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1. Kriminalprozess und politischer Prozess

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Sowohl die Staatsgewalt als auch einzelne Gruppierungen von Staatsbürgern haben sich in der Neuzeit immer wieder, welches Rechtssystem auch gelten mochte, darum bemüht, die Unterstützung der Gerichte zu mobilisieren, um das politische Machtgleichgewicht zu konsolidieren oder zu verschieben. Verkleidet oder unverkleidet werden politische Fragen in den Gerichtssaal gebracht; sie müssen aufgenommen und auf der Waage des Rechts gewogen werden, mögen die Richter auch noch so sehnlich wünschen, solchen Komplexen aus dem Wege zu gehen. Politische Prozesse sind unausweichlich.

Das hört sich wie eine Binsenwahrheit an. Dennoch möchte so mancher Jurist schlankweg bestreiten, dass es so etwas wie einen politischen Prozess geben könne. Zu behaupten, dass das Ding existiere und oft weittragende Auswirkungen habe, heißt für diese Jünger des unbefleckten Rechts, die Integrität der Gerichte und das Ethos des Juristenberufes in Frage zu stellen. Allen Ernstes meinen diese Schildknappen der Unschuld, dass, wo Achtung vor dem Gesetz bestehe, Strafverfolgung nur dem drohe, der etwas getan habe, was nach den geltenden Gesetzen strafbar sei; wer beschuldigt werde, sich gegen das Gesetz vergangen zu haben, werde nach feststehenden Regeln abgeurteilt, die genau vorschrieben, wie in den vorgebrachten Anschuldigungen Wahres von Unwahrem zu trennen sei; dass sich politische Motive oder Hinterabsichten dazwischenschalten könnten, werde durch allgemein anerkannte altehrwürdige prozessuale Normen verhindert, nach denen sich die Rechtspflege unter zivilisierten oder, wie man heute zu sagen pflegt, freien Völkern richte. (Wie zweideutig solche Grundbegriffe der heutigen politischen Systeme sind, weiß jeder, der sich für Meinungsbildungsvorgänge und politische Semantik interessiert: Ursprünglich auf die demokratische Struktur politischer Gebilde gemünzt, will der Ausdruck »freie Völker« heute nur noch sagen, dass man dem Sowjetblock nicht untertan sei; er bezeichnet nicht mehr Freiheit von jeder Despotie im Innern noch Freiheit von fremden Ketten jeder Art. Jenseits der Grenzscheide weist der tautologische Begriff »Volksdemokratie« zu einem wirksamen Schutz der Volksrechte oder der demokratischen Freiheiten nur eine negative Beziehung auf.)

In den Augen des naiven Juristen besteht kein grundlegender Unterschied zwischen einem Mordprozess um den unaufgeklärten Tod einer Arztfrau in Cleveland und der Aburteilung des Mordes an einem prominenten Politiker in Kentucky, der auf dem Höhepunkt wütender Wahlkämpfe erschossen worden ist; zwischen einem Meineidsverfahren um Zeugenaussagen bei einer Alimentenklage und einem solchen, bei dem Aussagen vor einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss über Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu regimefeindlichen Organisationen unter die Lupe genommen werden; zwischen einer Klage wegen übler Nachrede, die abschätzige Äußerungen über die Kreditwürdigkeit eines Konkurrenten zum Gegenstand hat, und der Verleumdungsklage gegen einen Minister, der in einer Wahlrede behauptet hat, ein führender Mann der Opposition habe Geld von einer ausländischen Regierung bezogen; oder schließlich zwischen zwei Verfahren über den Missbrauch der Polizeigewalt bei der Aushebung einer geheimen Zusammenkunft, wobei es in dem einen Fall um eine Einbrecher- oder Erpresserbande und im andern um eine zu illegalem Dasein verurteilte politische Partei geht.

Trotz aller Verschiedenheit der politischen Hintergründe im einzelnen Fall stellt sich das Gerichtsverfahren den Anhängern dieser naiven Vorstellungen einheitlich und unverrückbar dar: Erst trägt die Anklagebehörde Belastungsmaterial zusammen, das zur Verurteilung ausreichen müsste, und nimmt die Hürde, die für sie der Untersuchungsrichter, die Grand Jury oder die Chambre des mises en accusation bedeutet, und dann prüft das zur Urteilsfällung berufene Gericht Tatsachen, Aussagen und Beweise und wendet das Gesetz an. Etwaigen Unterschieden im Verhandlungsgegenstand, in der Statur der beteiligten Personen oder Gruppen, im Grad des öffentlichen Interesses und in den zu erwartenden, vielleicht weitreichenden und vielfältigen Auswirkungen des Urteilsspruchs kommt nach dieser Auffassung keine wesentliche Bedeutung zu. Solche individuellen Züge, die in jedem Verfahren anders sind, müssten sich demnach auf Unwesentliches reduzieren lassen; dazu seien die technischen Möglichkeiten der Verteidigung und die durch Sonderprivilegien geschützte Stellung des Gerichts da. Zwar könnten die einen Prozesse in den Annalen der politischen Geschichte und die anderen in der chronique scandaleuse oder in den Epen des Versicherungsbetrugs figurieren, aber die Verschiedenheit der Materie berühre nicht Sinn und Zweck des Gerichtsverfahrens: die Tatsachen zu ermitteln und das geltende Gesetz auf sie anzuwenden. Von diesem Standpunkt aus gibt es keine Rechtfertigung für den Begriff »politischer Prozess«; er erscheint als billige Floskel einer sensationslüsternen Presse oder als dumme Ausrede eines Verlierers, der die Schuld nicht bei sich, sondern bei anderen sucht.

Die ritterlichen Verfechter der Ehre der Gerichte wollen zu viel beweisen. Sie lassen sich davon beeindrucken, dass die Methode, mit der der Richter zu seinem Wahrspruch gelangt, meistens dieselbe ist, und übersehen nur zu leicht, dass das angestrebte Ziel durchaus nicht immer dasselbe zu sein braucht. »Daran, dass jemand zwischen politischen und anderen Delikten keinen Unterschied sieht, kann man mit Sicherheit erkennen, dass er ein Hitzkopf oder ein Dummkopf ist«, meinte im vorigen Jahrhundert ein schottischer Richter, der seine Erfahrungen als Verteidiger in politischen Prozessen gesammelt hatte.1

Worum ging es denn, was stand auf dem Spiel, als der Mörder der Arztfrau aus Cleveland ermittelt werden sollte? Ein Mord war begangen worden, der wegen der gesellschaftlichen Position des Opfers und des einzigen greifbaren Mordverdächtigen besonders große Aufmerksamkeit auf sich zog. Man kann die große Spannung und Erregung abziehen; dann bleibt immer noch, dass Polizei und Anklagebehörde (sofern sie unkorrumpiert und tüchtig waren) nur ein Ziel im Auge haben konnten: Den Täter ausfindig zu machen. Sie mussten darauf ausgehen, erstens genug Tatsachen für die Eröffnung des Verfahrens aneinanderzureihen und zweitens dem Gericht so viel Belastungsmaterial vorzulegen, dass mit einem Schuldspruch gerechnet werden konnte. Vom Standpunkt der lokalen Bevölkerung und des Publikums überhaupt hatten Polizei und Anklagebehörde gute Arbeit geleistet: Der mutmaßliche Mörder wurde relativ schnell gefasst und vor Gericht gestellt; Ankläger und Verteidiger konnten im Gerichtssaal brillieren; der Angeklagte wurde für schuldig befunden und verurteilt. Den Geboten der Ruhe und Ordnung war Genüge getan worden. Den Menschen war das normale Gefühl der Sicherheit, das von einer ungewöhnlichen Mordtat leicht erschüttert wird und beim Entkommen eines unbekannten Mörders ganz und gar ins Wanken gerät, wiedergegeben worden, und sie hatten noch nicht einmal allzu lange darauf warten müssen.

Lässt man den Nervenkitzel einer grusligen Mordgeschichte und seine Ausbeutung durch die Massenkommunikationsmedien, die zu jeder großen Gerichtsaffäre in unserer Gesellschaft die Begleitmusik liefern, beiseite, so ist das, worauf es ankommt, eben die Bejahung und Bekräftigung des gesellschaftlichen Ordnungssystems vermittels der öffentlichen Gerichtsverhandlung. Vom Standort des öffentlichen Anklägers, der den Staat vertritt, ist es nicht von zentraler Bedeutung, ob der Abgeurteilte und Verurteilte der mutmaßliche Täter X ist, oder ob ein hypothetischer anderer, ein Y oder ein Z, an seiner Stelle vor Gericht gestanden hat. Die unmittelbare Wirkung des Prozesses gegen X und seiner Verurteilung verschmilzt mit der weniger greifbaren, aber länger anhaltenden Wirkung der Wiederherstellung des Vertrauens zur öffentlichen Ordnung. Mehr können die Hüter der Ordnung von einem Kriminalprozess nicht erwarten, und mehr erwarten sie gewöhnlich nicht von ihm.

Umgekehrt ist der Freispruch das einzige, worauf es dem Angeklagten ankommt. Für ihn stellt sich der Einsatz sehr hoch: Es geht um sein Leben, seine Freiheit, das Schicksal seiner Familie. Nur ihn betrifft der Sieg oder die Niederlage. Auch wenn dieser oder jener besondere Aspekt seiner Beweggründe oder seiner Lebensumstände, wie er im Prozess zutage tritt, für den Sozialhistoriker oder den Psychologen viel mehr bedeuten und ihnen dazu verhelfen mag, die Problematik einer ganzen Generation oder einer Gesellschaftsklasse in den Brennpunkt zu bekommen, findet der Prozess gleichwohl in der privaten und persönlichen Ebene des Angeklagten statt. Das Verfahren vor Gericht ist das letzte Glied einer langen Kette von Vorkommnissen, die hier nur insofern von Bedeutung sind, als sie in der persönlichen Geschichte des Angeklagten eine Rolle spielen. Für das politische Gebilde als Ganzes sind diese für die Beteiligten schicksalhaften Vorkommnisse nicht mehr als Einzelmeldungen aus dem Polizeibericht. Sie können auch als solche überaus interessant sein; bisweilen erschließen oder entlarven sie schlagartig verborgene Züge und Dimensionen der zeitgenössischen Kultur. Aber bei alledem haften sie im Gedächtnis eher als Einzelfälle denn als Angelegenheiten von gesellschaftlicher und geschichtlicher Tragweite.

Im politischen Prozess erscheint das alles in einem anderen Licht. Das Räderwerk der Justiz und ihre Prozessmechanismen werden um politischer Ziele willen in Bewegung gesetzt, die über die Neugier des unbeteiligten Betrachters und das Interesse des Ordnungshüters an der Erhaltung der staatlichen Ordnung hinausgreifen. Hier ist dem Geschehen im Gerichtssaal die Aufgabe zugewiesen, auf die Verteilung der politischen Macht einzuwirken. Das Ziel kann zweierlei sein: Entweder bestehende Machtpositionen umzustoßen, indem man aus ihnen Stücke heraus bricht, sie untergräbt oder in Stücke schlägt, oder umgekehrt den Anstrengungen um die Erhaltung dieser Machtpositionen vermehrte Kraft zu verleihen. Ihrerseits können solche Bemühungen um die Wahrung des Status quo vorwiegend symbolisch sein oder sich konkret gegen bestimmte, sei es potentielle, sei es bereits in vollem Ausmaß wirksame Gegner richten. Manchmal kann es zweifelhaft sein, ob ein solches gerichtliches Vorgehen die bestehende Machtstruktur wirklich festigt; es kann passieren, dass es sie schwächt. Dass es aber in beiden Fällen darauf zielt, die jeweilige Machtkonstellation so oder so zu beeinflussen: Das eben macht das Wesen des politischen Prozesses aus.

Einwenden lässt sich gewiss, dass hier »Macht« zu eng gefasst sei und dass das Gerichtsverfahren an einer viel breiteren Front als Instrument der Machtverschiebung eingesetzt werde. Jeder zivilrechtliche Streit, in dem es um die gegenseitigen Beziehungen großer wirtschaftlicher Unternehmungen oder um die Beziehungen zwischen solchen Unternehmungen und der öffentlichen Hand geht, schließt in Wirklichkeit den Versuch ein, eine Veränderung bestimmter Machtpositionen herbeizuführen oder zu verhindern. Viele nichtpolitische Strafverfahren können entschieden politische Wirkungen auslösen, zum Beispiel die politische Karriere des Staatsanwalts beeinflussen oder das Schwergewicht der Macht innerhalb einer Gewerkschaft, einer Regierungskörperschaft oder eines Konzerns verlagern. All das ist unbestritten. Was jedoch dem eigentlichen politischen Prozess seine besondere Färbung und Intensität verleiht und seine besondere Problematik kennzeichnet, sind nicht die langfristigen politischen Folgen sozialökonomischer Machtkämpfe und nicht die indirekten politischen Auswirkungen der Festigung oder Schwächung persönlicher Machtpositionen, sondern die Tatsache, dass der Prozess unmittelbar zu einem Faktor im Kampf um politische Macht wird.

Wo sich die Aura des Verfassungsstaats behauptet, können theoretisch unbegrenzt viele Privatpersonen die Gerichte in Anspruch nehmen, um Machtverhältnisse zu beeinflussen. Was Begrenzungen und Regeln unterliegt, ist die Verfahrensweise, die eingehalten werden muss, damit der Machtkampf die Arena der gerichtlichen Auseinandersetzung betreten könne. Ein Verfahren von Amts wegen können nur staatliche Institutionen in Gang bringen.2 Personen und Organisationen, die nicht an der Macht sind, müssen andere Wege einschlagen, zum Beispiel Beleidigungsklagen einbringen oder andere dazu zwingen, sie zu verklagen. Gegen politische Rivalen innerhalb oder außerhalb des staatlichen Machtgefüges ist diese Waffe meistens leicht zu gebrauchen: Wer an der Macht teilhat oder – das ist oft wichtiger – die Macht anstrebt, kann die Haltungen oder Taten seiner Rivalen und Feinde, sogar solcher außerhalb der Landesgrenzen, mit einer Beleidigungsklage zum Gegenstand gerichtlicher Prüfung machen, das heißt, sie indirekt der Entscheidung des Richters unterwerfen.

In totalitären Herrschaftsordnungen ist eine solche gerichtliche Durchleuchtung des politischen Verhaltens allerdings ausgeschlossen: Sie erlauben keine öffentliche Erörterung der Probleme der Machtverteilung innerhalb der herrschenden Gruppe oder Kaste. Politisch gefärbte Beleidigungsverfahren erreichen den Gerichtssaal im totalitären Bereich nur, wenn sie dem Zweck der Massenbeeinflussung dienen. Überhaupt steht der totalitäre Gerichtssaal nur auf Geheiß der Herrschenden für offene politische Auseinandersetzungen zur Verfügung.

Dort, wo die Tradition noch mächtig genug ist, ein Minimum an prozessualen Garantien zu bewahren, besteht der politische Prozess heute weniger darin, dass unangreifbare Machtpositionen einseitig bestätigt werden, als dass konkurrierende Machtgruppen ihre Kräfte messen. Er braucht gewiss kein Wettstreit von Gleichen zu sein und ist es auch meistens nicht. Aber da er dennoch eine Kraftprobe ist, unterscheidet er sich grundlegend vom politischen Prozess des Mittelalters, zu dem Vasallen, die ihre Domäne zu sehr erweitert hatten, befohlen wurden, damit ihnen ihr Lehen abgenommen oder so beschnitten werden konnte, dass sie keine Gefahr mehr für die Oberhoheit des Lehnsherrn darstellten.3 Da dieser mittelalterliche Prozess dem Zweck diente, den Herrschaftsanspruch des Lehnsherrn zu bestätigen und zu festigen, bedrohte er unmittelbar Sicherheit und Besitz des Angeklagten, der vertrauensselig genug war, der Ladung zu folgen; der Angeklagte war besser daran, wenn er der Verhandlung fernblieb und sich auf das Risiko offener Kriegführung vorbereitete. Im politischen Prozess der Gegenwart ist es wahrscheinlich, dass der Angeklagte vor Gericht erscheint: Nicht nur weil der Staat über die weitaus größeren Zwangsmittel verfügt, die auch ohne große militärische oder polizeiliche Aktionen ausreichen, die Anwesenheit des Angeklagten zu erzwingen, sondern auch, weil ihm das Gerichtsverfahren eine Kampfchance gibt, auf die er nicht zu verzichten wagt.

Es kann gewiss vorkommen, dass der politische Gegner, gegen den die herrschenden Mächte ein Gerichtsverfahren eingeleitet haben, Gelegenheit hat, dem Zuständigkeitsbereich des Gerichts zu entkommen oder gar ins Ausland zu fliehen. Wenn er aber diese Gelegenheit nutzt, läuft er Gefahr, eher der Sache seiner Verfolger als der eigenen oder der seiner Gesinnungsgenossen einen Dienst zu erweisen. Nicht nur totalitäre Organisationen verlangen von ihren Führern und Funktionären, dass sie auf ihrem Posten bleiben und auch bei drohender Gefahr der Strafverfolgung die Bastion halten; nicht nur sie gehen mit Disziplinarstrafen gegen Kampfgefährten vor, die sich eigenmächtig aus dem Staub machen. Zwar braucht Flucht ins Ausland weder die Fortführung des politischen Kampfes auszuschließen noch seine Wirksamkeit entscheidend zu beeinträchtigen; aber sie kann dazu führen, dass der Flüchtende mit ausländischen Gruppen oder Regierungen Vereinbarungen treffen und Kompromisse eingehen muss. Sogar unter günstigen Umständen kann das seine Mitstreiter in Schwierigkeiten bringen, ihre Bewegungsfreiheit einschränken oder unerwünschte politische oder ideologische Verpflichtungen nach sich ziehen. Man denke nur an die peinliche Lage, in die sich General de Gaulle und seine »Freie Französische« Regierung in den Kriegsjahren in England begeben hatten!

Verfolgten totalitären Parteien fällt es leichter, ihr Personal nach Belieben von einem Ort zum andern zu dirigieren. Ihre Apparate halten das aktive Personal unter strikter Kontrolle, sind daran gewöhnt, die Parteiposten auch unter normalen Verhältnissen ständig umzubesetzen, und haben eher die Möglichkeit, eine größere Anzahl von Menschen in verschiedenen Ländern in Parteistellungen zu bringen, ohne damit auch Verpflichtungen in Bezug auf den künftigen Parteikurs zu übernehmen. Aber auch sie können nicht verhindern, dass der einzelne Funktionär durch die Flucht ins Ausland Ansehen einbüßt; so ist es zum Beispiel dem französischen Kommunistenführer Maurice Thorez während seines Aufenthalts in der Sowjetunion ergangen.4

Noch viel triftigere Gründe, das Erscheinen vor Gericht einem langen Exil vorzuziehen, haben Angeklagte, die mit totalitären Bestrebungen nichts zu tun haben. Das gilt nicht minder auch für Beleidigungs- und Meineidsprozesse. Zwar kann der Angeklagte oder Angeschuldigte der abträglichen Publizität des Gerichtsverfahrens manchmal dadurch entgehen, dass er seine Ämter niederlegt oder sich auf Erklärungen einlässt, die ein Strafverfahren abzuwenden vermögen; aber in der Regel wird er es vorziehen, den Fall vor Gericht auszufechten, weil damit die Hoffnung verbunden bleibt, dass es ihm gelingen werde, die Anschuldigungen zu widerlegen oder als furchtloses Opfer gegnerischer Schikanen seinen politischen Ruf zu retten oder sogar neues Ansehen zu gewinnen.

Allgemein sind politische Prozesse der neuesten Zeit durch die dramatische Konstellation eines Kampfes gekennzeichnet, dessen Charakter die politische Bedeutung und die öffentliche Wirkung des Verfahrens anzeigt. Trotz dieser Gemeinsamkeit weisen sie in Bezug auf Prozessgegenstand, Rechtsprobleme und Verfahrensmodalitäten mancherlei Varianten auf. Unter Beachtung dieser Gesichtspunkte lassen sich einige klar umrissene Kategorien von Prozessen herausschälen.

Politische Fragen können, wie schon gesagt, auch in Prozessen um gewöhnliche Verbrechen im Vordergrund stehen, in Prozessen um Straftaten also, die von beliebigen Angehörigen des Staatswesens aus vielfältigen Beweggründen begangen worden sein können. Ein solcher Feld-, Wald- und Wiesenprozess kann ein politisches Gepräge infolge bestimmter Motive oder Ziele seiner Initiatoren oder im Zusammenhang mit der politischen Tätigkeit, den politischen Bindungen oder der politischen Position des Angeklagten erhalten. Je nach der politischen Gesamtatmosphäre, der Rechtsprechungstradition und den herrschenden Sitten kann ein solcher Prozess auf sehr konkrete Weise den egoistischen Zwecken der Kreise, die gerade an der Macht sind, dadurch dienen, dass er Material ans Tageslicht bringt oder in aller Öffentlichkeit ausbreitet, das die politischen Widersacher der Regierenden in ungünstigem Licht erscheinen lässt. Dadurch, dass sie den im Prozess festgehaltenen Tatsachen, die den politischen Gegner belasten, die größte Verbreitung außerhalb des Gerichtssaals geben, können die Regierungsorgane oder auch einflussreiche politische Organisationen außerdem noch weit und breit kundtun, wie strikt sie sich an die Maßstäbe des für alle gleichen und gewiss unparteiischen Gesetzes halten; die politischen Momente des Prozesses lassen sich dann leicht hinter der Fassade eines ordnungsmäßigen und sauberen Verfahrens, das allgemeine Anerkennung verdient, abschwächen, wenn nicht gar verbergen.

Zu einer anderen Kategorie gehören Prozesse um Delikte, die im Strafgesetz eigens dazu konstruiert sind, das bestehende Regierungssystem vor einer ihm bewusst feindlichen Tätigkeit zu schützen, die sich dazu noch in allgemein verurteilten Formen vollzieht. Als solche Delikte kennt die Gesetzgebung Hochverrat, Aufruhr, Landesverrat und ein ganzes Arsenal neuerer Variationen, von denen oben in Kapitel II die Rede war.

Wenn Gerichte immer häufiger dazu angehalten werden, gegen politisches Verhalten einzuschreiten, in dem eine Schädigung der öffentlichen Ordnung erblickt wird, muss erkünstelten juristischen Konstruktionen erhöhte Bedeutung zukommen. Als strafbare politische Handlung erscheinen nicht mehr nur die zwei traditionellen Typen von Straftaten, das kriminelle Vergehen als politisches Werkzeug und das eigentliche politische Delikt. Immer mehr bekommen es die Gerichte mit neuen Deliktfabrikaten zu tun. Kein Gesetz kann Sanktionen für alle Typen des Handelns vorsehen, von denen vermutet werden kann, dass sie in irgendeiner künftigen Situation als kriminell schädlich gelten würden. Oft genug ist infolgedessen die konkrete Tat, in der die Staatsgewalt den sträflichen Niederschlag einer staatsgefährdenden politischen Haltung oder einer staatsfeindlichen politischen Verhaltensweise sieht, nach dem bestehenden Gesetz überhaupt nicht strafbar oder technisch so schwer zu fassen, dass sie sich der Strafverfolgung entzieht. Was dann vom Gericht abgeurteilt werden soll, ist nicht das Tun, das die Organe der Staatsgewalt unterbinden wollen, sondern sind als stellvertretend herausgesuchte Handlungen. Nicht jedes politisch anrüchige Verhalten lässt sich unter ein gesetzliches Verbot bringen. Den, der sich so verhält, kann man dennoch strafrechtlich belangen, wenn er sein Verhalten – aus freien Stücken oder notgedrungen – so bekundet, dass es zum Gegenstand einer Meineids- oder einer Beleidigungsklage gemacht werden kann. Daneben gibt es eine geographisch begrenzte Untergattung: Das Verfahren wegen Ungebühr vor Gericht oder vor parlamentarischen Untersuchungsausschüssen, das im heutigen Amerika dazu dient, politische Gegner dafür zu bestrafen, dass sie sich weigern, die verlangten Auskünfte über bestimmte politische Angelegenheiten zu geben.5

In den folgenden Abschnitten sollen die skizzierten Kategorien politischer Prozesse an konkreten Fällen dargetan werden. Dabei werden auch historische Hintergründe, Vorgeschichte und politische Auswirkungen zur Sprache kommen.

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