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Der Staat und seine Gegner

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Was ein Staatsgebilde mit seinem Arsenal an Gesetzen, Sicherheitsplänen und Blankovollmachten anfängt, richtet sich nach der Geistesverfassung seiner Führung und nach dem Gewicht artikulierter Gegnerschaft, die sich im politischen Leben des Landes geltend macht. Diese beiden Faktoren hängen nicht notwendigerweise miteinander zusammen. Sind weite Schichten der Bevölkerung mit dem Regime unzufrieden, so wird es sich als politisch wirksam nur dann erweisen, wenn es von der Waffe der Justiz planvoll und überlegt Gebrauch macht: Wollte es seinem Justizapparat erlauben, jedem Einzelfall nachzulaufen, der sich zu einem Prozess aufbauschen ließe, so geriete es bald außer Atem und verlöre Gesicht. Die Gegner zu freiwilliger Zustimmung zu bringen, ist im günstigsten Fall ein schwieriges und langwieriges Unterfangen; potentielle Gegner dazu zu bewegen, dass sie Vorsicht walten lassen und sich fügsam verhalten, ist einfacher, setzt aber voraus, dass man nicht jeden gerade greifbaren Widersacher, sondern nur den wichtigen und gefährlichen Feind stellt. Wahllose Versuche, allseitigen Gehorsam zu erzwingen, führen leicht dazu, dass sich niemand mehr an Gesetze und Vorschriften hält, dass also die bestehende Ordnung nicht gefestigt, sondern untergraben wird.

Um für die Niederhaltung politischer Gegner nicht gefühlsmäßige Schlagworte, sondern rationale Kriterien entwickeln zu können, muss das Regime die Fähigkeit aufbringen, zwischen dem isolierten Zufallsgegner und der organisierten Feindesgruppe zu unterscheiden und im Lager des organisierten Feindes Führer und Gefolgschaft auseinanderzuhalten. Ein Regime, dem das nicht gegeben ist, muss sich auf ein Risiko einlassen, das in keinem Verhältnis zum erzielbaren Erfolg steht. Einen unbedeutenden, isolierten Gegner zu schikanieren, mag eine billige Vorsichtsmaßnahme oder auch ein beliebter harmloser Zeitvertreib sein (man beweist sich selbst, wie stark man ist). Das Spiel kann aber auch gefährlich werden: Auf diese Weise werden Sympathiegefühle geweckt, wie sie die Masse gelegentlich für den Märtyrer übrig hat.

Wo nicht mehr das Handeln einzelner Individuen, sondern die Treue der Massen zum Streitobjekt wird, ist das logischere Ziel nicht Vergeltung, sondern die Sicherung äußerer Fügsamkeit. Das regierende System muss auf die Weise in Gang gehalten oder vielleicht sogar gestärkt werden, dass die Masse der Andersdenkenden wirksamer Antriebe zum Angriff auf das Regime beraubt und das Fußvolk im gegnerischen Lager verleitet wird, in der Passivität zu verharren: Dazu kann eine Politik gestaffelter Benachteiligungen und Belohnungen mit demonstrativen Unterwerfungsakten einzelner Gegner oder ganzer Gruppen von Gegnern beitragen. Wenn man moralische Zweifel und Treuekonflikte aus dem Lager des Regimes ins Lager des Feindes verpflanzen kann, hat man unter sonst gleichbleibenden Umständen die Chance, die äußere Verteidigungslinie zu halten und Abweichungen vom disziplinierten Normalverhalten der Bürger zu verhindern; so gibt man niemandem eine billige Gelegenheit, Märtyrer zu spielen, und gewinnt Zeit, um verlorene Seelen wiederzugewinnen. Das Reservoir der potentiellen Gefolgschaft des Gegners füllt oder leert sich mit den Wechselfällen auf dem eigentlichen Schlachtfeld. Wer den richtigen Schlüssel zu handhaben weiß, wird den Zugang zur Schar der Schwankenden, mag sie noch so weit abgeirrt sein, nicht verfehlen.4

Die Unterscheidung zwischen Führern und Gefolgsleuten, für die sich in den Strafgesetzbüchern die nötigen Hilfsmittel finden, garantiert in gewissem Umfang passiven Gehorsam und bewahrt den Vollzugsapparat der öffentlichen Ordnung davor, in Ohnmacht zusammenzubrechen oder zu einer bloßen Registriermaschine zu werden. Sie reicht gewiss nicht dazu aus, einem zerfallenden Regime über Katastrophen hinwegzuhelfen, die sich aus tieferen und umfassenderen Gründen nicht abwenden lassen, aber sie erspart ihm unnützen Aufwand und folgenschwere Blamage. Wird auf diese Unterscheidung, die den Mitläufern des Gegners die Gelegenheit gibt, aus der Kampffront auszuscheren, verzichtet, ohne dass gleichzeitig andere, primitive, universale und oft bestialische Formen der »Unschädlichmachung« – zum Beispiel Deportation oder Ausrottung nach »objektiven« Merkmalen der Zugehörigkeit zu einer ethnischen oder nationalen Gruppe, einer Gesellschaftsschicht oder einer Religionsgemeinschaft – angewandt würden, so gerät das Regime in ein schwer lösbares Dilemma. Wer zwischen Führern und Gefolgsleuten einer politisch feindlichen Organisation keinen Unterschied macht, wird nahezu automatisch dazu getrieben, die Strafverfolgung unübersehbarer Massen von Gegnern in die Wege zu leiten.

Ein Dilemma dieser Art beschworen die amerikanischen Besatzungsbehörden in Deutschland herauf, als sie ihre deutschen Schutzbefohlenen veranlassten, Entnazifizierungsverfahren gegen sämtliche Angehörigen bestimmter, formal gekennzeichneter Kategorien einzuleiten, die eine Gesamtzahl von 3.669.230 Fällen ergaben. Diese millionenköpfige Masse hatte sich vor eigens dazu geschaffenen Organen zu verantworten, die ein Zwischending zwischen Strafgericht und Verwaltungsbehörde darstellten. Zweck des mit prozessualen Garantien ausgestatteten Verfahrens war, die zur Verantwortung Gezogenen je nach dem Grad ihrer Beteiligung an der Nazi-Politik in fünf Gruppen einzuteilen und der für die einzelnen Gruppen vorgesehenen Bestrafung zuzuführen.

Schon durch den Massencharakter der geplanten Aktion war die Idee ordentlicher Gerichtsverfahren nach dem Fließbandsystem (die von den anderen Alliierten nur mit großer Zurückhaltung – und nur solange es ihren politischen Interessen und Plänen entsprach – nachgeahmt wurde) zum Scheitern verurteilt; zumeist wurde aus den Verfahren eine papierne Aktenprozedur. Die Entnazifizierungsaktion isolierte nicht die führenden Personen des Nationalsozialismus von ihrer Gefolgschaft, sondern knüpfte im Gegenteil ein festes Band zwischen allen Entnazifizierungsobjekten – von den wirklichen Lenkern des politischen, wirtschaftlichen und Massenbeeinflussungsapparats des Dritten Reiches bis zum letzten Schulmeister und Postbeamten. Sehr bald mussten die Initiatoren der Aktion ihr eigenes Geistesprodukt in einer Sturzflut von Amnestien ertränken, bei denen kaum noch das Gesicht gewahrt wurde; damit begaben sie sich jeder Möglichkeit, die wirkliche Schuld an der nationalsozialistischen Barbarei anzuprangern, denn gerade im eigenartigen Bündnis großer Teile der gesellschaftlichen Oberschicht mit den deklassierten Elementen der deutschen Gesellschaft hatten die Wurzeln des Übels gelegen.

Dieser missliche Versuch, gegen ganze Bevölkerungsschichten strafrechtlich vorzugehen, zeigt, wie wichtig es ist, ein echtes Gerichtsverfahren von automatisch anwendbaren Disqualifizierungsbestimmungen oder einem rein formalen Sühneeid scharf zu trennen. Zieht man den Trennungsstrich, so sichert man sich wenigstens ein diskutables, wenn auch immer noch problematisches Mittel, die gerichtliche Aburteilung der Hauptverantwortlichen durchzusetzen und über die Masse der Gefolgschaft eine gewisse Kontrolle auszuüben; das Ziel wäre, das feindliche Lager im Endeffekt zu zersetzen und die unbestreitbare Tatsache seiner Niederlage im Bild des historisch und moralisch Notwendigen festzuhalten.5 Auf recht unangenehme Weise rächt sich jetzt die Entnazi fizierungsfarce an der Bundesrepublik, der ihre zynischen DDR- Rivalen immer wieder schwer widerlegbare Nazi-Akten aus der anrüchigen Vergangenheit heute noch in der Bundesrepublik amtierender Richter und Staatsanwälte servieren. Wie peinlich solche Dinge sind, ging schon vor einiger Zeit aus einer Darstellung des früheren Generalbundesanwalts6 hervor und ist danach durch den Fall seines Nachfolgers Wolfgang Immerwahr Fränkel erneut belegt worden.

Allgemeine Betrachtungen über die Unterschiede zwischen der Strafverfolgung der gegnerischen Führerschaft und der Zurückdrängung oder Einhegung der Gefolgschaft einer feindlichen Organisation geben Anlass zu konkreteren Feststellungen. Betrachtet man die Gegner eines politischen Regimes nicht als gefährlich widerborstige Einzelpersonen, sondern als politische Bewegungen, so muss man institutionelle Konsequenzen ins Auge fassen. In unserem Zeitalter ist die Gegnerschaft gegen ein bestehendes Regime kaum jemals die Angelegenheit kleiner, locker zusammengefasster Gruppen von Individuen, und noch seltener entspringt sie dem diffusen Aufbegehren privilegierter Gruppen auf den obersten Sprossen der gesellschaftlichen Stufenleiter. Auch geht es bei der Gegnerschaft der größeren organisierten Sektoren nicht um die Verteidigung einer bestimmten Sphäre (Religion, Eigentum und so weiter) gegen Übergriffe von Machthabern, die bereit wären, auf allen anderen Gebieten Kompromisse zu schließen. Seit dem 19. Jahrhundert, seit den Tagen der irischen Nationalisten, der englischen Chartisten und der deutschen Sozialdemokraten hat sich die kunstvolle Technik der regimefeindlichen Organisation, die aus der aufopferungsvollen Hingabe ihrer Anhänger ihre Lebenskraft schöpft, ebenso mächtig entwickelt wie die Herrschaftsorganisation der Staatsgewalt. Gelingt es einer solchen Gegenorganisation, die materiellen und ideologischen Interessen größerer Schichten aufzufangen und mit ihren Zielsetzungen zu verschmelzen, so steht das Staatsgebilde, das sich des faschistischen oder kommunistischen Systems der totalen Unterdrückung politischer Abweichungen nicht bedienen will, vor entscheidenden Problemen der politischen Lenkung und Kontrolle der Massen.

Beim beschleunigten Tempo politischer Umwälzungen in der Zeit, in der wir leben, kommt darüber hinaus dem Problem der gerichtlichen Aburteilung eines besiegten Regimes auf Geheiß des Siegerregimes eine nicht geringe Bedeutung zu. Einen politischen Gegner in Schach zu halten und die Gerichte dafür zu mobilisieren, ist etwas anderes, als einen Gegner, den man glücklich gestürzt hat, strafrechtlich zu verfolgen; die gerichtliche Prozedur entspringt in diesen grundverschiedenen Fällen nicht unbedingt denselben Motiven. In neuerer Zeit hat sich das politische Glück als sehr unbeständig erwiesen, und so manche Hydra, der politische Feinde den Kopf abgeschlagen hatten, hat neue Köpfe wachsen lassen. Aus der Möglichkeit und der Gefahr eines erneuten Umschwungs erklärt sich das intensive Interesse, das ein neuetabliertes Regime den Taten und Untaten seiner Vorgänger zuwendet; es sucht sie als verächtliche Kreaturen hinzustellen und benutzt die gerichtliche Erörterung der jüngsten Vergangenheit dazu, die breiteste Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass das Land denen, die es aus dem Sumpf der Korruption und des Verrats befreit haben, in alle Ewigkeit Dank und Treue schulde; die jüngsten Illustrationen zu diesem Thema haben die von den neuen türkischen, südkoreanischen und kubanischen Machthabern veranstalteten Prozesse geliefert. Ein Regime, das sich solchermaßen anschickt, seine Vorgänger mit Hilfe der Gerichte zu diffamieren, hat zuvor das schwierige Problem zu lösen, wie es seinen erzieherischen und aufklärerischen Zielen die geeignete juristische Form gibt: Es muss das Element des Parteiischen, das solchen Verfahren unvermeidlich anhaftet, nach Möglichkeit reduzieren, und es muss intelligent genug sein, die politische Verantwortung für Fehlkonzeptionen und für noch so gravierende Irrtümer von der strafrechtlichen Verantwortung der einstigen Machthaber für die von ihnen oder auf ihre Veranlassung begangenen verbrecherischen und unmenschlichen Taten eindeutig und unmissverständlich abzugrenzen.

Mit der ständigen Vermehrung der Gefahren, die den existierenden Staatenordnungen drohen, rückt aber auch noch ein anderes Problem, ein alt vertrautes allerdings, in den Vordergrund. Da das Staatsinteresse als identisch gilt mit dem Interesse jedes Staatsbürgers, wird seit eh und je die Frage erörtert, ob auch jeder Staatsbürger bei akuter Gefahr aus eigener Entscheidung handeln dürfe, um die Erhaltung des Staates zu sichern. Eine uralte Lehre, die in Athen schon 410 v. Chr. Gesetzeskraft erhalten hatte,7 billigte jedem das Recht zu, den Übeltäter zu töten, der einen Anschlag auf die politische Ordnung der Polis verübte oder wesentliche Eingriffe in ihre Struktur vorgenommen hatte.8

Die These, dass wer immer sich gegen das bestehende Regime erhebe, damit auch seine eigenen staatsbürgerlichen Rechte verwirke und als Feind behandelt werden müsse, führt ein zähes Dasein. Sie ist sinnvoll und hat eine gewisse Berechtigung, wenn der Angriff auf das Regime die Organe des Staates nicht nur in der theoretischen Abstraktion, sondern auch in der konkreten Wirklichkeit am Funktionieren hindert: Das ist der ursprüngliche Kern aller Lehren vom Kriegsstandrecht. Wird aber diese These auch auf andere Situationen ausgedehnt, so führt sie zu einer ungerechtfertigten Neuverteilung der verfassungsmäßigen Aufgabenbereiche zugunsten der vollziehenden Gewalt zu einer Zeit, da es unverbrüchlicher Garantien gegen eine solche Funktionsverlagerung am meisten bedarf. Als Cicero die Catilinarier hinrichten ließ, ohne ihnen Gelegenheit zu geben, vom Recht der provocatio an die Zenturiatkomitien Gebrauch zu machen, lieferte er der Nachwelt den klassischen Präzedenzfall. Der politischen Anarchie öffnet diese Lehre in dem Moment Tür und Tor, da jeder aus parteipolitischen Gründen ersonnene Mord an einem Gegner damit beschönigt werden darf, dass er dem vaterländischen Interesse diene. Genug Anschauungsmaterial zu diesem Thema haben die ersten Lebensjahre der Weimarer Republik hinterlassen.

Dass ein Staatsgebilde gut funktioniert, erweist sich daran, dass es über das nötige Rüstzeug verfügt, um seine Gegner nach vorher festgelegten Regeln und Zuständigkeitsabgrenzungen im Zaum zu halten, und dass es vom zweifelhaften Beistand ungerufener Parteigänger, die zur Selbsthilfe greifen, nicht überrannt werden kann. Damit es ohne schwere Störungen arbeiten könne, müssen die größtmöglichen Garantien dafür gegeben sein, dass Maßnahmen, die nur einer Partei oder Gruppe zum Vorteil gereichen, nicht als im öffentlichen Interesse erforderlich ausgegeben werden können. Aus dieser Sicht wird im vorliegenden Buch bei der Analyse der Typen geregelter Zuständigkeit für politische Rechtsfälle von der Darstellung des offenkundigen Legitimierungsversuchs begrenzter Sonderinteressen abgesehen. (Besonders häufig sind solche Bestrebungen in rudimentären Staatsgebilden – wie etwa den Barbarenreichen des frühen Mittelalters – wo sie der bloßen Sanktionierung der jeweiligen Ergebnisse einer nie abreißenden Kette privater Fehden gleichen.) Abgesehen wird hier aber auch von dem in unseren Zeitläuften nicht ganz seltenen Fall einer Staatsexekutive, die für sich keinen anderen Rechtstitel in Anspruch zu nehmen weiß als das eigene Bedürftigkeits- und Opportunitätszeugnis. (Eines solchen Stils bediente sich zum Beispiel Hitler beim sogenannten Röhm-Putsch vom Frühsommer 1934.)

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