Читать книгу Einführung in das Werk Walthers von der Vogelweide - Otfrid Ehrismann - Страница 12
4. Minnelied, Sangspruch, Strophe
ОглавлениеDas Minnelied
Lied, Gesang
Die gereimten Kurztexte kann man als ,Lieder‘ oder ,Gesänge‘ (songs) bezeichnen. Sie dienten dem Erwerbsleben ihrer Autoren. In dieser Einführung wird (gegen den Trend) nicht von ,Lyrik‘, mit der heute gerne die Kategorien der Intimität und Subjektivität verbunden werden, gesprochen und auch nicht von ,Gedichten‘, denn die Songs des Mittelalters sehen nur in der Verschriftung wie Gedichte aus. Sie wurden gewöhnlich nicht für das stille Lesen, sondern für eine Performance, den musikalischen Vortrag, konzipiert und zielten auf öffentliche Wirkung. Das nicht-professionelle Lesen volkssprachiger Texte begann erst langsam während der Frühen Neuzeit, als die Alphabetisierung der Bevölkerung allmählich zunahm. Die Gesänge der Walther-Zeit waren Genres von eigener Qualität, die man mit heutigen ähnlichen Genres zwar vergleichen, aber nicht gleichsetzen kann.
Paratexte
Die Verschwiegenheit der Lieder ist wegen des geringen Raums für die Beschreibungsebene verhältnismäßig hoch, die Naturalisierungskompetenz trifft daher auf relativ grobmaschige frames wie ,Ritter‘ oder ,Dame‘, aber auch ,Linde‘, ,Heide‘ oder ,Sommer‘ usw. Erheblich geringer als in den Narrativen ist auch die Zahl der die Lied-Erzählung umgebenden und ihre Rezeption steuernden Begleittexte (Paratexte), wie z. B. die Einführung des Autors in Vor- oder Nachworten. Zudem kannte das mittelalterliche Lied im Allgemeinen auch keine Überschriften. Es wird deshalb am besten nach dem ersten Vers zitiert. Die meisten Walther-Ausgaben wählen allerdings mehr oder weniger phantasievolle, aber eben auch rezeptionssteuernde Überschriften wie „Lindenlied“ oder gar „Reichsklage“.
Walthers Lieder folgen thematisch cum grano salis zwei Schwerpunkten: Sie referieren einerseits auf das politische und religiöse Leben mit allen seinen Facetten sowie auf allgemeine Lebensweisheiten, andererseits (direkt und indirekt) auf die höfische Dame und die höfische Liebe. Der ersten Bezugnahme gilt – auch hier wieder bedarf es der Einschränkung cum grano salis – die (gewöhnlich) einstrophige Sangspruchdichtung, der zweiten das (gewöhnlich) mehrstrophige Minnelied.
Subgenres
Das ,Minnelied‘ (s. Schweikle 1989b) begann seine Karriere während des mittleren und späteren 12. Jahrhunderts an den kulturell interessierten Adelshöfen und begegnet während der Walther-Zeit in verschiedenen Untergruppen (Subgenres) als:
Minnelied im engeren Sinne, d. h. als ein auf die ritterlich-höfische Kultur bezogenes Genre, das die mehr oder weniger schwierige Beziehung zwischen einem Ritter und einer Dame erzählt;
Wechsel, d. h. als eine Intergenderkommunikation, bei der Mann und Frau Strophen im Wechsel zugeordnet sind, wobei das Paar monologisch agiert, d. h. nur indirekt miteinander kommuniziert; eine Untergruppe bildete das Botenlied, in dem die Kommunikation der Geschlechter über einen Boten hergestellt wird;
Tagelied, in dem sich die beiden Liebenden nach gemeinsam verbrachter Nacht traurig trennen; eine Untergruppe bildete das Wächterlied, in dem ein Wächter über die Liebenden wacht und am Morgen zum Aufbruch drängt;
Kreuz(zugs)lied, einer (im vorliegenden Zusammenhang) dem Minnelied im engeren Sinne angenäherten Form, in der der liebende Ritter zum Kreuzzug aufgerufen ist und nach quälendem Nachdenken den Gottesdienst dem Minnedienst vorzieht.
Nicht zu den Minneliedern wird man die Pastourelle (oder Pastorelle; nach provenzalisch pastorea ,Schäferlied‘, ,Hirtenlied‘) zählen, ein besonders in den romanischen Ländern gepflegtes Lied, das die Verführung eines einfachen Mädchens (meist) durch einen listigen Scholaren oder Hirten erzählt und thematisch aus drei Bauteilen besteht: dem Natureingang als locus amœnus (,lieblicher Ort‘: eine mithilfe stereotyper Komponenten, z. B. Heide, Baum, Quelle, Vöglein, gezeichnete virtuelle Landschaft), dem Verführungsgespräch und der gelingenden Verführung des Mädchens.
Der Sangspruch
Rollen
Während im Lied, dessen Ich sich als Liebender inszenierte, die selbstreflektierende Rede vorherrschte, schlüpfte das Ich im Sangspruch in verschiedene Rollen, z. B. Lehrer der Weisheit und Prophet, Lobredner, Fahrender, Mahner, disziplinierender Sittenrichter oder Tadler. Der ,Sangspruch‘ (s. Tervooren 1995) war hauptsächlich in der mittellateinischen, jedoch auch in der provenzalischen und altfranzösischen Literatur bekannt, kaum in der mittelhochdeutschen. Zu den traditionellen Themen gehörten die Bitte um Freigebigkeit (milte,) und die Gnomik im weitesten Sinne.
milte Gnomik
Unter ,Gnomik‘ (zu griech. cmx´ lg ,Einsicht‘, ,Erkenntnis‘, ,Rat‘) versteht man das spruchhafte Verkünden von Lebensweisheiten und -erfahrungen aller Art durch Überzeugung, nicht Überredung (s. Baltzer 1991). Dabei schmückte der Gnomiker die Sinnsprüche mit anschaulichen und treffenden Bildern, die die Aufmerksamkeit des Publikums für den oft abstrakten Gegenstand garantierten. Wollte er als Ratgeber, überhaupt als Sangspruchdichter, erfolgreich sein, musste er, so verlangte es das mittelalterliche Publikum, einen möglichst angesehenen sozialen Rang einnehmen und sich eine Kompetenz hinsichtlich der behandelten Sache und der Kunst des Überzeugens erwerben. Dadurch baute er sich eine persönliche Autorität auf, die seine Vertrauenswürdigkeit steigerte, was schließlich seinem Erwerbsleben zugutekam. Walther, dies sei vorweggenommen, gelang diese Steigerung der Autorität (werdekeit, êre), wobei er in seinen Sprüchen einen hohen ethischen Anspruch vertrat und sie in einem konservativen Weltbild verankerte. Durch ihn blühte die Gattung des Sangspruchs in der Volkssprache auf.
Die Kanzone
klassische Strophenform
Während der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts war die Langzeilenstrophe des frühen Minnesangs mit Mittelzäsur (z. B. Ich zôch mir einen valken || mêre danne ein jâr; DL 15/I1) von der durchgereimten Kurzzeilenstrophe abgelöst, variationsreiche Weisen/Melodien (wîsen, dœne) waren entwickelt worden. Die klassisch gewordene Strophenform wurde die ,Kanzone‘ (italien. canzone ,Lied‘) oder ,Stollenstrophe‘ der provenzalischen Trobadors. Es ist eine dreigliedrige Strophe, in der zwei formal gleichen, thematisch antithetischen Teilen – dem ,Stollen‘ und dem ,Gegenstollen‘ – ein dritter Teil mit eigenem Gewicht folgt. Die beiden Stollen bilden den ,Aufgesang‘, dem sich der ,Abgesang‘ anschließt. Das folgende Beispiel stammt aus Walthers Liedkorpus:
In diesem Beispiel werden die drei Glieder formal durch das Reimband in der Abfolge a b / a b // c d c markiert; den alleinstehenden Versschluss (d) bezeichnet man als ,Waise‘. Die Kanzone ist in ihrer formalen (z. B. Reimband, Umfang der einzelnen Teile) und inhaltlichen Gestaltung sehr variabel.
Geschichte der Musik
Gregorianischer Gesang
Die Melodien der Gesänge lassen sich heute nur noch unvollkommen rekonstruieren. Die Musikgeschichte des Mittelalters war bis in dessen Spätzeit hinein überwiegend eine Geschichte der geistlichen Musik. Um die Wende vom 8. zum 9. Jahrhundert wurde im Reich Karls des Großen über die Kloster- und Domschulen der Gregorianische Gesang der römischen Kirche eingeführt, der sich unter Einschluss regionaler Singweisen weiterentwickelte. Als ,Gregorianischen Gesang‘, benannt nach Papst Gregor I. (590–604), bezeichnet man den chorisch und solistisch einstimmigen liturgischen Gesang der römischen Kirche, der in der Liturgie von Messe und Stundengebet verwendet wurde. Während die chorischen Gesänge einer schlichten Melodie folgten, waren die solistischen melodisch reich verziert.
Neumen
Die Aufzeichnung der Melodien erfolgte zunächst durch linienlose Neumen, d. h. Symbolzeichen für melodische Bewegungen, später in einer Notenschrift, die auf Linien in römischer Quadrat- oder gotischer Hufnagelnotation den Melodienverlauf und die Notenverteilung auf Textsilben festlegte. Der tägliche Umgang mit den liturgischen Gesängen führte bald zu eigener Kreativität und zur Entwicklung neuer Arten von Messegesängen, z. B. lyrischen Strophenliedern, Sequenzen, die aus der Endsilbe ia des gregorianischen Alleluia entwickelt wurden, und Tropen, d. h. Erweiterungen und Umformungen auf der Grundlage vorhandener Choralmelodien.
höfischer Gesang
Im 12. Jahrhundert wurde nach französischem Vorbild der einstimmige, von Instrumenten begleitete höfische Kunstgesang der Minnesänger mit z. T. kunstvollen polyphonen Vokalwerken und ausdrucksvollen Liedsätzen entwickelt, den dann die Meistersänger des 15. Jahrhunderts als lehrbare Techniken in feste Regeln fassten. Die musikalische Überlieferung lag in den Händen der Oberschicht und hier mehrheitlich bei der Geistlichkeit, sodass nur ein kleiner Teil des musikalischen Lebens des Mittelalters den Weg aufs Pergament fand.