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5. Prozesspraxis außerhalb des rechtsstaatlichen Raums
ОглавлениеRechtsstaatliche, verfassungsmäßige Regierungen haben es in der Geschichte nicht selten zuwege gebracht, die Betätigungsmöglichkeit ihrer Gegner drastisch zu beschneiden. Wenn sie aber diese Gegner aus dem Leben des Staatsgebildes ganz und gar – sei es durch Tod, sei es durch Freiheitsentzug – ausschalten wollen, müssen sie sich der Apparatur des Gerichts bedienen und alle vorher beschriebenen Risiken und Gefahren, die einem solchen Verfahren anhaften, auf sich nehmen. Wenn hier von rechtsstaatlichem oder nichtrechtsstaatlichem Raum, von verfassungsmäßigen oder nichtverfassungsmäßigen Bedingungen die Rede ist, so ist damit keine polemische Absicht verbunden. Dass ein Regime außerhalb des rechtsstaatlichen Raumes liege oder nicht unter verfassungsmäßigen Bedingungen funktioniere, sind Kurzformeln, die zwei Dinge bezeichnen sollen: einmal ein hohes Maß der Unterordnung des Justizapparats unter die politische Herrschaftsstruktur der Gesellschaft, zum andern das, was daraus folgt: dass die Gerichte beim Ausgleich der Interessen des Einzelmenschen auf der einen und der herrschenden Staatsordnung auf der anderen Seite keine oder eine nur geringfügige Rolle spielen.
Unter solchen nichtverfassungsmäßigen Bedingungen ist der Gerichts prozess nicht das einzige oder unumgängliche Mittel, mit dem aktive oder früher aktive politische Gegner aus dem Weg geräumt werden können; erst recht gilt das von Menschen, die nur »objektiv« als Gegner erscheinen, das heißt von Angehörigen bestimmter Kategorien, deren Regimefeindlichkeit nicht auf Grund konkreter Beschuldigungen festgestellt, sondern aus abstrakten, der (gesellschaftlichen, nationalen oder ethnischen) Kategorie zugeschriebenen Merkmalen abgeleitet wird. Man kann sich seiner Gegner auch mit rein administrativen Maßnahmen entledigen: Man kann sie ohne jedes Verfahren töten, auf völlig unbestimmte Zeit ins Gefängnis werfen oder verbannen oder auch zeitlich begrenzte Haft- oder Verbannungsmaßnahmen anordnen. Ob administrative oder gerichtliche Beseitigung der Gegner vorgezogen wird, entscheidet sich nach Gesichtspunkten, die selten starr oder für längere Zeit fixiert zu sein pflegen.90 Warum ist zum Beispiel das Sowjetregime nicht dem Revolutionsvorbild Englands und Frankreichs gefolgt und hat dem Zaren keinen Prozess gemacht, in dem sich das gewaltige Schuldkonto der zaristischen Politik hätte aufrechnen lassen? Dafür sind von Trockij drei Gründe aufgezeichnet worden: die Ungewissheit über den weiteren Verlauf des Bürgerkrieges, das Bedürfnis, Anhängern und Gegnern der neuen Ordnung gleichermaßen einzuprägen, dass es einen Weg zurück nicht geben könne, und die vor allem von Lenin betonte Überlegung, dass die Durchführung eines Gerichtsverfahrens die im Hinblick auf das »Prinzip der dynastischen Erbfolge« notwendige Hinrichtung der gesamten Familie des entthronten Herrschers unmöglich machen werde.91
Die gerichtliche Urteilsfindung setzt voraus, dass das konkrete Verschulden bestimmter Personen vorgebracht und erhärtet wird, und damit verengt sich die Möglichkeit der Wahl zwischen gerichtlichen und administrativen Mitteln. Den rein objektiven Kriterien, nach denen die Entscheidung zu treffen ist, kann gewiss, wenn das verhaftete Opfer mitmacht, Genüge getan werden, so dass das Verfahren doch noch den Anschein behält, als werde die persönliche Verantwortung für bestimmte strafbare Handlungen ermittelt; aber die Zahl der Fälle, in denen sich das, was wirklich vorgefallen ist, auf diese Weise zurechtbiegen oder umfrisieren lässt, ist aus praktischen Gründen begrenzt. Rein administratives Vorgehen wird fast unabwendbar, wenn sich die Maßnahmen gegen Massen von Menschen richten und in großer Eile durchgeführt werden sollen; so war es in der Sowjetunion bei der »Liquidierung des Kulakentums« oder bei der Zwangsaussiedlung ganzer Völkerschaften in entlegene asiatische Gebiete, und so war es in der neuesten Zeit in Algerien, als großen Teilen der Bevölkerung Zwangsdomizil zugewiesen wurde. Ob im Dritten Reich gerichtlich oder außergerichtlich verfahren wurde, hing häufig von dem Zeitpunkt ab, zu dem das Opfer in feindliche Berührung mit dem Regime oder seinen Anhängern geriet: Es passierte oft genug, dass alte Gegner des Regimes, die sich vielleicht neuerdings gar nicht mehr aktiv hervorgetan hatten, in Konzentrationslager gesteckt, Gegner dagegen, die mit neueren oppositionellen Bekundungen aufgefallen waren, vor Gericht gestellt wurden, was allerdings auch nur eine Zwischenstation auf dem Weg ins Konzentrationslager sein konnte. Ausschlaggebende Gesichtspunkte sind das nie; die Gesichtspunkte, die jeweils den Ausschlag geben, ändern sich ständig mit der wechselnden politischen und administrativen Lage.
Einen eindeutigen Schluss auf den für das jeweilige Regime charakteristischen Grad der Brutalität und des Terrors erlaubt weder die ausschließliche Inanspruchnahme der Gerichte noch der ausschließliche Gebrauch administrativer Maßnahmen, weder die relative Verwendungshäufigkeit beider noch die abwechselnde Benutzung des einen oder des anderen Weges: Nach einer gewissen Übergangszeit können sich Gerichte und Organe der Exekutive einander angeglichen und dieselben Wesensmerkmale entwickelt haben. Ein gewisser Unterschied wird allerdings immer bestehen bleiben, weil das Gerichtsverfahren und die Ziele, die mit der Übertragung eines Falles auf die Gerichte verfolgt werden, einen besonderen Charakter behalten. Werden menschliche Schicksale im Zuge eines bürokratischen Verfahrens entschieden, so geschieht das auf Grund allgemeiner Weisungen und für die »Ablieferung« unzuverlässiger oder potentiell unzuverlässiger Elemente festgesetzter Kontingente. Im Gerichtsverfahren muss aber das ausersehene Opfer wenigstens eine begrenzte Möglichkeit haben, eine selbständige Rolle zu spielen. Das Opfer ist nicht mehr eine bloße Nummer in einem allgemeinen Verwaltungsprogramm; es wird zum individuellen Angeklagten, dem die Möglichkeit gewährt wird, seinen Anklägern gegenüberzutreten und ihnen zu antworten, ohne wegen seines Verhaltens im Gerichtssaal physischem Zwang ausgesetzt zu sein. (Das schließt natürlich nicht aus, dass dem Angeklagten in der vorgerichtlichen Phase des Verfahrens mit physischen oder psychischen Druckmitteln zugesetzt wird.) Das sind bescheidene Mindestvoraussetzungen, die dem öffentlichen Gerichtsverfahren in den verschiedensten politischen Regimes zugestanden werden; sie gelten auch für politische Systeme, die in dieser oder jener Beziehung von rechtsstaatlichen Gepflogenheiten abweichen, also auch für die Prozesstechnik des Sowjetbereichs in der Ära Stalin wie vor und nach ihr.