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a) Freiheit der Forschung stößt auf Schranken
ОглавлениеDie Stellung eines kleinen Staates in einer Welt von Riesen und weitgespannten übernationalen politischen Bewegungen ist im günstigsten Fall höchst unbehaglich. Sie verschlechtert sich unvermeidlich, wenn ein Krieg ausbricht und der Zwerg darauf besteht, neutral und unabhängig zu bleiben. Ein machtstrotzender Nachbar kann den Druck auf den kleinen Staat vermehren und seine Gefügigkeit trotz aller Neutralität erzwingen, indem er über die Grenze hinweg Kräfte mobilisiert, die ihm freundlich oder gar verehrungsvoll gegenüberstehen. Vom Giganten bedrängt, wird der neutrale Zwerg in die Alternative hineingetrieben, physisch vernichtet zu werden oder moralisch zu kapitulieren. Seine Staatsmänner müssen dann zwischen Mord und Selbstmord lavieren und sich auf Kompromisse und Demütigungen einlassen.
Für den Historiker ist es leichter als für den politischen Führer, zu sagen, wo die Grenze der Anpassung gezogen werden solle. Da sich der politische Führer ohne Zeitverlust entscheiden muss, steht er immer wieder vor einem qualvollen Dilemma. So musste die Regierung der kleinen Schweiz zu Beginn des Zweiten Weltkriegs unter offensichtlichem Druck darauf verzichten, die Nationalsozialistische Partei aufzulösen, die, wenn sich Hitler je entschlossen hätte, die Schweiz in den Umkreis seiner »Neuen Ordnung« einzubeziehen, dem Dritten Reich als Stoßtrupp gedient hätte. Womit wurde diese Selbstknebelung begründet? Der Vorsteher des Eidgenössischen Militärdepartements hatte, wie es später in einer amtlichen Veröffentlichung hieß, den Nationalrat darauf hingewiesen, »daß im deutschen Hauptquartier nicht nur normale, sachliche Erwägungen zu Entschlüssen führten, sondern daß oft aus momentanen Stimmungen, Verstimmungen, in Zorn entschieden würde. Eine Auflösung der deutschen Organisationen in der Schweiz hätte zu einer solchen stimmungsmäßigen Entschlußfassung Hitlers im Sinne einer Aktion gegen unser Land führen können.«69
Wird solches Seiltanzen mit allen Demütigungen, die es mit sich bringt, zum einzigen Mittel der Selbsterhaltung, so muss das Land mit nationaler Überempfindlichkeit reagieren. Mit Entrüstung wird jeder verurteilt, der im Innern dazu beiträgt, dass solche untragbaren Zustände entstehen oder von der bedrohlich starken Auslandsmacht ausgeschlachtet werden. Es war nur natürlich, dass Anhänger des Nationalsozialismus, die sich an hitlerfreundlichen Umtrieben in der Schweiz beteiligt hatten, in dem Augenblick vor Gericht gestellt wurden, da die akute Gefahr für die nationale Sicherheit vorbei war.70
Während des Krieges war patriotisches Verhalten für die meisten Schweizer das Gegebene und Selbstverständliche. Nur am Rande der Gesellschaft gab es kleine nazifreundliche Gruppen; in dem Maße, wie der außenpolitische Druck zunahm, gewannen sie einigen Anhang unter Menschen, die sich weniger aus Überzeugung als aus Opportunitätsgründen anzupassen bereit waren. Solange noch die Gefahr der Invasion drohte, konnte gegen diese durchsichtige Neigung, sich für den Fall der Katastrophe ein schützendes Obdach zu sichern, kaum viel unternommen werden. Umso dringlicher schien radikales Durchgreifen, nachdem der Krieg vorüber war; die moralische Norm patriotischen Verhaltens sollte – zum Teil wenigstens – nicht mehr in Notverordnungen der Exekutive, sondern in Vorschriften der ordentlichen Gesetzgebung verankert werden. Der dringende Wunsch, die Schweiz aus internationalen Verwicklungen herauszuhalten, verflocht sich gewissermaßen mit dem moralischen Verlangen, die Grundsätze patriotischen Verhaltens zu zwingenden Geboten zu machen.
Traditionell waren die Schweizer einer Verschärfung der Staatsschutzbestimmungen wenig zugetan. Vorschläge für eine schärfere Fassung der Sicherheitsbestimmungen waren in den zwanziger und dreißiger Jahren wiederholt durch Referendum verworfen worden. Erst die Erfahrungen der Kriegszeit brachten es mit sich, dass dieser althergebrachte Widerstand ins Wanken kam. Verschiedene Notverordnungen vom Ende der dreißiger und aus den vierziger Jahren wurden 1950 in aufeinander abgestimmten Vorschriften des regulären Strafrechts zusammengefasst.71
Eine der weitestgehenden Bestimmungen, der neue Artikel 272 des Strafgesetzbuches, richtet sich gegen politische Nachrichten, die ausländischen Interessen dienen. Anders als in den übrigen Teilen der neuen Gesetzgebung ist die Bestrafung hier nicht an die Weitergabe unwahrer Behauptungen und auch nicht an vorsätzliche Unterstützung anti-schweizerischer Bestrebungen geknüpft. Strafbar ist schon die Weitergabe von Informationen an ausländische Empfänger, wenn sie der Schweiz oder schweizerischen Interessen zum Nachteil gereicht.72 Angewandt wurde diese verschärfte Bestimmung in einigen Fällen, über die keine ausführlichen Berichte vorliegen: Einmal handelte es sich um einen schweizerischen Geschäftsmann, der die Konsulatsbehörden der Vereinigten Staaten über die nationalsozialistische Vergangenheit eines Konkurrenten informiert hatte, ein andermal um Material über linksgerichtete Personen und Gruppen in der Schweiz, das dem Büro des amerikanischen Senators McCarthy zugeleitet worden war.73
Der große Fall, an dem sich die neue Bestimmung zu erproben hatte, kam 1952, als der Bundesrat die erforderliche Zustimmung zur Einleitung eines Strafverfahrens vor dem Bundesstrafgericht gegen Professor André Bonnard, Dozent für griechische Literatur an der Universität Lausanne, erteilte. Kein eingeschriebenes Mitglied der (kommunistischen) Schweizer Arbeiterpartei, hatte sich Bonnard seit einiger Zeit bei verschiedenen von kommunistischer Seite geförderten Aktionen betätigt, war unter anderem Präsident des schweizerischen Zweiges der Weltfriedensbewegung. Am 12. Mai 1952 hatte ihn der französische Physiker Fréderic Joliot-Curie, Sekretär des Weltfriedensrates (Sitz Prag), brieflich aufgefordert, Material über das in der Schweiz residierende Internationale Komitee vom Roten Kreuz zu beschaffen. Besonders wurde um Angaben gebeten, aus denen sich der Charakter des Komitees als einer privaten schweizerischen Gruppe, enge Beziehungen zwischen den führenden Personen des Komitees und bestimmten Bank- und Industrieinteressen und die Größe der englisch-amerikanischen Beiträge erkennen ließen. Der Grund lag auf der Hand und wurde auch nicht verschwiegen. Das Rote Kreuz hatte sich (was Bonnard selbst angeregt hatte) erboten, die Beschwerden Nord-Koreas über die angebliche Verwendung bakteriologischer Waffen durch die Amerikaner unparteiisch zu untersuchen. Nord-Korea hatte mit Unterstützung der Sowjetunion das Angebot verworfen, und jetzt musste bewiesen werden, dass das mit gutem Grund geschehen war.
Ein Teil des angeforderten Materials war nicht schwer zusammenzutragen. Offizielle Angaben stellte die Verwaltung des Roten Kreuzes selbst einem der beiden Mitarbeiter Bonnards zur Verfügung. Um das übrige musste sich Bonnard, nachdem sich das von seiner Mitarbeiterin gesammelte Material als wenig beweiskräftig erwiesen hatte, persönlich bemühen. Aus Publikationen des Roten Kreuzes, Handbüchern der Aktiengesellschaften und polemischen Schriften sozialistischer Autoren ermittelte er die finanziellen und wirtschaftlichen Positionen und Interessen führender Mitglieder des Internationalen Komitees; ebenso stellte er fest, dass beim Komitee im Zweiten Weltkrieg unter anderem auch Beiträge aus Deutschland und Japan eingegangen waren.
Er gab die Ergebnisse seiner Recherchen zur Post und machte sich auf, eine Tagung der Weltfriedensbewegung in Ost-Berlin zu besuchen. Als er am 30. Juni 1952 auf sein Flugzeug wartete, wurde er von der Polizei angehalten und sein Gepäck durchsucht. Beschlagnahmt wurden Notizen für eine Rede über Abrüstung, europäische Vereinigung, Haltung der schweizerischen Öffentlichkeit und Beziehungen zwischen dem Roten Kreuz und der Genfer Finanzaristokratie. Zu der geplanten Rede hatte Bonnard eine Einleitung ausgearbeitet, in der er sagte, er habe das Internationale Komitee vom Roten Kreuz lange bewundert, sei aber nach gründlichem Studium zu dem Schluss gekommen, dass Nord-Korea mit seiner ablehnenden Haltung recht habe.
Erst im März 1954, nach einer Voruntersuchung von fast einundzwanzig Monaten, kam der Fall zur Verhandlung. Der Tatbestand war kaum umstritten. Die von der Verteidigung geladenen Zeugen, französische und belgische Kollegen Bonnards aus dem Weltfriedensrat, priesen die Friedensarbeit der Organisation. Ähnlich äußerte sich der Angeklagte; er erklärte mit Nachdruck, dass weder seine allgemeine Haltung noch seine Tätigkeit zu der geringsten Kritik Anlass gebe. Die Anklagebehörde beantragte drei Monate Gefängnis für Bonnard und acht Tage Gefängnis für den mitangeklagten Sekretär des schweizerischen Zweiges der Weltfriedensbewegung; die in der Materialbeschaffung weniger tüchtige Mitarbeiterin sollte freigesprochen werden, aber einen Teil der Prozesskosten tragen.
Das Gericht schloss sich den Anträgen nicht in vollem Umfang an. Das Material, das Bonnard für seine Berliner Rede zusammengestellt hatte, erachtete es nicht als »Nachrichten« im Sinne des Gesetzes. Dagegen erblickte es ein strafbares Delikt in der Weitergabe der angeforderten Daten an Joliot-Curie. Vom Standpunkt der Schweiz, meinte das Gericht, seien die Bemühungen des Angeklagten, die finanziellen Verbindungen der Spitzenfunktionäre des Roten Kreuzes nachzuweisen, ohne Bedeutung; seine Handlungen seien aber strafbar, weil seine Auftraggeber einen bestimmten Zweck zum Nachteil schweizerischer Interessen verfolgt hätten. Hätte ein Journalist ähnliches Material für den Zeitungsleser gesammelt, so hätte das keine gerichtlichen Folgen nach sich gezogen; Bonnard aber habe politische Nachrichten für ausländische Auftraggeber zu einem konkreten Zweck zusammengetragen: um die Weigerung Nord-Koreas, einer Untersuchung durch das Rote Kreuz zuzustimmen, zu rechtfertigen. Dass schweizerische Interessen geschädigt worden seien, brauche nicht besonders nachgewiesen zu werden, denn das Vorgehen der Angeklagten habe sich klar gegen eine in der Schweiz ansässige und ausschließlich von Schweizer Bürgern geleitete und verwaltete Organisation gerichtet.74
So extrem sich das Gericht in der Auslegung des »Nachrichtendienstes« für ausländische Auftraggeber zeigte, so vorsichtig war es in der Bemessung der Strafen: Der Hauptangeklagte wurde zu fünfzehn Tagen, der mitangeklagte Sekretär der Weltfriedensbewegung zu acht Tagen Gefängnis, die Mitarbeiterin nur zur Tragung der Kosten verurteilt. Dazu wurde die Vollstreckung der Strafe gegen Bonnard ausgesetzt. Bonnard, sagte das Gericht, habe kein Zeichen der Reue an den Tag gelegt, denn hätte er das getan, so hätte er seiner Rechtfertigung, dass er nur von seinen Rechten Gebrauch gemacht habe, den Boden entzogen; anderseits brauche nicht angenommen zu werden, dass er in seinem unrechtmäßigen Tun verharren werde: Sei er einmal verurteilt, so werde er vielleicht in sich gehen und sich zu besserem Verhalten durchringen. Des Gerichts resignierende Urteilsbegründung sagte nicht, dass das Gesetz, nach dem es Recht sprach, widersinnig sei, und es ist nicht einmal sicher, dass die Richter sich dessen bewusst waren. Aber ein anderer Schluss konnte aus dem Sachverhalt schwerlich gezogen werden.
Die Öffentlichkeit reagierte verschieden. Spürbar war ein erhebliches Unbehagen. Offenbar war hier ein Gesetz angewandt worden, das sich wie Kautschuk handhaben ließ: In seiner Unbestimmtheit ermöglichte es die strafrechtliche Verfolgung von Handlungen, die sich eindeutig in den Grenzen legitimer politischer Kritik hielten.75
Keine klare Äußerung deckte indes den Kern des Staatssicherheitsproblems auf, wie es gerade die kleine Schweiz betrifft. Der Grundsatz der Neutralität mag als bequeme Faustregel im Alltag gelten und sich vielleicht sogar in einer wirklich bedrohlichen Situation behaupten. Aber die Neutralität des offiziellen Staatsgebildes kann nicht auch das Denken des einzelnen Staatsbürgers neutralisieren. Der Drang, nach den Geboten der eigenen politischen Einsicht Partei zu ergreifen, kann sehr wohl stärker sein als alle Vorsicht. Menschen handeln nach Maßgabe ihrer Erkenntnisse und werden, wenn das ihren Zielen dienlich ist, den Ergebnissen des eigenen Nachdenkens gestatten, die Staatsgrenzen zu überschreiten. Das wird auch dadurch kaum verhindert werden können, dass man diesen Grenzübertritt »Nachrichtendienst« oder »Verbindung mit fremden Mächten« nennt.
Eine etwas frühere schweizerische Gerichtsentscheidung hatte sich mit einem Kommunisten beschäftigt, der 1951 eine »politische Pilgerfahrt« nach Budapest unternommen hatte, um an der Vollzugsausschusssitzung der kommunistisch orientierten Internationalen Journalistenorganisation teilzunehmen. Auf dieser Sitzung hatte er die Schweiz das Zentrum der USA-Spionage genannt und übertriebene und ungenaue, wenn auch nicht ganz grundlose Angaben über die Rüstungsausgaben im Staatshaushalt der Eidgenossenschaft und über die Entsendung von Rüstungsexperten nach Formosa gemacht. Das Bundesstrafgericht verurteilte ihn zu einer Gefängnisstrafe nach dem neuen Artikel 266bis des Strafgesetzbuches, der Auslandsverbindungen zur Förderung gegen die Schweiz gerichteter Bestrebungen unter Strafe stellt. Den Nachweis, dass der Angeklagte ein bereits existierendes der Schweiz schädliches Unternehmen gefördert habe, hielt das Gericht nicht für erforderlich, sofern aus den Tatsachen geschlossen werde könne, dass sich seine Betätigung auch nur mit einem Eventualvorsatz auf ein solches Ziel gerichtet habe.76