Читать книгу Einführung in das Werk Walthers von der Vogelweide - Otfrid Ehrismann - Страница 9
1. Das Rittertum und die Kultur des Hofes
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Die Geschichte der deutschen Sprache und Literatur war um die Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert eng mit der Geschichte des Rittertums verbunden, das die tragende Säule der damaligen höfischen Kultur bildete (s. Bumke 51990; Ehrismann 1990; Ehlers 2006). Seit dem 11. Jahrhundert war das Ansehen der Reiterkrieger stetig gewachsen, die römische Kirche nahm sie gegen die muslimischen Araber in ihren Dienst und stützte sich auf den miles christianus, den ,Gotteskrieger‘. Durch die Verbindung mit den christlichen Tugenden erhielt die Ehre des Ritters eine neue Weihe. Im 12. Jahrhundert konnte der Ritterbegriff auch auf die höheren Dienstleute (= Ministerialen, ministeriales) übergehen. Unter maßgeblicher Beteiligung französischer Kathedralschulen entstand vor allem durch sie ein Leitbild des Ritters, das von einem eigenen und anspruchsvollen Tugendkanon (s. Eifler 1970) und eigenen ,höfischen‘, d. h. an den Adelshof gebundenen Lebensformen geprägt war: „An der Wiege der europäischen Ritterschaft standen Bischöfe, Mönche und Priester, stand die gregorianische Kirchenreform [des 11. Jahrhunderts] mit ihrer neu belebten Idee des heiligen Krieges.“ (Ehlers 2006, 24) Die Ministerialität drang damals langsam in den Niederen Adel vor, allerdings verharrten die alteingesessenen Adligen (nobiles) und die ministeriales im wirklichen Leben noch lange in getrennten und stark abgestuften sozialen Rängen.
Visualisierung/ fiktionale Welten
Nicht zuletzt unter dem Einfluss des französischen chevalier-Begriffs strahlte das neue Leitbild des Ritters weit über die berittenen Krieger selbst hinaus und erfasste die gesamte Aristokratie. Diese, bemüht, die Strukturen ihrer Herrschaft zu verdichten und zu verstetigen, entfernte sich durch die Rezeption und Weiterentwicklung der neuen (modischen) Hofkultur des französischen Westens als ,Festkultur‘ mehr und mehr von den Kulturen des Alltags. Der neue zivilisatorische Schub zielte nicht nur auf ein bequemeres und angenehmeres Leben, er diente auch der Visualisierung der Herrschaft und war deshalb getragen von einer aufwändigen und prunkvollen Lebensführung. Je mehr Reichtum eine Dynastie zur Schau stellen konnte, so die Auffassung, desto nachhaltiger konnte es seinen Anspruch auf Herrschaft bekräftigen. Die Pracht, die rîchheit der Adelshäuser und ihrer Mitglieder spielte in den fiktionalen Beschreibungen des höfischen Lebens eine bedeutende Rolle, und zwar nicht vorrangig um ihrer selbst willen, d. h. zur Ergötzung des Publikums, sondern als ,Zeichen‘, d. h. um ihrer Funktionalität willen. In einer Zeit, in der „jede Einzelheit und jedes Detail aristokratischer Selbstdarstellung […] dem Ziel untergeordnet werden [sollte], eine harmonische Figuration höfischer Ordnung darzustellen“ (Wenzel 1995, 25), fiel den Autoren die Aufgabe zu, mithilfe ihrer Geschichten und Lieder eine neue adelige Identität zu stiften. Die phantasievollen Erzählungen und Lieder aus der Welt des Adels standen, zumal sie gewöhnlich in einer Performance (und nicht als Lektüre) rezipiert wurden, ihrem Publikum näher als die heutigen, über das Buch aufgebauten Erzählwelten. (Kompakte Einführungen in die mittelhochdeutsche Sprache und Literatur liefern Ehrismann/Hardt 2007a/b.)
Ehre
Das Ansehen des adligen Menschen beruhte auf seiner Ehre (êre; s. Ehrismann 1995b), die durch ein sozialgefälliges Handeln erworben und gesteigert wurde. Ére unde lîp (,Ehre und Leben‘) standen auf gleicher Höhe, ihre Verletzung wurde als Bedrohung und Herausforderung erfahren, die zur Wahrung der Ehre eine Gegenherausforderung, die Rache, verlangte. Auch Walthers Textproduktion ist ohne das Leitbild der Ehre, deren Steigerung eine Voraussetzung für soziale Mobilität war, nicht zu denken.
mâze, schœne
Die neue Kultur der rîchheit strahlte auch auf den Kanon der ritterlichen Tugenden aus, der die Distanz der Menschen untereinander förderte. Jetzt gehörte die plurale Anrede ir zu den verbindlichen ,höflichen‘ Umgangsformen. In der Tradition der antiken und z. T. auch benediktinischen Ethik spielten theoretische und fiktionale Texte den Vorteil eines harmonischen und emotionskontrollierten Handelns aus, das die Extreme meiden und sich dem ,rechten Maß‘ verpflichten sollte (s. Ehrismann/Fritsch-Rößler 1995). Dieses Maß, die mâze (sprich /ma: ße/), siedelte in dem weiten Raum der schœne (,Schönheit‘), die vom Göttlichen her definiert, also nicht als sinnlich Erfahrbares wahrgenommen wurde. Die philosophisch-theologische Spekulation des Mittelalters beerbte hier die antike Idee der Kalokagathie (jakojacahía ,Schöngutheit‘) und entwickelte einen ontologischen, damit also objektiven und transzendenten Schönheitsbegriff, in den neben dem Schönen auch das Gute und Wahre eingeschlossen waren. Der Kunst als Verwalterin der Schönheit fiel mithin die Aufgabe zu, die Harmonie des Kosmos, die Ordnung (lat. ordo) der Schöpfung, in das kollektive Bewusstsein zu heben. Der Dichter wurde – Walthers Sangsprüche sind ein beredtes Beispiel dafür – zum Bewahrer traditioneller Werte, sein Vers spiegelte einen transparenten, auf das Gute und Wahre verpflichteten Schönheitsbegriff.