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b) Fehlschlag eines Inszenierungsplans

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Wie eine solche erzieherische Manipulation aussehen könnte, lässt sich an Hand des Falles Grünspan in Erfahrung bringen. Der Fall zeichnet sich dadurch aus, dass hier die Strategie und die Ziele derer, die der Anklagebehörde Weisungen erteilen, nicht erst aus dem tatsächlichen Verlauf eines Prozesses rekonstruiert zu werden brauchen: Die Denkschriften und Besprechungsprotokolle der mit der Durchführung des Falles Beauftragten liegen vor. Am 7. November 1938 gab Herschel Grünspan (in polnischer Schreibweise Grynszpan) im Gebäude der deutschen Botschaft in Paris auf den Gesandtschaftssekretär Ernst vom Rath mehrere Schüsse ab; vom Rath starb an den Folgen zwei Tage später. Der Täter wurde von den französischen Behörden verhaftet, vernommen und ärztlich untersucht, aber zum Prozess war es bis zum Sommer 1940 nicht gekommen; dann wurde er den deutschen Behörden auf deren Verlangen »überstellt«.98 Zunächst kam er ins Konzentrationslager Sachsenhausen, dann – im Sommer 1941 – ins Moabiter Untersuchungsgefängnis in Berlin. Die Reichsanwaltschaft beim Volksgerichtshof wurde vom Reichsjustizministerium angewiesen, gegen Grünspan Anklage zu erheben; da sich der Anschlag auf vom Rath angeblich mittelbar gegen die deutsche Staatsführung gerichtet habe, wurde er als hochverräterischer Akt ausgelegt und dementsprechend in die Zuständigkeit des Volksgerichtshofs verwiesen.

Ob Grünspan von den französischen Behörden zu Recht ausgeliefert worden war, erschien ebenso zweifelhaft wie die Zuständigkeit der deutschen Gerichtsbarkeit. Schon das allein bereitete den deutschen Behörden einiges Kopfzerbrechen. Darüber hinaus stand aber die Reichsanwaltschaft vor einer viel gewichtigeren praktischen Schwierigkeit. Spätestens 1942, vielleicht schon früher, ließ Grünspan die These fallen, dass er die Tat vollbracht habe, um gegen die Hitlersche Barbarei und namentlich gegen die Deportation seiner in Hannover ansässigen Eltern nach Polen zu protestieren. (Die Familie war nach Deutschland Jahrzehnte früher aus einer russischen Provinz eingewandert, die mittlerweile an Polen gefallen war.) Er behauptete nunmehr, dass seine Tat aus persönlichen Motiven hervorgegangen sei, die mit homosexuellen Beziehungen im Zusammenhang gestanden hätten.

Das waren aber noch kleinere Klippen, so unbedeutend wie die Rolle, die Grünspan selbst in der verwickelten Angelegenheit spielte. Die größten Klippen ergaben sich aus Kompetenzkonflikten darüber, welche Stellen für die Durchführung des Verfahrens verantwortlich seien und über die politische Zielsetzung zu bestimmen hätten. Der erste Entwurf der Anklageschrift stammte von einem Beamten der Reichsanwaltschaft. Er wurde von Reichspropagandaminister Goebbels als völlig unzureichend verworfen, weil er die Tat als unpolitischen Mord behandelt und Grünspan nicht als das ausführende Organ des vom Weltjudentum geschmiedeten Komplotts entlarvt habe. Mit dieser Begründung versuchte Goebbels, die Führung des Verfahrens an sich zu reißen. Nach seiner Darstellung soll Hitler seinen Vorschlag gutgeheißen und die »juristische Führung des Prozesses« dem Volksgerichtshofspräsidenten Georg Otto Thierack übertragen haben. Da Goebbels in der Hierarchie höher rangierte als Thierack, beanspruchte er für sich persönlich das Recht, die Gesamtleitung der Operation zu übernehmen.

Diese Regelung rief jedoch Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop auf den Plan. Er protestierte gegen die ungenügende Berücksichtigung außenpolitischer Gesichtspunkte. Nach seiner Version war die Ermordung vom Raths ein überlegter Sabotageakt, der das von ihm begonnene Werk der deutsch-französischen Verständigung habe torpedieren sollen. Außerdem bemängelte er die ungenügende Herausarbeitung des zentralen Planes des »Weltjudentums«, die westliche Welt in einen Krieg gegen Deutschland zu stürzen. Unter dem Vorsitz Thieracks fanden mehrere Besprechungen der Vertreter der drei Ministerien statt, in denen die verschiedenen Standpunkte aufeinander abgestimmt werden sollten. So eifrig man aber auch suchte: Direkte Beziehungen zwischen Grünspan und dem »Weltjudentum« oder gar konkreten Plänen und Vorhaben des »Weltjudentums« ließen sich nicht ausfindig machen. Zum Schluss einigte man sich auf die Formel von der »intellektuellen Urheberschaft des Weltjudentums«. Auf dieser Grundlage sollte der Prozess aufgezogen werden.

Für die öffentliche Verhandlung waren sieben Tage vorgesehen. Am ersten Tage sollten die Tatumstände erörtert werden. Sodann sollte die Darstellung der humanen Methoden folgen, mit denen die Abschiebung polnischer Juden aus Deutschland praktiziert worden sei. Anschließend sollte die Mordtat selbst rekonstruiert werden. Allzu viel Zeit war für all diese Präliminarien allerdings nicht reserviert. Für die Ermittlung der geistigen Verantwortung für die Tat und für die Feststellung der »Hintermänner« waren dagegen allein dreieinhalb Tage in Aussicht genommen. Das gesamte Arsenal des Antisemitismus und der dazugehörigen Pseudowissenschaft sollte mobilisiert werden.

Als Star des Prozesses war der frühere französische Außenminister Georges Bonnet ausersehen: Ihm war die Aufgabe zugedacht, im Detail darzulegen, wie die deutsch-französische Versöhnung durch den Mord in die Luft gesprengt worden sei. Von Anfang an hatte allerdings Thierack seine Zweifel am Inhalt der Zeugenaussage Bonnets; im Notfall sollte der Dolmetscher aushelfen, dem damit eine wichtige Rolle zufiel. Nach der Vernehmung Bonnets stand die Verlesung von Auszügen aus französischen und jüdischen Zeitungen und sonstigen Dokumenten auf der Tagesordnung. Als besonderer Clou war anschließend ein Expertenvortrag geplant: Der wohlbekannte Rechtsanwalt Friedrich Grimm, seit eh und je Prozessbeistand deutscher Rechtskreise in politischen Verfahren, der dem Dritten Reich als Sachverständiger für Auslandsprozesse diente und bereits in den Vorbereitungsstadien des Verfahrens herangezogen worden war, sollte vor allem die »intellektuelle Urheberschaft des Weltjudentums« an der Mordtat darlegen. Für den sechsten Tag waren die Plädoyers der Verteidiger angesetzt, darunter das Plädoyer eines Offizialverteidigers, dessen späteres Verhalten in Prozessen um den 20. Juli gezeigt hat, dass er durchaus geeignet gewesen wäre, der Anklagebehörde kräftig unter die Arme zu greifen. Gleichwohl wurde nichts dem Zufall überlassen: Den Protokollen der interministeriellen Besprechungen lässt sich entnehmen, dass der Offizialverteidiger »über seine Pflichten während des Prozesses von Dr. Thierack in zweckentsprechender Form verständigt« worden war. Am siebenten Verhandlungstage sollte schließlich der nominelle Regisseur der Veranstaltung, der pro forma mit dem Vorsitz betraute Vizepräsident des Volksgerichtshofs, das Urteil verkünden.

Und aus all der sorgsamen, minuziösen, detailbeflissenen Planung wurde nichts. Der Kompetenzstreit erwies sich als unlösbar. Das Justizministerium wollte nicht hinter anderen Ressorts zurückstehen; es bestand nun darauf, dass geklärt werde, ob Hitler bei der Ausgabe der Weisung, den Prozess endgültig in Gang zu bringen, gewusst habe, was Grünspan über vom Raths Homosexuellenaffären aussage. Ribbentrop wünschte weitere Vorträge über den Zusammenhang zwischen »Weltjudentum« und auswärtiger Politik. Goebbels bezweifelte, ob sich mit der Geschichte von der »humanen« Ausweisung der polnischen Juden im Herbst 1938 gute Propagandawirkungen erzielen ließen. Überhaupt ebbte das Interesse am Prozess ab, als sich herausstellte, dass Bonnet nicht bereit war, vor Gericht zu erscheinen. Ungeklärt blieb nach wie vor, ob eine Chance bestand, die zu erwartende verheerende Wirkung der Grünspanschen Homosexualitätsgeschichten zu neutralisieren.

Gegen Ribbentrops Einspruch wurde der Prozess am 17. oder 18. April 1942 bis auf weiteres ausgesetzt und damit, wie sich später zeigen sollte, endgültig begraben. Offenbar war Hitlers Entschluss, auf den Schauprozess zu verzichten, zum Teil durch das Bedenken hervorgerufen worden, dass Grünspans Homosexualitätsversion die so gründlich geplante Veranstaltung um jede Wirkung bringen könnte. Es gab aber auch noch ein anderes Motiv: Aus mancherlei Gründen war Hitler im April 1942 dem Frankreich von Vichy nicht mehr so gewogen wie vordem; das machte es inopportun, ein Gerichtsschauspiel aufzuführen, das die Machenschaften einer alljüdischen Verschwörung hätte darlegen und damit Frankreichs Vorkriegssünden als weniger gravierend erscheinen lassen müssen.

Ob Grünspan deswegen am Leben geblieben ist, weil sich einerseits Ribbentrop, anderseits Thierack weiterhin beharrlich bemühten, den Prozess um ihrer eigenen Sonderinteressen willen doch noch stattfinden zu lassen, muss dahingestellt bleiben. Die Angaben über Grünspans weiteres Schicksal sind voller Widersprüche. Sein Vater und sein Bruder erklärten am 25. April 1961 im Eichmann-Prozess, keinerlei Nachrichten von ihm seit 1939 erhalten zu haben.99 Dass Grünspan unter einem angenommenen Namen in Frankreich lebe, wurde dagegen im November 1960 in einem Münchner Prozess behauptet, in dem die Familie vom Rath das Andenken des ermordeten Diplomaten von jedem Makel zu reinigen suchte. Wegen Verunglimpfung des Andenkens eines Verstorbenen hatte sich ein Schriftsteller zu verantworten, der die Behauptungen über angebliche homosexuelle Beziehungen zwischen vom Rath und Grünspan im Druck wiederholt hatte. Das Gericht hatte Grünspan nicht laden können, und so ließ sich der Wahrheitsgehalt der Version, an die er sich zwei Jahrzehnte früher geklammert hatte, nicht prüfen. Dass hohe Nazi-Würdenträger den Prozess zu Propagandazwecken geplant hatten, wurde indes von zwei bestens unterrichteten Zeugen, dem früheren Oberreichsanwalt Ernst Lautz, Hauptankläger beim Volksgerichtshof, und dem früheren Staatssekretär im Reichspropagandaministerium Leopold Gutterer, eindeutig bekundet. »Das Reichspropagandaministerium habe die Schuld des ›Weltjudentums‹ und der Hintermänner herausstellen wollen«, sagte Lautz; man habe einen »Monsterprozess geplant …, um die Maßnahmen gegen die jüdische Bevölkerung zu unterbauen«, bestätigte – aus etwas engerer Sicht – Gutterer.100

Der missglückte Plan hatte einem Schauprozess gegolten, dem eine konkrete Propagandaaufgabe zugedacht war. Das formale Ziel des Prozesses, Grünspans Verbrechen zu vergelten, war lediglich der Haken, an dem eine belehrende Mär aufgehängt werden sollte. Der Prozess biete die Möglichkeit, der ganzen Welt den maßgebenden Anteil des »Weltjudentums« am Ausbruch des Krieges zu beweisen, schrieb Goebbels an Hitler.101 Die didaktische Erzählung konnte in Einzelheiten des Hergangs und in Schlussfolgerungen nach Belieben ausgesponnen werden. Wenn es nicht so einfach war, die konkreten Ziele des Prozesses endgültig festzulegen, so lag das an den auseinanderstrebenden Wünschen und konkurrierenden Ressortambitionen der einzelnen Sektoren der Bürokratie, die sich nicht ohne weiteres auf einen gemeinsamen Nenner bringen ließen. Vielleicht fehlte es auch an der nötigen Anzahl überzeugend klingender und beflissen fügsamer Jasager.

Auf den ersten Blick scheint es merkwürdig, dass Grünspan nie dazu gebracht worden ist, seine Homosexuellenerzählung zu widerrufen. Aber auch dafür gibt es eine Erklärung. Im Hitlerschen Deutschland nahm die Justizverwaltung, zu deren Bereich die Voruntersuchung und die Gefängnisorganisation gehörten, nicht direkt an der Handhabung der physischen Gewalt teil, die so viele Bereiche des gesellschaftlichen Lebens eisern umklammerte. Für direkte Gewaltanwendung war der Sicherheitsapparat da, aber auf eigene Faust hätte er angesichts der heftigen und vielseitigen Ressortauseinandersetzungen über die Organisation des Prozesses schwerlich eingreifen mögen. Damit hängt der allgemeinere Grund zusammen, weswegen das nationalsozialistische Deutschland Schauprozesse der Stalinschen Art nie erlebt hat. Die Gegensätze in den Oberschichten der Gesellschaft waren zumindest seit 1938 so tief und so verbreitet, dass die eigentlichen Machthaber es kaum nötig hatten, eine fiktive Alternativwirklichkeit zu konstruieren, mit der die jeweils zur Vernichtung bestimmten Gegner mit vieler Mühe und großer Sorgfalt hätten identifiziert werden müssen, sofern man aus Prozessen einen wesentlichen Macht- und Prestigegewinn hätte schöpfen wollen.

Abgesehen von der gefürchteten Gegenwirkung, die durch die Erörterung dunkler Homosexuellenaffären hätte ausgelöst werden können, waren sämtliche Vorbereitungen zum Grünspan-Prozess mit einem grundlegenden Manko behaftet. Was der größte Nutzeffekt des Prozesses hätte sein sollen, war auch seine größte Schwäche: Geplant war ein großes didaktisches Schauspiel, aber die imaginäre Situation, aus der heraus es sich entfalten sollte, existierte nur in den Köpfen von Nationalsozialisten. Grünspan war als Mensch und als Mitwirkender an geschichtlichen Ereignissen eine viel zu nebensächliche, viel zu periphere Figur, als dass man aus ihm ein wirksames Symbol der abgründigen Gefahr hätte machen können, die mit der Enthüllung eines infamen Komplotts des »Weltjudentums« an die Wand gemalt werden sollte. Der Abstand zwischen den Nationalsozialisten und ihrem zufälligen Opfer war so groß, dass seine für sie im Grunde uninteressante Tat auch in ihren Augen nicht die Ausmaße einer schweren Bedrohung der Zukunft Deutschlands annehmen konnte.

Eigentlich hätten die strategischen Planer der Prozesspropaganda gewarnt sein müssen, denn schon zu Beginn der nationalsozialistischen Ära hatten sie mit der gerichtlichen Ausschlachtung eines wirksamen Propagandacoups ein eklatantes Fiasko erlebt. Ob die Nazis das Reichstagsgebäude selbst angezündet oder – nach einer plausibleren Deutung – lediglich aus der Tat eines isolierten Einzelgängers Kapital geschlagen hatten, war in der Wirkung gleichgültig. Sie hatten aus dem Reichstagsbrand eine kommunistische Verschwörung gemacht und sich damit den bestmöglichen Ausgang der Reichstagswahlen vom 5. März 1933 gesichert. Damit war ihr Ziel erreicht. Alles andere war nachträgliche Improvisation, ein Bravourstück, ein mangelhaft durchdachter und schlecht ausgeführter Versuch, ein ihnen nicht restlos ergebenes Gericht dazu zu benutzen, der Welt eine erfundene Alternativwirklichkeit mit dem Wahrheitssiegel eines ordnungsgemäßen Rechtsverfahrens vorzuführen. Der Reichstagsbrandprozess fand zu einer Zeit statt, da sich das neuerrichtete totalitäre Regime erst im Konsolidierungsstadium befand. Er wurde einem Gericht anvertraut, das zwar in einer totalitären Atmosphäre amtierte, sich aber dieser Atmosphäre noch nicht richtig angepasst hatte: Die Richter am Reichsgericht waren im Winter 1933/34 in das Hitlersche System noch nicht vorschriftsmäßig eingegliedert. Sie waren zwar bereits hinreichend eingeschüchtert – oder gutgläubig genug, die Geheimnisse der Affäre van der Lubbe, vor allem das Rätsel seines Verhaltens vor Gericht, nicht näher ergründen zu wollen und das unglückselige Opfer ohne großen Aufwand dem Scharfrichter zu überantworten. Aber sie durchkreuzten die Hauptabsicht, die das neue Regime mit dem Prozess verfolgte: Indem sie die mitangeklagten deutschen und bulgarischen Kommunisten freisprachen, verweigerten sie dem Hitlerschen System die nachträgliche Beglaubigung der von ihm konstruierten Alternativwirklichkeit. Zur Strafe wurde dem Reichsgericht mit sofortiger Wirkung die Zuständigkeit für politische Verfahren für alle Zukunft abgesprochen. Das Scheitern des Grünspan-Projekts sollte jedoch noch viele Jahre später dartun, dass die Möglichkeit, die Gerichte jederzeit in den Dienst der politischen Symbolbildung zu stellen, mit der bloßen Verlagerung der Zuständigkeit, ja sogar mit der Auswechslung des richterlichen Personals noch nicht gewährleistet ist.

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