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1. Die Anfänge
ОглавлениеIn all seiner Vielfalt und Verschiedenartigkeit spiegelt sich das wechselnde Schutzbedürfnis des Staates in der Geschichte der Staatsschutzgesetzgebung wider, wobei sich hinter dem Wort »Staat« wiederum die mannigfaltigsten Formen der öffentlichen Organisation verbergen können. Der griechischen Polis, der römischen res publica, dem feudalen König, dem Ständestaat, der absoluten Monarchie, den konstitutionellen Regimes des 18. und 19. Jahrhunderts, der Massendemokratie und der totalitären Massengesellschaft sind verschiedene Vorstellungen über ihr Verhältnis zum Volk eigen, und eben diese Vorstellungen finden ihren Niederschlag im Wesen und in der Gestalt der Gesetze zum Schutze des Staates. Wo schon in früheren Zeiten sozusagen inhaltliche Bestimmungen auftreten, sind sie Ausdruck der Notwendigkeit, konkrete Gefahrensituationen formelhaft festzuhalten: Da geht es um den Versuch der Königssöhne, sich des väterlichen Amtes zu bemächtigen, um die unerlaubte Tötung von Geiseln, um die Unterstützung des Feindes bei der Einnahme einer Festung. Der frühe römische Begriff der perduellio wurde, seit sich die Volkstribunen dieses Rechtsmittels bemächtigt hatten, zum Instrument für konkrete politische Situationen, vor allem zur Abwehr der Plebs- und Tribunenfeindlichkeit der Aristokratie.6
Wenn schon die Definition der perduellio, wie sie in die Sprache der späten römischen Gesetzgebung7 eingegangen ist, das subjektive Element, den animus gegen die res publica, betonte, so wird der Begriff des crimen laesae maiestatis, der zum Teil perduellio verdrängt, erst recht zum Prototyp der Unbestimmtheit: Er umschließt jedwede öffentlich zum Ausdruck gebrachte feindselige Haltung gegenüber der res publica und ihrer Sicherheit. Kein Wunder, dass er sich, durch unzählige Detailbestimmungen ergänzt, aber nicht von ihnen abgelöst, über viele Jahrhunderte erhalten hat. Die besonderen Bedürfnisse der Machthaber, die nach Abhilfe in einer örtlich begrenzten oder vergänglichen Situation verlangen, treten nun in Konkurrenz mit den kautschukartigsten allgemeinen Formeln, die allen künftigen Bedarfsfällen Rechnung tragen sollen. Wird aber jede Handlung, die gegen die Lebensinteressen des Staatsgebildes verstößt, als politisches Verbrechen angesehen, so haben die Machthaber Blankovollmacht und können nach eigenem Gutdünken bestimmen, wo das Schutzbedürfnis des Staates anfängt und wo es aufhört. Im Gegensatz zum greifbaren und viel enger umgrenzten Tatbestand der Verstöße gegen das Eigentum und vor allem gegen die physische Sicherheit der Person besteht die Gefährdung des Staatsganzen oft in einer kaum fassbaren Beeinflussung zwischenmenschlicher Beziehungen in einem Sinne, der den Augenblicksinteressen der bestehenden Gewalten zuwiderläuft. Aber zumindest ist die behauptete Verletzung der Rechtspflicht, Bestimmtes zu tun oder zu unterlassen, Voraussetzung der Bestrafung.
Innerhalb des »vagen Umkreises mit mehr als einem Mittelpunkt«,8 der die mannigfaltigsten Vergehen gegen die Inhaber der Macht umspannt, hatte der ursprüngliche historische Kern wohl primär mit dem Verhalten der Untertanen gegenüber dem äußeren Feind zu tun. Da ließ sich faktisches Verhalten nach den Regeln eines Treuepflichtkodex beurteilen, der sich weitgehend von selbst verstand und nicht viel Raum für Zweideutigkeiten ließ. Die scharfen Konturen verschwimmen jedoch sehr bald, wenn die Tatbestände über den ursprünglichen Inhalt der proditio, die unerlaubte Handlung oder Unterlassung vor dem Feind, hinausgehen. Welche psychologischen und politischen Äußerungen und Gebärden, die entlegene oder gar unübersehbare Konsequenzen nach sich ziehen können, gehören unterdrückt, weil sie sich auf die Geschicke der Machthaber nachteilig auswirken könnten?
Der zu erwartende Grad der Ergebenheit und Treue dürfte mit der Art der Beziehungen zusammenhängen, die zwischen den Loyalität heischenden Personen oder Institutionen und den zu Treue und Gehorsam Angehaltenen bestehen; seinerseits richtet sich der Charakter dieser Beziehungen unter anderem danach, ob die Organisation des politischen Gebildes lose oder engmaschig, fest gegliedert oder unstrukturiert ist. Mitunter gleicht die Feststellung dessen, was die Treueverpflichtung ausmacht, einem Kreisschluss: Nur weil sich gerade die Gelegenheit bietet, ein bestimmtes unerwünschtes Verhalten in Acht und Bann zu tun, kann ihm sehr leicht der Stempel der Treulosigkeit oder Staatsgefährdung aufgeprägt werden. Auch kann sich das Abwehrvermögen des Staatsgebildes in umgekehrtem Verhältnis zu seiner Schutzbedürftigkeit entwickeln: Unter Umständen wird einem Feudalherrn, der seinen König zum Kampf herausgefordert hat, mit endloser Geduld und Versöhnungsbereitschaft begegnet, während der kleine Untertan um Kopf und Kragen kommt, weil er sich die Weissagung hat einfallen lassen, König Johann werde um Himmelfahrt nicht mehr König sein.9
Ist staatstreues Verhalten damit vereinbar, dass man für politische Neuerungen eintritt? Im republikanischen Rom, meinte Mommsen, sei »der Versuch, die bestehende Staatsform zu ändern«, zulässig gewesen, obschon diese Freiheit die Wiedererrichtung eines erblichen Königtums nicht einschloss; sie blieb ausdrücklich verboten.10 Es ist möglich, dass die Treuepflicht gegenüber einer unpersönlichen Institution, zu der viele Unterinstitutionen gehören, einen größeren Spielraum für Veränderungen in diesen untergeordneten Bereichen gewährt als die Treuepflicht gegenüber einer herrschenden Person. Gilt die Treuepflicht einer Einzelperson, so kann es überaus gefährlich sein, die Grenze zwischen einer Einschränkung der Vorrechte des Herrschers und dem Versuch seiner Beseitigung zu überschreiten. Und dass der Historiker in bestimmten religiösen, gesellschaftlichen und politischen Strukturen die Lücken zu erkennen vermag, durch die in diese Gebilde politischer Wandel eingedrungen ist, bedeutet noch lange nicht, dass jedes Regime seinen Untertanen die Freiheit einräumt, sich für Neuerungen einzusetzen und auf ihnen zu beharren. Noch ein anderes kommt hinzu. Das Verlangen nach grundlegendem Wandel kann sich lange Zeit als sein Gegenteil präsentiert haben: sei es als Forderung nach verbürgter Freiheit des Vorgehens gegen Anschläge der Machthaber auf verbriefte politische Rechte und Positionen, sei es als Versuch, das Recht auf Widerstand gegen Übergriffe der Machthaber, das sich nie wirklich organisieren lässt, in eine organisierte Form zu bringen.
Scharfsinnige Versuche, die grundsätzliche Zulässigkeit politischer Veränderungen von der mit mancherlei Verboten bekräftigten Unzulässigkeit konkreter Mittel zu ihrer Herbeiführung abzugrenzen, sind Beschäftigungen der zweiten Hälfte des 18. und des 19. Jahrhunderts, gehören also schon dem Zeitalter des Konstitutionalismus an. In früheren Zeiten gelang es der Obrigkeit in der Regel, die Erörterung der Unvermeidlichkeit und Zulässigkeit von Neuerungen in erheucheltem Abscheu vor den zu ihrer Verwirklichung nötigen Mitteln zu ersticken. Von den Tagen der alten Griechen bis zum 18. Jahrhundert wurden Vergehen gegen den Staat in der unbestimmtesten Form belassen; zu ihnen zählte alles, was die jeweiligen Machthaber, sofern sie die Macht dazu hatten, auf diesen Nenner zu bringen für angebracht hielten. Als Staatsverbrechen konnten persönliche oder dienstliche Zwistigkeiten zwischen dem Souverän und seinen Beratern ebenso wie beliebige Verletzungen der fiskalischen Interessen des Staates behandelt werden. Das alles ging Hand in Hand mit dem festen Glauben daran, dass Vergehen gegen den Staat besonders verwerflich und verabscheuenswert seien und dass bei ihrer Verfolgung nicht nur keine besondere Sorgfalt in der Ermittlung der Tatsachen nötig sei, sondern dass man auch umgekehrt, um sie ans Tageslicht zu bringen, Mittel anwenden dürfe, die bei anderen Straftaten nicht geduldet werden könnten. Richelieu, Kardinal und Staatsmann, machte sich zum Fürsprecher einer weitverbreiteten Übung, als er schrieb: »… obwohl die Rechtspflege in gewöhnlichen Angelegenheiten einen echten Beweis erfordert, {ist} es bei Angelegenheiten, die den Staat betreffen, anders …, denn in diesem Fall muß man manchmal das, was durch unabweisliche Vermutungen an den Tag kommt, für genügend geklärt halten … In solchen Situationen muß man manchmal mit der Vollstreckung beginnen, während sonst die Klärung der Rechtslage durch Zeugen und unanfechtbare Beweisstücke immer allem anderen vorangeht …; da auch im schlimmsten Fall der Mißbrauch, den man im Rahmen dieser Praxis treiben kann, nur für die Privaten gefährlich ist, deren Leben aber auf diese Weise nicht angetastet wird, bleibt diese Praxis auch dann noch statthaft, weil sich das Interesse dieser Privaten mit dem der Allgemeinheit nicht vergleichen läßt.«11
Das republikanische Rom ließ bei maiestas-Delikten die Zeugenaussage eines Sklaven, der gefoltert werden durfte, sowohl zugunsten als auch zuungunsten seines Besitzers gelten. Seit den Zeiten des Tiberius durften in Verfahren, bei denen es um die Verletzung der maiestas ging, auch Bürger der Folter unterworfen werden. Von der Werdezeit der westlichen Staaten im 13. Jahrhundert bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts akzeptierten die Gerichte der Territorialherrscher ebenso wie die kirchlichen Gerichte die Folter als normalen Bestandteil des Untersuchungsverfahrens. (Heute sind solche Praktiken weniger allgemein oder weisen allenfalls ein offiziöses, kein offizielles Gepräge auf.) Zur Entwicklung der Inquisition hatte das brennende Interesse der Kirche an der Bekämpfung abweichender Glaubensvorstellungen Entscheidendes beigetragen.
In damaligen Zeiten erlegten sich die Machthaber, sofern ihre Interessen betroffen waren, bei der Festlegung und Anwendung der Normen nur minimale Beschränkungen auf, und wo Vorteile zu erlangen waren, wurde auf sie selten verzichtet. Landläufige Vorstellungen über die Förmlichkeit der rechtlichen Handhabung politischer Fälle in früheren Perioden stammen aus der ganz anderen Atmosphäre des 19. Jahrhunderts und müssen in die Irre führen. Politische Strafverfahren wurden oft im Handumdrehen abgewickelt, sofern nicht besondere politisch-taktische Erwägungen, die politische Position des Angeklagten oder die Stärkeverhältnisse unter den Prozessbeteiligten dagegen sprachen; so war es jedenfalls bis zum 18. Jahrhundert: Bis dahin konnte ein Verteidiger kaum Einfluss auf die Prozessführung nehmen, und die Ladung von Zeugen, die zugunsten des Angeklagten aussagen könnten, wurde oft radikal beschnitten. In vielen Ländern wurden politische Fälle hinter verschlossenen Türen als geheime Staatssache erledigt; verhört, und bisweilen endlos verhört, wurde im geheimen, auch dort, wo es dem Staat auf größere Publizität ankam. Mochte der Widersacher der herrschenden Mächte ein Adliger sein, der im Verdacht stand, Ränke geschmiedet zu haben, um einen Personenwechsel an der Spitze herbeizuführen, oder ein Würdenträger, der in Ungnade gefallen war, oder ein gewöhnlicher Bürger, der sich an einem Zusammenschluss religiös Abtrünniger beteiligt hatte: Seine Aburteilung war eher Sache der Staatsräson als Sache der Rechtspflege. In der Regel war der Angeklagte besser beraten, wenn er sich darauf verließ, erhört zu werden, sobald er die Obrigkeit um Gnade anflehte, als wenn er sich darauf versteifte, seiner eigenen Interpretation des Verhaltens, das ihm vorgeworfen wurde, Gehör und Geltung zu verschaffen.