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DIE GROSSE WELT IM TRIESTINGTAL

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»Aber, aber, Frau Susanne! Wieso denn plötzlich solch eine Zornaufwallung? Das paßt doch gar nicht zu Ihrem sonst so maßvollen Wesen! Noch dazu richtet sich Ihr Groll gegen eine Frau, die Ihnen jedenfalls nichts getan hat!«

So oder ähnlich müßte man Frau Sedlak auf diesen unbeherrschten Ausbruch erwidern, wenn sie geneigt wäre, uns ihr Ohr zu leihen. Aber sie will ja ihr eigenes Buch nicht lesen. – Wir sind bis zu diesem Punkt mit Anteilnahme ihren Aufzeichnungen gefolgt, was nicht besagen will, daß wir uns mit der Erzählerin immer und unbedingt solidarisch fühlten, denn wir vertreten hier die Interessen der Objektivität, während es Susanne anscheinend unmöglich ist, sachlich zu bleiben. Die Regierung in diesem Buch wollen wir ihr neidlos überlassen, aber wir bestehen auf unseren demokratischen Rechten und sind jederzeit geneigt, Kritik an ihr zu üben oder gar in Opposition zu treten. Gerade jetzt scheint es uns, als hätten wir sie lange genug walten lassen und als sei der Augenblick gekommen, einige Berichtigungen einzustreuen.

Vor allem ist sich die gute Susanne wohl nicht im klaren darüber, daß sie mit der zu Beginn geäußerten Behauptung, Ernstl nie geliebt zu haben, weit von der Wahrheit abgerückt ist. Merkwürdig. Eine so kluge und scharfsichtige Person tappt in bezug auf sich selbst dermaßen im Dunkeln! Meint sie denn, eine Beziehung müsse so aussehen wie in »Romeo und Julia«, um den Namen Liebe zu verdienen? Weiß sie denn nicht, daß auch solche menschlichen Bande, die sich durchaus nicht den Anschein geben, leidenschaftsbetont zu sein, oft verkleidete Liebesbeziehungen sind? Aber in Susannens Fall kann von einer Maskerade kaum noch die Rede sein. Allzu durchsichtig wirkt schon jetzt das Inkognito. Es gehört wahrlich ein gerütteltes Maß von Verblendung dazu, um einen so eindeutigen Krankheitsfall nicht an seinen Symptomen zu erkennen. – Heute, nach den jahrelangen Erfahrungen ihrer glücklichen Ehe, wäre sie gewiß hellsichtiger für die Tatsache, daß der liebenswürdige Mister Hopkins nicht ihre erste, sondern ihre zweite Liebe ist.

Hätten wir die Erzählerin nicht schon früher durchschaut, so wären uns bei ihren harten und ungerechten Worten gegen Mausi die Augen aufgegangen.

Susanne erwähnt die Sperl in ihrem Tagebuch nicht mehr. Sie ist »fertig« mit ihr. Wir aber können Mausis Jugendsünde mit dem hübschen kleinen Bauernburschen aus Berndorf nicht in so gehässigem Licht sehen, wie es die Erzählerin tut. Wäre Mausi nicht gewesen, so hätte Ernstl mit irgendeiner anderen Berndorferin den Schritt aus der Kindheit in die Jugend gesetzt. Daß es sich dabei um eine Angehörige der »gehobenen Stände« handelte, war allerdings ungünstig für ihn. Denn darin hat Susanne recht: in den ersten Erlebnissen eines jungen Burschen liegt sehr viel schicksalbestimmende Substanz. Und Ernstls gesellschaftlicher Snobismus hat hier in früher Jugend einen verhängnisvollen Nährboden gefunden.

Wie sollte der einfache Bursche sich seinen Mißerfolg erklären? Für ihn sah die Sache so aus, daß er sich eben nicht als fein und zivilisiert genug erwiesen hatte und daher nach bürgerlicher Auffassung nicht würdig war, der kleinen Baronesse gegenüber als gleichberechtigt aufzutreten. Ein Fehlschluß, der im selben Augenblick folgenschwer zu werden begann, als Ernstl sich vornahm, den Ansprüchen der »vollkommenen Gentlemen« gerecht zu werden und nicht nur denen ihrer frühreifen Töchter.

Es ist aber schwer zu glauben, daß dies Erlebnis in dem Sechzehnjährigen eine ganz neue, bisher nicht vorhandene Eigenschaft geweckt hat. Mit sechzehn ist man kein unbeschriebenes Blatt mehr, und die Eindrücke, die unserem Dasein Richtung geben, stammen größtenteils aus viel früheren Entwicklungsjahren.

Hier liegt eigentlich der Hauptvorwurf, den wir der liebevollen Berichterstatterin machen müssen, nämlich: die Kindheit und Jugend ihres Helden so ganz außer acht gelassen zu haben. Die Tatsache, daß sie persönlich daran nicht teilgenommen hat, kann sie nicht entschuldigen. Sicherlich hat Ernst ihr von seiner Jugend erzählt, denn wir werden noch erfahren, daß er ihr später recht viel – möglicherweise zu viel – anvertraute. Und selbst wenn er gerade in diesem Punkt zurückhaltend gewesen sein sollte, so hätte die Kluge und herzlich Interessierte nach der Frühzeit seines Daseins fragen müssen.

In Susannens Manuskript steht kein Wort über Ernstls Berndorfer Tage. Sicherlich hat die Erzählerin vergessen, darüber zu schreiben. Aber daß sie es vergessen konnte, ist bezeichnend. Wir wissen auch warum: aus Liebe! Genauer gesagt: aus einer Verkleidung der Liebe, nämlich aus Eifersucht, und zwar nicht bloß auf Mausi, sondern überhaupt auf alles, was Ernstl erlebt hat, ehe er Frau Sedlaks Bekanntschaft machte. Aber wenn wir Ernstl wirklich verstehen wollen, so müssen wir ihren Fehler wiedergutmachen und das von ihr »Vergessene« nachholen. In dieser Hinsicht habe ich nichts unversucht gelassen.

Ich bin nach Berndorf gereist und habe mich nach einem ehemaligen Bewohner des Ortes, Herrn Ernst Ronasek, erkundigt. Auf dem polizeilichen Meldeamt war nicht mehr zu erfahren, als daß ein solcher tatsächlich im Juni 1905 »hierorts« geboren, bis zum September des Jahres 1921 im Hause seiner Mutter Katharina Ronasek gemeldet gewesen und dann nach Wien verzogen sei. Von den fünf älteren Geschwistern lebte keines mehr in Berndorf, und die Mutter war 1946 im Altersheim der Gemeinde gestorben.

Ich dankte für die Auskunft und ging mir das Haus ansehen, in dem Ernstl seine Kindheit verbracht hat. Es ist ein unscheinbares Parterrehäuschen am äußersten Ende des Ortes und unterscheidet sich von einer Hütte nur durch die heute schon halbverfallene Holzveranda, deren reichliche Verzierung wie vergröberte Laubsägearbeit aussieht. Vielleicht hat das Haus zu Lebzeiten der Katharina Ronasek ein wenig freundlicher gewirkt. Ich kann mir denken, daß dort einige Dahlien und Rudbeckien im Garten standen und daß die Veranda von einem alten Weinstock umrankt war, der inzwischen eingegangen ist.

In Berndorf selbst, einer lieblich ins Tal gebetteten, aber nicht gerade originellen Ortschaft, springen sogar dem unaufmerksamen Beobachter zwei Dinge in die Augen. Das eine ist das gewaltige Metallwerk, weitab vom Marktflekken gelegen, mit seinen Hallen und Schuppen und Schloten, eine großzügige Fabrikanlage, in der die weltberühmten Berndorfer Metallwaren aus imitiertem Silber, dem sogenannten Berndorfer Silber, hergestellt werden. Die zweite Sehenswürdigkeit des Ortes ist das Theater. Ein aufdringlicher Bau aus den Gründerjahren – halb Ritterschloß, halb Steinbaukasten –, der unter den ländlich freundlichen Gebäuden des Städtchens dasteht wie ein Dromedar unter Rehen.

Die Industrieanlage ist ein Wahrzeichen unserer Zivilisation, und jeder, der nicht als Reaktionär verschrien sein möchte, wird einsehen, daß die verträumten Täler des Alpenostrandes nicht für alle Zeit verträumt bleiben konnten und der Technik den ihr gebührenden Platz einräumen mußten. Aber ein solches Theater im Triestingtal? Nein, das geht zu weit und erweckt die völlig verfehlte Vorstellung, als lebten wir in einer kunstsinnigen, für Kultur aufgeschlossenen Epoche! Der Bauherr dieses durchaus ortsfremden Musentempels war niemand anderer als der Besitzer des Metallwerks. Das Haus wurde zu Ehren Franz Josefs I. – anläßlich eines Jagdbesuches des Monarchen – errichtet und sollte dem Landesvater durch die Blume sagen: »Siehst du, was du in deinem Burgtheater kannst, das können wir Industriemagnaten in unseren Residenzen auch. Nicht nur ihr alten Despotengeschlechter habt ein Herz für die Kunst!« – So ungefähr war die Sprache dieses Bauwerkes zu verstehen, das sich niemals in seiner Umgebung akklimatisiert hat und auch heute noch, wo es längst zum Kino herabgesunken ist, seine Giebel und Söller dem peinlich berührten Beschauer störrisch und aggressiv entgegenstreckt.

Hier in Berndorf ist Ernstl Ronasek als ein Postumus – fast ein halbes Jahr nach seines Vaters Hinscheiden – zur Welt gekommen. Von ihm erhielt der Knabe nichts außer dem Namen, und auch den zu Unrecht, denn Herr Ronasek senior war das Opfer eines Betriebsunfalls im Metallwerk gewesen. Eine stürzende Lore hatte ihm den Unterleib und die Schenkel zerquetscht. Der Unglückliche hatte das letzte Jahr seines Erdendaseins unter dauernden Schmerzen im Ortsspital, zwischen Tod und Leben schwankend, verbracht.

Frau Ronasek war nach dem Unfall ihres Mannes genötigt gewesen, die Stellung einer Aushilfsköchin im Haus des Industriegewaltigen anzunehmen. Wir kennen das verballhornte Sprichwort »Gelegenheit macht Liebe«. Aber Gelegenheit macht zuweilen auch Babies, wenn von Liebe weit und breit nicht die Rede sein kann. Ernstls vier Brüder waren damals alle schon über die Pubertät hinaus, und die älteste Schwester mochte sogar schon in den Zwanzig stehen. Alle fünf Kinder hatten mit merklichem Unwillen die Veränderungen an dem Körper der Mutter beobachtet und dem neuen Ankömmling in der Familie von vornherein keinen herzlichen Empfang bereitet. Denn Ernstl war der Sohn eines jungen Lakaien. Von ihm erbte er das weißblonde Haar und den energischen Nacken – vielleicht auch das schmerzliche Verständnis für Klassenunterschiede und die Anlage zu guten Umgangsformen.

Persönlich kannte er keinen seiner Väter, weder den nominellen noch den natürlichen. Dafür hatte die gütig ausgleichende Natur ihm zwei Mütter beschert: die eigentliche und die bereits genannte ältere Schwester Theresia. Schlecht unterrichtete Berndorfer Klatschweiber wollten wahrhaben, daß Theresia die wirkliche Mutter sei und daß Frau Ronasek, die bereits nicht mehr so recht in Frage zu kommen schien, nur eingesprungen war, um der unverheirateten Tochter die Schande zu ersparen. Wir wissen es besser, doch verstehen wir, daß ein solches Gerücht aufkommen konnte und Nährboden fand, denn die Schwester war zu dem kleinen, dicklichen Knäblein zärtlicher und liebevoller als die alte, vergrämte und überbürdete Frau. Dieser Resi hat es Ernstl zu danken, daß seine Kindheit auch daheim ein wenig Wärme und Gemütlichkeit kennenlernte, gerade so viel, wie nötig ist, um ein gesundes und freundlich veranlagtes Kind bei guter Laune zu erhalten. Im allgemeinen war der Kleine allerdings sich selbst überlassen, denn seine Geschwister – sofern sie noch daheim lebten – waren tagsüber in der Fabrik, und auch die Mutter arbeitete außer Haus.

Was tat der Junge den ganzen lieben Tag?

Dasselbe, was wohl die meisten kleinen Berndorfer auch heute noch tun. Er lief brüllend über die Felder und Wiesen, schlug mit einem derben Stecken auf Ameisenhaufen ein, warf mit Steinen – teils nur so in die Luft, teils auch auf Spatzen und Frösche zielend. Daneben sammelte er Pilze und Beeren für andere und bunte Glasscherben sowie Kieselsteine für sich selbst, weidete die dürre Kuh eines Nachbarn und erntete das Obst im Garten eines anderen (wobei gesagt werden muß, daß letzteres nicht immer auf des Anrainers ausdrückliches Geheiß geschah). Überdies ging er natürlich in die Schule, jenes zweite Kulturdenkmal, das sich der Industriemagnat gesetzt hatte. Ein sehr bemerkenswertes Gebäude, in welchem jedes Klassenzimmer im Stil einer anderen Kunstepoche ausgestattet ist! Die Kinder werden hier nicht aus der ersten in die zweite Schulstufe versetzt, sondern aus Ägypten nach Hellas und gelangen von dort weiter in die Gotik und in die Renaissance. Das ist äußerst sinnvoll erdacht! – Aber sei es nun, daß Ernstl damals noch kein Gespür für Historizismus hatte oder daß er alle Kraft in den natürlichen Widerstand gegen seine Lehrer setzte – er nahm aus diesem hochpädagogischen Institut ebensowenig mit wie der Durchschnitt seiner Kameraden und vergaß das Gelernte ebenso schnell wie diese.

Die meisten Eindrücke seiner unbesonderen, dörflichen Kindheit fielen ins Unterbewußte, dorthin, wo sie den Humus aller menschlichen Erfahrung bilden, wo sie in Vernunft und Intelligenz, in Vorliebe und Abneigung, in Impuls und Hemmung umgesetzt werden, und zwar so völlig umgesetzt, daß sie ihren ursprünglichen Charakter von persönlichen Kindheitseindrücken gänzlich verlieren.

Freilich nicht alle Erlebnisse des kleinen Ronasek sanken so tief. Manche verblieben knapp unter der Oberfläche seines Denkens und Wollens und beeinflußten sie mehr, als er selbst ahnen konnte. Und einige dieser Abenteuer greife ich heraus.

Einmal – er mochte damals vielleicht fünf Jahre alt sein – beschloß Ernstl unaufgefordert und auf eigene Verantwortung, seine Schwester von ihrer Arbeitsstätte abzuholen. Er wanderte die endlose Straße bis zum Werk hinunter, schlüpfte mit großer List so dicht am Wächterhäuschen vorbei, daß er vom Pförtner nicht bemerkt wurde, und rannte dann schnurstracks auf die Halle zu, in der er Theresia vermutete. Die schwere Eisentür war nur angelehnt. Er brachte sie mit seiner ganzen Körperkraft noch ein wenig weiter auf und zwängte sich hinein. Das Schicksal hatte es gut mit ihm gemeint. Er hätte ebenso in eine der dröhnenden Maschinenhallen oder ins Gußwerk geraten mögen; weißglühende Spritzer der Metallegierung hätten ihn versengen, eine Lore hätte ihn niederstoßen können. Aber dies hier war nur eine schlichte Tischlerei, in welcher die Kassetten für das Berndorfer Eßbesteck gezimmert wurden. Mehrere Männer standen an großen Hobelbänken in ihre Arbeit vertieft, und es dauerte geraume Zeit, bis ein junger Bursche seiner ansichtig wurde.

»Was suchst denn du hier, du kleiner Stöpsl?« rief er lachend. »Kommst uns gar vielleicht helfen, was?«

»I kumm die Resi abhol’n«, gab Ernstl sachlich zurück.

»Die Resi? Wer ist denn das?« fragte ein älterer Mann.

Nun war Ernstl am Ende seiner Weisheit. Die Resi war die Resi; wer denn sonst? Es war unfaßbar, daß jemand so dumm fragen konnte.

Die Männer hatten ihre Hobel und Stemmeisen weggelegt und umstanden den unerwarteten kleinen Besucher ein wenig ratlos, wie eben Männer, denen die Pflicht zufällt, ein Kind zu bemuttern. Endlich erkannte ihn einer.

»Das ist ja der Jüngste von die Ronasek, das Kuckucksei, Mamas Fehltritt!«

Alle lachten. Nur ein kleiner, grauschädliger Mensch sagte: »Psst! Macht’s kaane so blöden G’schpaß! Der siecht net so aus, als verständ er net, was g’redt wird!« Und dann zu dem Kind gewandt: »Na kumm, klaaner Schmarrn, i bring di zu deiner Resi.«

Talmi

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