weißt, dass eine Freundin deine beste Freundin ist, wenn sie freiwillig mit dir nachsitzt.

Dann ist da noch Michael. Er hat den tollsten, bauschigsten Afro von allen Jungs in unserem Jahrgang. Die meisten halten ihn für merkwürdig. Aber wir nicht. Seine Brille ist immer kaputt, und seine Schnürsenkel sind nie richtig zugebunden, sodass er ständig darüber stolpert und gegen Gegenstände stößt. Aber wir sind alle so daran gewöhnt, dass es uns gar nicht mehr auffällt. Meistens ist er ganz still, aber wenn er dann doch etwas sagt, gucken die Erwachsenen immer ganz beeindruckt und sagen, das sei aber »genial« oder »komplex«, oder sie benutzen andere seltsame Wörter, die man nicht gleich versteht. Ich nehme an, dass sie ihn für schlau halten. Erwachsene finden es immer toll, schwierige Wörter für einfache Dinge zu erfinden.

Die anderen machen sich immer lustig über Michael, weil er nicht schnell laufen oder einen Ball gerade schießen kann, aber ihm ist das egal. Vielleicht macht es ihm nichts aus, weil er reich ist. Sein Dad ist Professor und seine Mum Rechtsanwältin, und weil sie immer viel zu tun haben, kaufen sie ihm die neuesten Geräte und Bücher und die allercoolsten Spiele. Als wir letztes Jahr zu seinem Geburtstag bei ihm eingeladen waren, waren wir zum ersten Mal in seinem Zimmer. Es sah darin aus wie in einem Spielzeugladen. Wahrscheinlich ist es viel leichter, sich nicht darum zu kümmern, was andere Leute denken, wenn man sich mit so vielen Spielsachen ablenken kann.

Josie und Michael wetteifern immer miteinander, wer am meisten Sternchen und Einsen bekommt. Michael ist der Beste in Geschichte, und Josie ist die Beste in Mathe. Aber ich bin besser im Lesen und in Rechtschreibung als beide zusammen.

Josie hasst Lesen und liest außerhalb der Schule absolut nie. Sie sagt, dass ihr dafür die Fantasie fehle. Ich finde das merkwürdig, denn wie kann man bloß keine Fantasie haben? Vielleicht hat Josie sie verloren, als sie letzten Sommer vom Fahrrad gefallen ist. Mum sagt, Menschen ohne Fantasie sind innerlich tot. Ich glaube nicht, dass Josie irgendwo tot ist – dafür redet sie zu viel.

Wenn man drei beste Freunde hat, macht die Schule selbst an den allerlangweiligsten Tagen Spaß. Wobei der Unterricht in diesem Jahr viel lustiger geworden ist – und das liegt an unserer neuen Lehrerin, Mrs Khan.

Mrs Khan hat ganz lockiges Haar und duftet nach Erdbeermarmelade – was viel besser ist, als nach alten Socken zu riechen, so wie Mr Thompson. Sie ist neu an der Schule und besonders schlau – viel schlauer, als Mr Thompson es jemals war. Und sie gibt uns freitags immer eine Belohnung, wenn wir uns Mühe gegeben haben. Die anderen Lehrer machen das nicht.

Mrs Khan denkt sich für uns immer alle möglichen interessanten Dinge aus, die wir noch nie gemacht haben. In der ersten Woche nach den Ferien half sie uns dabei, Musikinstrumente aus Sachen zu basteln, die wir in der Recycling-Tonne gefunden haben, und in der zweiten Woche las sie uns aus einem ganz neuen Comicbuch vor, das es noch gar nicht in der Schulbücherei gab.

In der dritten Woche passierte dann etwas, das uns so neugierig machte, dass es nicht einmal Mrs Khan schaffte, uns richtig für den Unterricht zu interessieren.


Es war am dritten Dienstag nach den Ferien. Mrs Khan hatte gerade das Klassenbuch aufgeschlagen, als es laut an der Tür klopfte. Es war Mrs Sanders, die Rektorin. Mrs Sanders trägt immer dieselbe Frisur und späht über den Rand ihrer Brille hinweg, wenn sie mit jemandem spricht. Alle haben Angst vor ihr, denn wenn man bei ihr nachsitzen muss, lässt sie einen lange Wörter aus dem Wörterbuch auswendig lernen.

Deshalb verstummten alle, als Mrs Sanders hereinkam. Sie sah sehr ernst aus und trat zu Mrs Khan, und wir überlegten alle, wer jetzt wohl Ärger bekommen würde. Sie flüsterte und nickte ein paar Sekunden lang, dann drehte sie sich plötzlich um, sah uns über ihre Brille hinweg an und zeigte auf den leeren Stuhl ganz hinten in der Klasse.

Wir drehten uns alle um, um einen Blick auf den leeren Stuhl zu werfen.


Wie ich schon sagte, war es ein ziemlich gewöhnlicher Stuhl, und er war leer, weil Dena kurz vor den Ferien nach Wales gezogen war. Niemand vermisste sie wirklich, nur ihre beste Freundin Clarissa. Dena war eine ziemliche Angeberin und erzählte ständig, wie viele Geschenke sie von ihren Eltern bekommt und wie viele Sporthosen sie hat und all solche Dinge, die niemanden interessieren. Sie saß gern in der letzten Reihe, weil Clarissa und sie dort heimlich Bilder von ihren Lieblingspopstars malen oder über alle reden konnten, die sie nicht mochten. Und da nach den Ferien niemand anderes neben Clarissa sitzen wollte, war der Stuhl leer geblie ben.

Mrs Khan und Mrs Sanders unterhielten sich noch ein paar Sekunden lang im Flüsterton, und dann ging Mrs Sanders wieder aus der Tür hinaus. Mrs Khan schien auf etwas zu warten, also warteten wir ebenfalls. Es war alles sehr ernst und aufregend. Aber bevor wir darüber rätseln konnten, was los war, kam Mrs Sanders schon zurück. Und diesmal war sie nicht allein.

Hinter ihr stand ein Junge. Ein Junge, den niemand von uns bisher gesehen hatte. Er hatte kurze dunkle Haare und große Augen, die kaum blinzelten, und blasse Haut.

»Alle mal herhören!«, sagte Mrs Khan. Der Junge trat neben sie. »Das hier ist Ahmet, und er wird von jetzt an in diese Klasse gehen. Er ist gerade erst nach London gezogen. Ich hoffe, dass ihr euch alle Mühe gebt, damit er sich willkommen fühlt.«

Wir schauten schweigend zu, wie Mrs Sanders ihn zu dem leeren Stuhl führte. Er tat mir leid, weil er es bestimmt nicht schön finden würde, neben Clarissa zu sitzen. Sie vermisste Dena immer noch, und alle wussten, dass sie Jungs hasste – sie sagt immer, dass sie dumm sind und stinken.

Es gehört bestimmt zu den schlimmsten Dingen auf der Welt, irgendwo neu zu sein und neben jemandem sitzen zu müssen, den man nicht kennt. Besonders neben jemandem, der einen böse anstarrt, so wie Clarissa es tat. In diesem Moment schwor ich mir, dass ich mich mit dem neuen Jungen anfreunden würde. Ich hatte an dem Morgen zufällig ein paar Zitronendrops in meiner Jackentasche und nahm mir vor, ihm in der Pause einen davon zu geben. Und ich würde Josie, Tom und Michael fragen, ob sie auch seine Freunde sein wollten.

Immerhin sind vier neue Freunde besser als keiner. Besonders für einen Jungen, der so verängstigt und traurig aussah wie der, der jetzt ganz hinten bei uns in der Klasse saß.

Der Junge aus der letzten Reihe

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