Читать книгу Einführung in das Werk Walthers von der Vogelweide - Otfrid Ehrismann - Страница 13
5. Autor und Textinstanz
ОглавлениеFahrende
Die sozialen Verhältnisse der meisten Liederdichter der Walther-Zeit kennt man nicht. Wer diese Lebensform ergriff, mochte er auch Ritter und/oder Ministeriale sein, gehörte gewöhnlich zu denen, die in der eigenen Familie kein Auskommen mehr fanden. Die Autoren des 12. und 13. Jahrhunderts sind nicht als geschlossene soziale Gruppe zu definieren; es waren überwiegend Musiker und Sänger, die an einem Hof lebten oder von Hof zu Hof zogen und von der Gunst der dortigen Gönner und Mäzene abhängig waren. Der Hof, später das Patriziat der Städte, engagierte sie, um in anspruchsvoller Unterhaltung und Umgebung einen attraktiven Kulturbetrieb zur Schau stellen zu können.
Instrumente
Etwas besser kennt man, durch Illustrationen und Berichte, die Aufführungen dieser Spielleute und ihre zahlreichen Instrumente: z. B. Fiedel, Harfe, Laute, Drehleier, Flöte, Schalmei, Sackpfeife, Horn, Trompete, Trommel, Glockenspiel oder Portativ, d. i. eine kleine tragbare Orgel. Die Künstler und Künstlerinnen waren vielfältig talentiert (s. Schubert 1995): Manche konnten musizieren und erzählen, manche waren darüber hinaus Puppenspieler und Gaukler, bisweilen Akrobaten und Tierbändiger in einem.
Vaganten
Juristisch blieben sie allerdings weithin rechtlos, wenn auch einige seit dem 13. Jahrhundert als geachtete Berufsmusiker an den Höfen zu Ansehen gelangten. Eine eigene Gruppe bildeten die Vaganten (zu lat. vagare ,umherschweifen‘), lateinisch gebildete Fahrende.
textuelle Ebene
Die literarischen Aussagen über die Befindlichkeiten der Autoren lassen sich, wenn überhaupt, nur schwer auf die jeweiligen biografischen Wirklichkeiten beziehen, wenn auch nicht auszuschließen ist, dass sie dies tun. Die textuelle Ebene bildet per definitionem die pragmatische nicht ungebrochen ab, abgesehen davon, dass man die Dichte der Beziehung zwischen dem Autor und dem Ich in seinen Texten ohnehin nicht kennt. Wer vor einem ritterlich-höfischen Publikum von den Höhen und Tiefen der Liebe zu (s)einer Dame sang, nahm aus Erwerbszwecken, wie angedeutet, an einem ,Gesellschaftsspiel‘ mit dem Ziel teil, die Erwartungen des Publikums zu erfüllen und damit die eigene Beliebtheit, das eigene Ansehen, zu steigern. Er musste wohl mit einer gewissen Bereitschaft des Publikums rechnen, sich am Entwurf virtueller Welten zu erfreuen, Fiktionalisierungen als solche zu erkennen und zu akzeptieren. Stellte er auch ein Erleben zur Schau, so trug er doch keine ,Erlebnislyrik‘ (im wissenschaftlichen Wortsinne) vor, und man sollte das Ich der Texte nicht mit dem zwar schönen, aber sehr unbestimmten Ausdruck ,lyrisches Ich‘ belegen.
Rolle, Maske
In den mittelalterlichen Liedern schlüpfte der Performer, d. i. der Autor oder ein anderer, der dessen Texte vortrug, in ein eigenes Ich, in dem er hinsichtlich der Text-Aussagen aufrichtig war oder sich verstellte. Die zeitgenössischen Zuhörer, die ihn gut kannten, konnten die Wahrheit vielleicht erkennen; heute kann man dies im Grunde nicht mehr. Man weiß auch nicht, wie häufig ein Lied, selbst wenn es für eine zunächst einmalige Situation, etwa die Werbung um die Herrin eines besonderen Hofes, komponiert war, zu Gehör gebracht wurde und wie ortsgebunden der Vortrag blieb. Man vergleicht den Liedvortrag heute gerne mit der – damals allerdings noch wenig entwickelten – Welt des Theaters und spricht von einer ,Rolle‘ oder ,Maske‘, hinter der sich der Performer versteckte. Die Diskussion über den Rollencharakter der Minnelieder ist seit einigen Jahren in vollem Gange. Sie wird kontrovers geführt, kann hier jedoch nicht entfaltet werden (s. grundlegend Haferland 2000). Wenn in der vorliegenden Einführung nicht von ,Rollenlyrik‘ gesprochen wird und die problematischen Begriffe ,Rolle‘ und ,Lyrik‘ vermieden werden, so deshalb, weil dieser Terminus die Komplexität der ,Ich-Ebenen‘ eines verschrifteten Textes verdeckt; auch verdeckt, dass in den Liedern sehr wohl das eigene Erleben des Dichters ,verarbeitet‘ sein konnte. Die Lied-Aussage Ich hân lande vil gesehen (W 32/III1) wird man wohl auf die Biografie des Autors beziehen dürfen, zumal wenn andere seiner Texte eine rege Reisetätigkeit nahelegen. Welche Kraft besäße z. B. auch die These über die Weiblichkeit: Wîb muoz iemer sîn der wîbe hôhste name (,Frau‘ wird [statt ,Dame‘] immer der höchste Begriff für die Frauen sein‘, W 25/IV), wenn das sie vertretende Ich nicht die Stimme des Autors wäre?
Ich-Kette
Bei der folgenden Ich-Kette handelt es sich um eine heuristische Darstellung, die einer leichtfertigen Verortung des Dichters im Leben anhand seiner Texte einen Riegel vorschieben möchte, und nicht darum, sich vom Autor zu verabschieden oder ihn gar in drei oder vier Teile zu spalten – worüber sich wohlfeil zu erheitern wäre. Ein Liedvortrag generiert (e) mindestens zwei Ich-Ebenen nach folgendem Muster:
IchA → IchP → IchT1/IchT2[…]/IchT1‘
A = Autor/Performer; P = Rolle/Performanz; T = Autortext; textinterne(s) Ich(s)
Das hinterste Glied dieser Kette (Ich T) ist (z. B. in einem Dialoglied) für mehrere Ichs offen, und es kann von weiteren Ichs (Ich T1‘), z. B. der Dame, dem personifizierten Hof oder der personifizierten Minne, mit denen es kommuniziert hat, erzählen, sogar, in raffinierter Wendung, Walther, den Autor, selbst ansprechen (s. W 91/V1: Hœrâ, walther, wie ez mir stât [,wie es um mich steht‘] / mîn trûtgeselle von der vogelweide).
Das Schlussglied, das die Textinstanz enthält, ist allerdings nur durch Verschriftung, also durch spätere Überlieferung, zugänglich, und „schriftlich fixierte, von der unmittelbaren Sprechsituation und von einer sichernden Vermittlung abgelöste Äußerungen werden dichter und vieldeutiger, weil aus dem Text nun gewonnen werden muß, was an bedeutungssichernden Kontexten fehlt.“ (Kurz 1999, 104) Die Kette ist also um ein viertes Glied zu erweitern:
IchA → IchP → IchT → IchV
V = verschrifteter/überlieferter Text (eventuell mehrere Fassungen)
Den Äußerungen der Textinstanz (= Rede-, Sprech-, Liedinstanz) T kann man sich mithilfe einer historisch geschulten Rekonstruktionskompetenz annähern, die die Produktions- und Rezeptionsbedingungen der Texte mit einbezieht, die zur Walther-Zeit wesentlich außengesteuert waren. Sie waren abhängig von den Bedürfnissen des Erwerbslebens des Dichters und seinem Streben nach sozialer Mobilität, von den Wünschen der Auftraggeber und Gönner sowie der exklusiven Atmosphäre des Festes.
Kontextualität
Wird man also nur in einer ,naiven‘ Rezeption IchA mit IchT gleichsetzen, so wird man andererseits eine solche Gleichsetzung nach gründlicher kontextueller Vorklärung nicht grundsätzlich ausschließen und einer welt- und lebensfremden Interpretation das Wort reden. Der Gebrauch des Ichs in einem poetischen Text dient einem Autor nicht vorrangig dazu, die eigene Biografie ins Licht zu rücken, sondern dazu, der Zuhörerschaft eine individuelle Bewertung eines Ereignisses oder eine Neufassung traditioneller Geschichten, Thesen und Motive, auch Wünsche, vorzutragen. Das Personalpronomen stellt die Verknüpfung zu den aktuellen Diskursen der Zeit her, in die es eingreift, und es verpflichtet die Zuhörerschaft durch Interpretationsarbeit, die Differenz zu diesen Diskursen kritisch verstehend zu kommentieren, um auf diese Weise den Prozess der Innovation, den der Autor anstrebt, nachzuvollziehen. Dieses Ich ist keine vorgegebene Größe; es entsteht durch die Diskursivität des Textes (vgl. Combe 2007). Es ist aber, dies sei für die Lieder des Mittelalters nochmals hervorgehoben, auch keine Größe ohne Autorbezug. Autoren und Zuhörer bewohnten gemeinsam einen „intentionale[n] Raum“ und bestückten ihn „mit Liedformen, […] über deren Verwendung beide Seiten gemeinsame Vorstellungen teilen.“ (Haferland 2000, 13)
Walthers Charakter
Die ältere wissenschaftsgeschichtliche Position vertrat repräsentativ Mundhenk 1963, der die Frage der Echtheit der Waltherlieder mithilfe einer umfassenden Charakteristik des Dichters klären wollte. Er entnahm den Liedern ein Selbstbewusstsein, das sich aus dem Wissen um das eigene Können und den Erfolg gespeist und auch keine „soziale Empfindlichkeit“ (S. 70) gekannt habe. Von Walthers Selbstbewusstsein sprechen viele Autoren, weniger übrigens von seiner Frömmigkeit, die etwa die Verse: Mit sælden (,Gottes Segen‘) müezze ich hiute ûf stên, / got, herre, in dîner huote (,unter deinem Schutz‘) gên (W 10/XI1f.) offenbaren könnten. Ein Vers wie: Her keiser, ich bin vrônebotte (,Herr Kaiser, ich bin der Bote des Herrn‘, W 4/IV), in dem die Textinstanz in der Maske eines Engels den Kaiser zum Kreuzzug auffordert, mag ein Selbstbewusstsein bezeugen; doch dieses bezieht sich nur auf das Ich des Textes, das in der Bringschuld des Fahrenden für die Unterhaltung der Höfe steht. Das selbstbewusste Ich der Texte ist ein Produkt der künstlerischen Selbstdarstellung des Autors, ein Moment seiner Selbstinszenierung, seiner Selbststilisierung und Memoria-Bildung, und es sagt nichts direkt über die tatsächliche Befindlichkeit des Autors aus. Die dialektische Psychologie legt angesichts einer solchen Inszenierung eher die Abwehr eigener Kleinheitsgefühle nahe.
instabiles Waltherbild
Walthers ,Werk‘ lässt sich nicht mehr als ein geschlossenes rekonstruieren. Es gibt einen in der handschriftlichen Überlieferung unstrittigen Kernbereich und einen Rand, an dem mehrere Autoren teilhaben. Darüber hinaus können für einen Text unterschiedliche Überlieferungen (z. B. in der Strophenzahl und -folge, in einzelnen Aussagen) vorliegen. Diese ,Textvarianz‘ kann auf den Autor selbst oder auf spätere Bearbeiter zurückgehen. Auf dieses schwierige philologische Terrain kann im Rahmen der vorliegenden Einführung nur gelegentlich an Ort und Stelle, nicht systematisch, eingegangen werden.
Palimpsest
Aufgrund dieser literaturtheoretischen Vorklärungen wird in der folgenden Einführung deshalb kein Walther-Bild entworfen, das sich an (s)einer Biografie orientiert, sondern eines der Instabilität (,Unfestigkeit‘). Diese Instabilität entsteht nicht nur durch die gelegentliche Textvarianz, die man, vielleicht ähnlich wie die Schreibvarianz, im Mittelalter möglicherweise gar nicht so wichtig nahm wie heute, sondern vor allem auch durch die Sinnvarianz (= der Text ist für verschiedene Sinnstiftungen offen), sodass sich bei der Annäherung an den Dichter Strukturen eines Palimpsests ergeben, das man heute nur noch in schwachen und undeutlichen Umrissen erkennen kann und dessen Beschriftung noch vielfach rätselhaft bleibt.