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UNTERRICHTSSTUNDEN

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(Susannens Aufzeichnungen vom 18. März 1945)

»Ich weiß alles, und Entschuldigungen werden nicht entgegengenommen!« rief Aglaia lachend, als ich eintrat. »Man läßt die greise Mentorin einsam und gramvoll warten und erlustiert sich derweilen auf der Gasse mit lockenhäuptigen Epheben! So – sehr schön! Das will ich mir merken!«

Ich sank, immer noch nach Atem ringend, in die Knie, küßte andeutungsweise den Saum von Aglaias Gewand, schlug dreimal gegen meine Brust und hob dann, wortlos um Vergebung flehend, meine Hände in die Höhe.

Aglaia half mir mit dem ganzen Aufwand ihrer wuchtigen Person auf die Füße und drückte mich so stürmisch auf den Diwan, daß Berti, der dort schon saß, Mühe hatte, seine zierliche Pose mit der Teetasse in der Hand beizubehalten. Auch ich bekam nun meinen Tee, den Aglaia herrlich wie niemand sonst zu bereiten wußte und den sie dann unter »O je!«-Rufen so verschwenderisch einschenkte, daß die Hälfte auf das Tischtuch oder die Kleider der Gäste rann.

Ach, Aglaia war einmalig! In ihrer tiefen, honigdunklen Stimme lag die ganze Wärme eines intensiven Herzens. Ihre groß angelegten Gebärden waren die bildhaften Äußerungen einer weiten, vorurteilslosen Seele. Fremdes Schicksal war ihr so gegenwärtig wie das eigene. Sie konnte über das Mißgeschick des gleichgültigsten Menschen bittere Tränen vergießen und an seinem Glück mit Lachen und Freudensprüngen teilnehmen, die bei ihrer massigen Gestalt und ihren Jahren unsäglich überraschend und komisch wirkten.

Es ist schwer, ihr Bild zu umreißen, aber eines steht fest: in ihrer Gegenwart glaubte man zu wissen, daß die Welt eine göttliche Schöpfung sei und das Leben eine Gnade. – Arme Freundin, dein eigenes Schicksal ist eher dazu angetan, den satanischen Ursprung der Welt und die Sinnlosigkeit aller Bewährung im Leben zu beweisen!

»Berti hat mir schon andeutungsweise von deinem Adonis erzählt«, kicherte Aglaia.

»Kennen Sie ihn denn?« fragte ich erstaunt.

»O ja, ein wenig«, murmelte Berti, »eigentlich bloß vom Sehen«, fügte er rasch hinzu.

»Ich kenne ihn selbst nur flüchtig und weiß nicht einmal seinen Namen.«

»Schade«, gab er zurück. »Wenn Sie besser mit ihm befreundet wären, hätten Sie vielleicht Gelegenheit gehabt, die berühmte … (er nannte den Namen der rumänischen Gastsängerin), die jetzt an die Metropolitan verpflichtet wurde, als Traviata zu hören.«

Ich machte ein dummes Gesicht und stellte die Tasse weg.

»Wieso … wieso wissen Sie denn das?«

»Was?«

»Na, daß ich mit diesem Jüngling in der Oper war und noch dazu wirklich bei Traviata.«

»Das wußte ich zwar nicht, aber ich höre es ohne Staunen, da ich das Vergnügen hatte, dabei zu sein, als Ihrem Freund die Eintrittskarten eingehändigt wurden.«

»Er ist nicht mein Freund, Berti, so hören Sie doch auf, mich zu necken! Aber jetzt möchte ich wissen, wie das mit den Opernkarten war.«

Wir saßen in der gemütlichen Sitzecke von Aglaias Atelier. Zu unseren Füßen war die elektrische Sonne eingeschaltet. Aglaia schnitt große Brotscheiben vom Laib herunter, bestrich sie mit Sardellenbutter und legte dann noch Wurst darauf, wobei sie immer, wenn sie sich unbeobachtet glaubte, die schönsten Wurststücke an die Siamkatze verfütterte, die nach alter Gepflogenheit ungeniert auf dem Teetisch hockte. Die hohe Stehlampe beleuchtete Aglaias Lehnstuhl, den Tisch und den Diwan, auf dem Berti und ich saßen. Der Rest des weiten Raumes lag im Dunkel. Aglaias Plastiken, große Gipsabgüsse in tragisch erstarrter Gebärde, halbbehauene Marmorblöcke monumentalen Gepräges und noch unfertige, in feuchte Tücher gewickelte Tonfiguren umragten uns und sahen so aus, als seien sie gerade in diesem Augenblick stehengeblieben, um aus respektvoller Entfernung und in konzentriertem Schweigen Bertis Erzählung mitanzuhören.

Die Sache hatte sich folgendermaßen zugetragen:

Berti, der wie jeder unglückliche Reporter dauernd auf der Suche nach Neuem, Aufregendem und Interessantem sein mußte – oder doch wenigstens nach Dingen, die bei den Zeitungslesern als solche galten –, hatte das Café Heinrichshof zu einem seiner Standplätze erwählt. Ausländische Gäste, vornehme und weniger vornehme Reiche, Filmleute, arrivierte Künstler, mondäne Frauen und Snobs aller Art konnte man in diesem repräsentativen Stadtkaffeehaus um jede Tageszeit beobachten. Die Nähe der Opernkreuzung, also eines Verkehrsbrennpunktes, bot ebenfalls Gelegenheit zu Erlebnissen und Erfahrungen, deren Schilderung dann den Wissensdurst der Pressekonsumenten befriedigen sollte.

Aus ähnlichen Gründen mochte wohl auch der junge blonde Mensch in das Café kommen, den Berti öfters hier antraf und der mit unverhohlenem Interesse an allem teilnahm, was sich im Saal begab. Zuerst glaubte Berti in ihm einen Kollegen sehen zu müssen; da er ihm aber niemals bei Presseempfängen oder in Redaktionen begegnete, gab er diese Annahme auf. Sollte es sich also um einen Detektiv handeln? Es war denkbar, ja wahrscheinlich, daß die Polizei oder ein privates Detektivbüro einen Vertreter nach dem mondänen Lokal entsandte. Aber wenn dies zutraf, so hatten die Vorgesetzten des jungen Burschen mit seiner Wahl einen Fehlgriff getan. Sein Betragen als Beobachter war viel zu auffällig. Niemand, der ihn auch nur einen Augenblick lang betrachtete, konnte annehmen, daß er die Illustrierte, die er in Händen hielt, tatsächlich las. Seine braunen Augen liefen unablässig von einem Gast zum andern, wobei es manchmal für den Bruchteil einer Sekunde so aussah, als schielte der junge Mensch. Leute, die still an ihren Tischen saßen oder in gedämpftem Ton und mit diskretem Gehaben Gespräche führten, schienen ihm uninteressant, obgleich Berti ihm hätte sagen können, daß gerade sie der Beobachtung würdig seien. Gäste hingegen in effektvollen Kleidern mit lautem Umgangston und dick aufgetragener Bedeutsamkeit machten auf den jungen Mann einen tiefen Eindruck. Je öfter er ins Kaffeehaus kam, desto sichtbarer wurde es, daß er sich an den letzteren ein Beispiel nahm. Sein ursprünglich eher schüchternes Auftreten wurde etwas zu sicher. Er rief mit hallender Stimme nach dem Kellner, bestellte immer den gleichen »kleinen Nußbraunen« mit einem Nachdruck, als wolle er durch seine Zeche den ganzen Betrieb aufrechterhalten, und er räkelte sich betont lässig in seinem Sessel. Offenbar war er bestrebt, es den modischen jungen Herren gleichzutun, die in tausend kleinen Abwandlungen – aber im Grunde zum Verwechseln ähnlich – zu den Habitués des Hauses gehörten. Diese Herren sprachen untereinander entweder aristokratisch genäselten Dialekt und tauschten übertriebene Höflichkeiten aus, oder sie warfen, dem Zug der Zeit Rechnung tragend, in salopper Sportlichkeit mit »Okay!«, »All right!« und »Hallo Baby!« um sich, womit vielleicht schon ihr ganzer englischer Wortschatz erschöpft war.

Der junge Mann hielt es mit zunehmender Akklimatisierung für angemessen, sich nach den näselnden Herren zu richten, obgleich sich seine gedrungene Sportlererscheinung mit dem muskulösen Nacken für den »Cave-man-Typ« zweifellos besser geeignet hätte. Er selbst gehörte jedenfalls nicht zu all dieser vielversprechenden Jugend, denn er saß immer allein und wurde von den anderen weder mit nasalem »Servus, grüß dich!« noch mit quakendem »Hallo!« angesprochen. Ob er es überhaupt darauf anlegte, Anschluß an die gesellschaftlichen Kreise zu finden, die hier verkehrten, war nicht recht klar, denn er machte gar keine Anstalten, um mit irgend jemandem im Saal ins Gespräch zu kommen. Vorläufig begnügte er sich mit der Rolle des Beobachters, und zwar so naiv unverfroren, daß Berti öfters eine leise Nervosität und manchmal sogar deutlichen Unwillen bei den aufs Korn genommenen Gästen zu bemerken glaubte. Überhaupt wirkte der Jüngling bei aller Mittelmäßigkeit recht auffallend, wozu seine fast platinblonde Mähne (die vielleicht Natur, möglicherweise aber gefärbt war) noch wesentlich beitrug.

Nun hatte anscheinend auch die rumänische Sopranistin, die ein paar Tage vor ihrem Gastspiel nach Wien gekommen war, den Heinrichshof zu ihrem Stammlokal erwählt. Berti kannte sie von dem Presseempfang, der ihr zu Ehren in der rumänischen Botschaft gegeben worden war. Er hatte sogar in seinem Blatt über sie geschrieben und rühmend hervorgehoben, daß die Künstlerin die Rolle der Violetta eigens für ihr Wiener Gastspiel deutsch einstudiert habe, obgleich sie die Sprache nicht beherrsche.

Täglich um die gleiche Zeit betrat die Sängerin energischen Schrittes den Saal und nahm an einem Ecktisch Platz. Zufällig war der junge Mann am ersten Abend in der Nähe gesessen. Von nun an bemühte er sich, immer wieder in ihrer Nachbarschaft Posten zu beziehen.

Obgleich Traviata weder schön noch jung war, wunderte es Berti nicht, daß der kindische Detektiv sie unverwandt betrachtete und Kalbsaugen machte, denn diese Kalbsaugen galten weniger der Weiblichkeit der Diva als ihrem exotischen Gehaben. Sie kam öfters in Begleitung von Herren, mit denen sie bei aufgeregtem Mienenspiel ihres groß angelegten, intelligenten Gesichtes eifrig plauderte. Es war klar, daß in den Gesprächen, die in der temperamentvoll und melodisch dahinrollenden Muttersprache der Frau geführt wurden, einzig von Engagementvorschlägen, Regieanweisungen, Partituren und Proben die Rede war. Die Künstlerin gefiel sich in so pompösen Opernbewegungen, ihre schöne Stimme, die auch im Sprechen die Primadonna ahnen ließ, klang so tragend, ihre Hüte und Pelze wirkten so extravagant, daß des jungen Gimpels Gaffen nur zu begreiflich war.

Zweifellos hatte die Dame den Bewunderer bemerkt, aber an Erfolg gewöhnt, nahm sie seine zudringlichen Blicke als selbstverständliche Huldigung entgegen und schenkte ihnen nicht die mindeste Aufmerksamkeit. Dem alten Oberkellner, der rumänisch sprach, erteilte sie in einem allzu herrscherlichen Ton immer die gleichen Befehle und widmete sich dann für die ganze Dauer ihres Aufenthaltes im Lokal einzig dem jeweiligen Begleiter.

Am Tag vor der Aufführung war sie jedoch allein erschienen. Unglücklicherweise hatte der alte Ober gerade dienstfrei. Ein anderer Kellner trat an ihren Tisch. Ohne hinzusehen, machte sie auf rumänisch ihre Bestellung, und erst als sie merkte, daß der so Angeredete sie nicht verstand, hob sie den Blick, der streng und ärgerlich war, und sagte: »Deitsch ich nix sprechen!«

In diesem Augenblick ereignete sich etwas, womit Berti am allerwenigsten gerechnet hatte: die vor Aufregung ein wenig belegte Stimme des Platinblonden ließ sich vernehmen:

»Die Dame bekommt einen Türkischen, zwei Brioches mit Butter und einen Wermut.«

Der Kellner verneigte sich und ging. Die Sängerin wandte sich belustigt um und musterte eine Sekunde lang ihren unerwarteten Vormund. Dann sagte sie höflich, aber etwas abwesend lächelnd: »Merci!« und steckte ihre große Nase in die Puderdose, die sie bis dahin offen in der Hand gehalten hatte.

Der junge Mann war sehr rot geworden. Man wußte nicht, ob er über seine Impulsivität beschämt oder über seinen Mut erfreut war. Aber er änderte seine Taktik, und als der Ober wieder an ihm vorbeikam, winkte er ihn heran und nannte die Namen einiger ausländischer Blätter, die die Sängerin in den letzten Tagen flüchtig angeschaut hatte. Auch dies war Traviata nicht entgangen; als ihr die Zeitungen gebracht wurden, wandte sie sich nicht an den Kellner, sondern an den Besteller und sagte abermals, diesmal mütterlich-gönnerhaft:

»Merci!«

Der Bursche erhob sich halb von seinem Stuhl und verneigte sich sehr artig und formvollendet. Bald darauf zahlte er seinen Nußbraunen, blieb aber sitzen und verließ das Café erst, als er die Künstlerin ihre Rechnung begleichen sah.

Unmittelbar nach der Gastsängerin brach auch Berti auf. Draußen wartete der junge Mensch bereits. Er hatte ein Taxi herbeigewinkt, öffnete nun den Schlag, half Traviata sehr geschickt und mit Grazie beim Einsteigen und sagte dann zum Chauffeur: »Fahren Sie die Dame zum Hotel Ambassador.«

Nun war es an der Diva, zu reden. Sie tat es dem höflichen jungen Mann zu Ehren sogar französisch. Es waren mehrere rasch abrollende Sätze. Bei den letzten Worten entnahm sie ihrem Täschchen zwei Theaterkarten, die sie ihm mit großer Bühnengeste einhändigte. – Es mochte dieselbe Geste sein, mit der sie in der Vorstellung dem verliebten Alfredo eine Kamelie überreichte. – Jedenfalls war dieser Aufwand an Worten und Gebärden vergeudet, denn der Jüngling, der gerade noch den Weltmann gespielt hatte, stand verdutzt da und betrachtete die Karten in seiner Hand.

Nun schien Berti der Zeitpunkt gekommen, um einzugreifen.

»Die Dame dankt Ihnen für Ihre Liebenswürdigkeit. Sie möchte Ihnen gern eine kleine Freude bereiten, weil sie nicht weiß, wie sie sich revanchieren kann. Sie bittet Sie, diese Opernsitze anzunehmen und sich die morgige Vorstellung anzuhören, in der sie die Hauptrolle singt.«

Traviata schien verstanden zu haben, was Berti sagte, denn sie nickte eifrig, rief dann nochmals abschließend: »Merci messieurs!« und gab dem Chauffeur einen Wink, abzufahren.

»Opernkarten – für mich?« hörte Berti im Fortgehen den verblüfften jungen Mann murmeln.

Talmi

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