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a) Vorstadien des Schauprozesses

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Die Sphäre des politischen Prozesses, der sich nicht an rechtsstaatliche Normen hält, wird nicht einmal in Osteuropa von der Prozesstechnik Stalinschen Gepräges ausschließlich beherrscht. Recht beharrlich behauptet sich auch dort eine ältere Praxis des politischen Prozesses: die gerichtliche Erledigung politischer Gegner unter weitgehender Beschneidung der verfahrensmäßigen Rechte des Angeklagten, von Gerichten gehandhabt, die parteilicher und parteiischer sind, als das in politischen Prozessen unter verfassungsmäßigen Bedingungen der Fall zu sein pflegt. Eine große Rolle spielen in solchen Verfahren parteiische Zeugen, ohne dass ihnen das Feld ganz überlassen bliebe. Hier gibt es aber in der Regel noch nicht den Versuch, den Angeklagten zum willenlos Mitwirkenden an dem von den Machthabern ausgeheckten Inszenierungsplan zu machen. Manchmal kann er sogar, auch wenn er damit ein zusätzliches Risiko auf sich nimmt, in dem einen oder anderen Einzelpunkt gegen die Anklagebehörde recht behalten, zumal wenn ihm, was bisweilen vorkommt, ein Verteidiger zugebilligt wird, der keine bloße Marionette ist. Jedenfalls hat der Angeklagte hier noch die Chance, dem Regime einen Fehdehandschuh ins Gesicht zu schleudern und vor Zuhörern den Abgrund zu zeigen, der ihn von der offiziellen Glaubenslehre trennt.

Der Prozess dieser Art ist keine totalitäre Erfindung; er war lange Zeit im Schwange. In der Theorie, wenn auch nicht immer in der Praxis, wurde im 18. und 19. Jahrhundert insofern ein wesentlicher Fortschritt erzielt, als vor Gericht der Monarch und sein Feind auf dieselbe Stufe gestellt wurden. Dieser Fortschritt ist eine der erlesensten Blüten der neueren kulturellen Entwicklung, aber auch sichtlich stärker gefährdet und problematischer als viele ihrer sonstigen Leistungen. Die ältere Form des politischen Prozesses wird auch heute noch vor unser aller Augen in vielen nichtkommunistischen Ländern – in Spanien, Portugal, Griechenland, Algerien und, wenn man von Israel absieht, allüberall im Vorderen Orient – praktiziert.92

In Russland wurde dies Modell in den ersten Revolutionsjahren, als die Revolution von innerer Gärung, wirtschaftlichem Chaos und ausländischer Intervention bedroht war, in ziemlich weitem Umkreis befolgt. Neben administrativen Terrormaßnahmen, die ohne Wahrung irgendwelcher Rechtsformen gehandhabt wurden, gab es politische Prozesse. In manchen Fällen waren die Beschuldigungen, die bis vors Gericht kamen, reine Fabrikation. In etlichen Verfahren wegen terroristischer Akte, in denen den Angeklagten Beziehungen zu regierungsfeindlichen Parteien nachgesagt wurden oder nachgewiesen werden konnten, ging die Regierung darauf aus, die Parteiführer für die Handlungen ihrer Mitglieder oder Anhänger verantwortlich zu machen. Solche Prozesse hatten eine Doppelfunktion: einerseits konnte mit ihrer Hilfe die Politik der Unterdrückung der belasteten Parteien gerechtfertigt, anderseits die auch nach und trotz der Verurteilung mögliche und oft praktizierte Prämierung derer plakatiert werden, die bereit waren, sich mit dem Regime zu verständigen.

Im denkwürdigsten dieser Prozesse wurden im Juni und Juli 1922 einige prominente Führer der Partei der Sozialrevolutionäre (SR) abgeurteilt. Auf Grund einer im April 1922 bei einer Berliner Besprechung der drei feindlichen Internationalen (der Zweiten, der »Zweieinhalbten« und der Kommunistischen) getroffenen Vereinbarung nahmen an der ersten Phase deutsche und belgische sozialistische Anwälte als Verteidiger teil; Voraussetzung ihrer Teilnahme war die Zusicherung, dass bestimmte prozessuale Garantien eingehalten und keine Todesurteile gefällt werden würden. Die erzieherisch-propagandistische Absicht, die die Sowjetregierung verfolgte, kam darin zum Ausdruck, dass gegen zwei Gruppen von Angeklagten verhandelt wurde: einmal gegen weithin bekannte SR-Führer, die treu zu ihren Parteigrundsätzen standen und ihre Gegnerschaft zur Sowjetregierung nicht aufgaben, zum andern aber gegen weniger bekannte SR-Funktionäre, die sich von der Politik der eigenen Partei losgesagt hatten, ihre Sowjetgegnerschaft bereuten und zur Zusammenarbeit bereit waren. Dass hier »gute« gegen »böse« SR ausgespielt wurden, zeigte aber zugleich auch, dass der Prozess noch zum Bereich der älteren Tradition gehörte.

Den Angeklagten wurde vieles erschwert: Das Gericht war parteiisch, die Anklagebehörde ließ ein großes Aufgebot an übereifrigen Belastungszeugen aufmarschieren, die Möglichkeit der Verteidigung wurde beschnitten und organisierter »spontaner« Druck von außen in den Gerichtssaal hineingetragen. Und trotzdem verlief der Prozess keineswegs zur vollen Zufriedenheit der Regierung. Was klar zum Vorschein kam, war, dass die politisch-taktische Haltung der einzelnen Angeklagten verschiedene Phasen durchlaufen hatte, dass die einen den organisierten Widerstand gegen das Regime völlig aufgegeben und die anderen nur noch gelegentlich vereinzelte Widerstandsaktionen gebilligt oder an ihnen teilgenommen hatten. Dass das weithin publik gemacht werden konnte, kam der Regierung natürlich durchaus zupass. Auf der anderen Seite aber kam ebenso klar zum Vorschein, dass es für die behauptete Zusammenarbeit der SR mit General Denikin und seiner »Weißen Armee« keinerlei Beweise gab. Nur erwiesene Zusammenarbeit mit den »Weißen« hätte die SR-Partei in den Augen ihrer Anhänger und auch der großen Masse der Bevölkerung wirklich in Verruf bringen können. Dass das in dem noch nicht durchgängig manipulierten Prozess nicht gelang, war ein beträchtlicher Misserfolg.93

Manche Anhaltspunkte sprechen dafür, dass das in Moskau damals Vorgeführte vom heutigen jugoslawischen Regime in vielem befolgt wird: sowohl in Prozessen gegen oppositionelle Mitglieder der herrschenden Elite, als auch in Prozessen gegen Gegner, die nie zum Regierungslager gehört hatten. Am bezeichnendsten in der zuletzt genannten Kategorie war das im Sommer 1946 gegen den Kardinal Aloysius Stepinać durchgeführte Verfahren. Stepinać war aus mancherlei Gründen in einer taktisch nicht ungünstigen Lage. In seinem Prozess spiegelte sich mehr als ein bloß innerstaatlicher Konflikt. Er war ein hoher Würdenträger der katholischen Kirche, also einer mächtigen internationalen Organisation, auf deren loyale Unterstützung er bauen konnte.94 Darüber hinaus hatte der Kardinal einen gewissermaßen verbrieften Anspruch auf die Sympathien des kroatischen Volkes, nicht nur als dessen anerkannter religiöser Führer, sondern auch als der konsequente Verfechter der Forderung der Kroaten nach selbständiger nationaler Existenz. Wahrscheinlich hätte ihn Tito überhaupt nicht vor Gericht gestellt, wenn Stepinać der Regierung den Gefallen getan hätte, sein Amt niederzulegen und das Land zu verlassen.95 Auf der anderen Seite beruhte Titos stärkere Position darauf, dass die Kirche weitgehend zum Unterdrückungsregime der kroatischen Ustaši unter Ante Pavelić, das unter dem gemeinsamen Protektorat Italiens und Nazi-Deutschlands regierte, gestanden und sich mit ihm identifiziert hatte; das galt vor allem für die Bemühungen des Ustaši-Regimes, Massenübertritte Angehöriger der griechisch-orthodoxen Kirche zum Katholizismus zu erzwingen.

Stepinaćs Verteidigung war in vieler Hinsicht beeinträchtigt. Der Eröffnungsbeschluss war so spät gefasst worden, dass die Verteidigung vor Beginn des Prozesses nur sechs Tage zur Vorbereitung des Verfahrens hatte. Während die Anklagebehörde über ein schier unerschöpfliches Zeugenreservoir verfügte, ließ das Gericht nur wenige Entlastungszeugen zu. Es wies einen erheblichen Teil der von der Verteidigung unterbreiteten Entlastungsdokumente zurück. Es akzeptierte die wohlbekannte Vorkehrung des von der Regierung präparierten »Amalgams«: obgleich Stepinać ausdrücklich nur sein Verhalten während der Ustaši-Herrschaft und eine nicht ausreichend scharfe und gründliche Distanzierung von Anhängern des beseitigten Regimes zur Last gelegt wurden, verzerrte die Regierung das Bild absichtlich, indem sie mit dem Kardinal Menschen auf die Anklagebank setzte, die beschuldigt wurden, Terrorakte begangen zu haben. Dennoch wurde dem Angeklagten und seinen beiden Verteidigern in gewissem Umfang die Möglichkeit belassen, bestimmte Dinge herauszustellen und ihre Position klarzumachen. Zum peinlichsten und gefährlichsten Punkt, zur Frage der Zwangsbekehrungen, suchte einer der Verteidiger darzulegen, dass hier ein kleineres Übel einem guten Zweck gedient habe: der Rettung von Menschen, die nur auf diese Weise vor dem sicheren Tod hätten bewahrt werden können.96

Wie im Ebert-Beleidigungsprozess ist das Argument zwar plausibel, aber es beseitigt nicht die Ambivalenz des angefochtenen Verhaltens: Die Rettung der Verfolgten durch Bekehrung zum Katholizismus konnte zugleich auch den Zweck verfolgen, denen, die das Rettungswerk unternahmen, einen Ertrag zu sichern. Stepinać selbst lehnte es ab, auf die Frage der Bekehrung einzugehen: Da sein Gewissen rein sei, sagte er, könne er diese Frage dem Urteil der Geschichte überlassen.97 Sogleich ging er zum Gegenangriff über: Er nahm für sich das Recht in Anspruch, im Namen des kroatischen Volkes zu sprechen; er legte seine Stellung zum besiegten und zum siegreichen Regierungssystem klar; er warf der Regierung vor, dass sie das Jalta-Abkommen und die Atlantik-Charta mit Füßen trete. Was vor Titos Machtübernahme geschehen sei, könne ihm, Stepinać, nicht in die Schuhe geschoben werden. Damals hätten drei Regimes, die Exilregierung in London, Titos Partisanenkommando »in den Wäldern« und Pavelićs Machtapparat in Zagreb, gegeneinander gekämpft, und es sei seine Pflicht gewesen, die besten Mittel zum Schutze seines Volkes zu suchen. Er wandte sich scharf gegen Titos Kirchen- und Erziehungspolitik, bot aber der Regierung im selben Atemzug – als gleichberechtigte souveräne Macht – Verhandlungen über einen Kompromiss an, nicht ohne sie höhnisch aufzufordern, ihn doch zum Märtyrer zu machen. Das Gericht umging die Falle: Es verurteilte den Kardinal zu 16 Jahren Gefängnis; die Regierung wandelte diese Strafe später in Zwangsaufenthalt um: Stepinać war nicht im Gefängnis, durfte aber sein Heimatdorf nicht verlassen und ist dort gestorben.

Im Grunde lässt ein Prozess dieser Art die Kämpfenden in der Lage verharren, in der sie sich vor dem Prozess befunden hatten. Die entscheidenden Positionen bleiben, sowohl was das herrschende Regime als auch was seine Gegner angeht, in Gefolge des Prozesses unverändert. Da das Regime über sämtliche Machtmittel verfügt, wird es nicht verfehlen, das, worauf es ihm ankommt, gebührend herauszukehren, aber seinem Gegner lässt es – sei es aus Ritterlichkeit, sei es aus Gleichgültigkeit, sei es aus einem unerschütterlichen Überlegenheitsgefühl – die zweifelhafte Genugtuung, an die Geschichte appellieren zu dürfen. Natürlich benutzen beide Seiten alle erreichbaren Propagandakanäle, um ihre gegensätzlichen Versionen an den Mann zu bringen, wobei das Regime den Inlandsmarkt und sein Gegner häufig den Auslandsmarkt monopolisiert.

Bei solchen Prozessen gelten indes immer noch viele traditionelle Vorstellungen. Obgleich auch diese Prozesse dem Sicherheitsbedürfnis des Regimes Rechnung tragen, bleibt die Lösung, die sie bieten, äußerlich und unbefriedigend. Außer, wenn es dem Regime gelingt, den Gegner in einer Frage von unverkennbarer moralischer Tragweite in die Enge zu treiben, lässt das Gerichtsverfahren die Herrschaftsordnung weder legitimer noch weniger legitim erscheinen. Die Hürde, die nicht genommen werden kann, ist augenscheinlich der Angeklagte. Könnte dem Angeklagten im Rahmen eines Inszenierungsplans, der um eine objektive Situation herum aufzubauen wäre, eine bestimmte Rolle zugewiesen werden, so könnten die Machthaber den Prozess eher dazu benutzen, nach ihren Wünschen die Geschichte zu lenken: Der Prozess brächte dann nach den Bedürfnissen des Regimes die verlangten Bilder und Vorstellungen hervor. Er käme also als erzieherische Manipulation dem Ziel näher, in den Köpfen der Menschen eine nach dem Ebenbild der Machthaber veränderte Wirklichkeit entstehen zu lassen.

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