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a) Der Oppositionsführer: Affäre Caillaux
ОглавлениеIm Herbst 1917 war Frankreich nach drei Jahren Krieg in einer wenig erfreulichen Verfassung. Die Stimmung der Zivilbevölkerung in der Heimat und der Soldaten an der Front war auf den tiefsten Stand seit Kriegsbeginn gesunken. Verluste an Menschenleben, Verschlechterung der Lebenshaltung, wirtschaftliche Zerrüttung und weitverbreitete Missstände in der Verwaltung hatten jegliche Begeisterung für die siegreiche Weiterführung des Krieges erdrückt. Nach dem langen Stillstand an der Marne hatte die Regierung, weitgehend englischem Druck nachgebend, eine kostspielige Offensive unter der Führung Robert Nivelles (1856 - 1924) angeordnet, der seit Dezember 1916 an der Spitze der nördlichen und nordöstlichen Armeegruppe stand. Die im April begonnene Angriffsaktion erreichte nichts anderes, als dass die vorher geplante Umgruppierung und Positionsbefestigung der deutschen Truppen beschleunigt wurde. Im Mai wurde Nivelle abberufen.
Dass in Russland die Revolution ausgebrochen war, half noch weniger; das Verlangen nach baldiger Beendigung des Krieges wurde dadurch nur gefördert. Unruhen unter den Truppen nahmen zu. Ende des Sommers wurden offene Meutereien unter den französischen Heeresverbänden im Nahen Osten gemeldet und anschließend kam der seit langem schwelende Konflikt zwischen französischen und englischen Heerführern offen zum Ausbruch. Reibungen unter den Alliierten vermehrten sich trotz dem Eintritt der Vereinigten Staaten in den Krieg; Woodrow Wilson hatte sich durchaus nicht darauf festgelegt, den Krieg bis zum niederschmetternden Sieg fortzuführen.
Die wachsende außenpolitische Spannung verschärfte die innenpolitischen Schwierigkeiten der Regierung. Die Allparteienkoalition der Union Sacrée, die es der Regierung in den Anfangsphasen des Weltkonflikts ermöglicht hatte, dem Druck der normalen parlamentarischen Auseinandersetzungen auszuweichen, war faktisch auseinandergefallen. Das für die Nivelle-Offensive verantwortliche Kabinett wurde von allen Seiten torpediert: Von innen von Kriegsminister Paul Painlevé (1863 - 1933), der nach links tendierte und die Einbeziehung der Sozialisten forderte, und von außen von Georges Clemenceau (1841 - 1929), der sich zum Siegesapostel aufgeworfen hatte und immer größere Kriegsanstrengungen verlangte. Clemenceau, der jahrzehntelang als Bannerträger der Linken gegolten, viele konservative Regierungen gestürzt, manchen Rechtspolitiker ruiniert und immer wieder Verschwörungen der Militärs gegen die Republik angeprangert hatte, war in den Kriegsjahren zu einer Politik der Allianz mit dem Militär umgeschwenkt und nun eifrig bemüht, monarchistische und ultranationalistische Anschläge auf die Republik zu vertuschen.
Im August 1917 gelang es Clemenceau, den Innenminister Louis Malvy (1875 - 1929) aus dem Amt zu vertreiben: Er hatte monarchistischen Umtrieben zu eifrig nachgespürt und nicht genug nationale Siegesbegeisterung an den Tag gelegt; später sollte ihm wegen Landesverrats der Prozess gemacht werden. Im September hatte das Kabinett keine parlamentarische Mehrheit mehr. Painlevé, der eine neue Regierung (ohne Sozialisten) bildete, hatte aus den allerletzten Ereignissen nicht genug gelernt: auch er enthüllte eine monarchistische Verschwörung unter Armeeoffizieren. Weitere Enthüllungen dieser Art, schloss Clemenceau, würden der Moral der Nation abträglich sein; im November erreichte er den Sturz des Kabinetts Painlevé.
Darüber, was nun geschehen sollte, gingen die Meinungen der führenden politischen Gruppierungen weit auseinander. Einig war man sich darüber, dass defätistische Kampagnen, die von undurchsichtigen Journalisten und Finanzagenten mit deutscher Unterstützung betrieben wurden, mit polizeilichen und gerichtlichen Mitteln unterbunden werden sollten. Über Krieg und Frieden dagegen konnte man sich nicht einigen. Immer von neuem wurden von neutralen Ländern und von den schwächeren Partnern des feindlichen Mächteblocks, namentlich von Österreich, Friedensfühler ausgestreckt. Wie sollte man sich dazu verhalten? Die Anhänger des Krieges bis zum siegreichen Ende, die Clemenceau mit einer beharrlichen und rücksichtslosen Propaganda- und Intrigenoffensive unermüdlich antrieb, konnten sich auf den Präsidenten der Republik Raymond Poincaré (1860 - 1934) stützen; das militärische Kommando war fest in den Händen Ferdinand Fochs (1851 - 1929); im Parlament stand hinter ihnen eine lose Koalition der Mitte und der Rechten. Diese Gruppen betonten vor allem die gegenüber den Verbündeten eingegangenen Verpflichtungen und die Notwendigkeit eines gemeinsamen Vorgehens aller Ententemächte; ihre Abneigung gegen Friedensinitiativen wurde dadurch bestärkt, dass sich die österreichische Regierung wenig geneigt zeigte, sich ein für alle Mal von ihrem deutschen Bundesgenossen zu trennen.
Am Gegenpol, namentlich unter den verschiedenen Linksgruppen, kam zur starken Enttäuschung über den endlosen und ausweglosen Stellungskrieg die wachsende Unzufriedenheit mit der Bevormundung durch England und mit dem Übergewicht der Engländer in der militärischen Führung.
In Russland hatte Lenin die Macht an sich gerissen und sein Land aus dem Krieg herausgezogen. Wilson schien diplomatischen Friedensvorbereitungen Sympathien entgegenzubringen. Ein Friedensschluss durch Verhandlungen schien sich in der Ungewissheit des Jahres 1917, in dem alles vertagt und hinausgezögert wurde, als die willkommenste Lösung anzubieten.
Doch waren die Gruppen, die zu einem solchen Vorgehen neigten, weder untereinander einig noch endgültig zu einer Politik bereit, die bis dahin stets als Landesverrat gebrandmarkt worden war. Sollten sie gemeinsam agieren, so mussten sie sich von einer starken politischen Persönlichkeit von großem Ansehen und großer Werbekraft führen lassen. Der umsichtige Mathematiker Painlevé war nicht der Mann der Stunde; ebenso wenig war es der große Rhetoriker Aristide Briand (1862 - 1932), obschon er sich als Ministerpräsident und Lenker der Außenpolitik manche Verdienste erworben hatte. Ein einziger Politiker kam als Kristallisationspunkt für eine Friedenskoalition in Frage: Joseph Caillaux. Vielen drängte sich, als das Kabinett Painlevé zu Fall kam, die Alternative Caillaux als unausweichlich auf. Fast sah es so aus, als gebe es nur eine Wahl: Entweder Clemenceau, der Hohepriester des Sieges, oder Caillaux, Symbol der Verständigung. Caillaux hatte sich aus der aktiven Politik am Vorabend des Krieges zurückgezogen, aber man kannte ihn: Er kritisierte die Sinnlosigkeit des Krieges, er war vor dem Krieg für eine deutsch-französische Annäherung eingetreten, und er verfügte über mannigfache politische und finanzielle Beziehungen in allen Hauptstädten der Welt.
War die Alternative echt? Hatte Caillaux überhaupt eine Chance, Parlament und Öffentlichkeit für eine radikale politische Kehrtwendung zu gewinnen? Poincaré scheint wesentlich dazu beigetragen zu haben, die Alternativentscheidung als unumgänglich erscheinen zu lassen.27 Das Motiv war eindeutig: Gelang es, Caillaux als unmittelbar drohendes Schreckgespenst hinzustellen, so musste es umso leichter fallen, es Clemenceau, dem Gefürchteten und Gehassten, dem »Tiger«, zu überlassen, die Zügel an sich zu nehmen, jedem Verständigungsfrieden den Weg zu versperren und Frankreich vor dem Unheil zu bewahren.
Wenigstens zeitweilig begruben die alten Feinde Poincaré und Clemenceau die Streitaxt, um vereint gemeinsame Feinde zu schlagen. Der Tiger trat an die Spitze der Regierung. Sogleich wurden Pläne entworfen, Caillaux nicht nur eine Niederlage in der parlamentarischen Ebene zuzufügen, sondern ihn auch buchstäblich zu vernichten. Er sollte vor Gericht gestellt und als schlechter Patriot, als schnöder Verräter an der Nation entlarvt werden. Damit hoffte man alle Friedensinitiativen und alle defätistischen Neigungen tödlich zu treffen. Wer dabei die treibende Kraft war, ist nicht ganz geklärt. Dass Poincaré von tiefem Hass gegen Caillaux erfüllt war, war kein Geheimnis. Zwei Jahrzehnte später sollte Caillaux von Georges Mandel, Clemenceaus politischem Testamentsvollstrecker, Dokumente aus dem Privatarchiv des Tigers überreicht bekommen, die Poincaré als den Initiator und Planer der Ächtungsaktion hinstellten. Wie dem auch sei: Caillaux, der die Chancen für einen wirksamen politischen Eingriff in der damaligen Situation äußerst skeptisch beurteilte, deutete seine Bereitschaft an, von der politischen Bühne ganz abzutreten und sogar für eine Zeitlang ins Exil zu gehen. Aber damit wäre Poincarés und Clemenceaus großer Plan hinfällig geworden. Das Anerbieten wurde zurückgewiesen, und bei der Abgabe der Regierungserklärung vor der Kammer am 20. November 1917 gab Clemenceau bekannt, dass das neue Kabinett beschlossen habe, gegen Caillaux ein Strafverfahren einzuleiten. Am 11. Dezember wurde die Kammer ersucht, Caillaux’Immunität aufzuheben. Und am 14. Januar 1918 wurde Caillaux verhaftet.
Eine Landesverratsanklage gegen Caillaux war freilich ohne erhebliche Vorarbeit nicht zustande zu bringen. Die Voruntersuchung war der Militärjustiz anvertraut worden. Das Belastungsmaterial – ramassis de ragots, Klatschmüllhaufen, höhnte Caillaux28 – veränderte sein Aussehen von Tag zu Tag. Poincaré, ein Jurist von nicht geringem Ansehen, wusste, dass es fadenscheinig war, und war von der Anklage, die ein Unterstaatssekretär zurechtgeschustert hatte, nicht sonderlich beeindruckt. Umso wichtiger war es, Caillaux, bevor er vor Gericht gestellt wurde, von der öffentlichen Meinung verurteilen zu lassen.29 Poincaré und Clemenceau scheuten keine Mühe. Und in Caillaux’ Vergangenheit gab es mancherlei, was ihn verwundbar machte.
Zu hoher Politik und großem Geschäft gleichsam von der Wiege aus bestimmt, stieg Joseph-Marie-Auguste Caillaux (1863 - 1944) in frühen Jahren zu hohen Positionen in Staat und Wirtschaft auf. Den Fünfunddreißigjährigen hatte ein ziemlich konservativer ländlicher Wahlkreis in die Kammer entsandt. Schon zwei Jahre später war er in einer militanten Linksregierung Finanzminister. Das war kein Renegatenstück. Caillaux war mit einem auf lange Sicht gedachten Programm zur Politik gekommen, und ihm hielt er die Treue. Dies politische Programm umfasste Steuerreform, außenpolitische Neuorientierung und Rüstungsbeschränkung, Ziele, die illusorisch bleiben mussten, wenn sie nicht von einer kampfentschlossenen Allianz der Linken erfochten wurden. Konkrete Maßnahmen in dieser Richtung entsprachen aber auch den wirtschaftlichen Interessen der kleinen Kapitalanleger, das heißt der Masse der Bauern und der städtischen Hausbesitzer. In den vier Jahrzehnten, in denen Caillaux im Vordergrund der französischen Politik bleiben sollte, hatten Linkskoalitionen in der Tat Wahlerfolge dann zu verzeichnen, wenn ihre praktischen Vorschläge breiten Schichten der couponschneidenden Kleinbesitzer klare Kassengewinne versprachen. Caillaux’ überwiegend konservative Wählerschaft unterließ es nie, ihn von neuem ins Parlament zu entsenden.30
Das Geheimnis seines Appells lag in dem besonderen Zusammenhang zwischen Politik und Wirtschaft, dessen Würgegriff die Dritte Republik etwa um die Jahrhundertwende deutlich zu spüren begann. Seit den Tagen des Zweiten Kaiserreichs hatte die Masse der kleinen Eigentümer ihre Ersparnisse immer wieder in mündelsicheren Staatspapieren angelegt. Faktisch konnte sich der Staat Ausgaben nur leisten, wenn er Schulden machte; zugleich ging ein zunehmender Teil der Ersparnisse in Anleihen, die in Frankreich von ausländischen Regierungen, namentlich vom zaristischen Russland, aufgelegt wurden. Die Auslandsinvestitionen der Kleinbesitzer waren nicht ohne Einfluss auf die Führung der auswärtigen Politik. Aus ihr erwuchs ein Bündnissystem, das die Erhaltung und den Ausbau eines großen Militärapparates nötig machte; dem Staatshaushalt wurden ständig neue Lasten aufgebürdet. Da der Staat den Kapitalmarkt abgraste, gab es kaum Kapitalzufuhr für die Industriewirtschaft – außer in einem privilegierten Bereich: Die »Rüstungsmagnaten« profitierten von den vermehrten Waffen- und Munitionsaufträgen; ihrerseits wurden diese Aufträge aus den französischen oder ausländischen Staatsanleihen bezahlt, die in erster Linie von Frankreichs kleinen Sparern und Rentnern gezeichnet wurden. Die ständigen Budgetschwierigkeiten und die wachsende Macht der Rüstungsindustrie (und der hinter ihr stehenden Stahl- und Eisenbarone) vermehrten auf dem politischen Kampfterrain den Druck konservativer und militaristischer Strömungen. In der Haltung der Wähler zeigte sich wiederholt beträchtliches Unbehagen ob dieser Machtkonstellation.
Caillaux’ Ausweg aus dem Labyrinth war eine Kombination finanzieller und politischer Maßnahmen. Er kämpfte für die Besteuerung der hohen Einkommen, um den Anleihebedarf des Staatshaushalts zu reduzieren. Er wirkte darauf hin, dass die Ersparnisse des kleinen Mannes in Industriewerte31 oder in Obligationen von Auslandsgesellschaften für die Erschließung unterentwickelter Länder flossen. Er befürwortete – das hing auch damit zusammen – die wirtschaftliche Zusammenarbeit und politische Annäherung zwischen Frankreich und Deutschland. Seine weitreichenden außenpolitischen Ziele verflochten sich mit seinem Finanz- und Wirtschaftsprogramm. Die Verwirklichung seiner Pläne musste Frankreich in die Lage versetzen, sich von den finanziellen und militärischen Verpflichtungen loszusagen, die es an die russischen Balkan-Abenteuer ketteten. Die außen- und innenpolitische Strategie stände dann nicht mehr unter dem Diktat der Schwerindustrie und ihres forcierten Verlangens nach Rückeroberung der lothringischen Eisenerze. Die »Internationale der Metallindustrie« hätte keine Gewalt mehr über die französische Politik. Mit der Dauerbefriedung an der Ostgrenze wäre Abbau der Heeresbestände und des Rüstungsprogramms möglich. Und mit der Zusammenarbeit der französischen Hochfinanz und der deutschen Industrie in unterentwickelten Teilen der Welt wäre militärische Machtsteigerung unnötig, das strategische und politische Interesse am Kolonialbesitz verringert und Frankreichs Abhängigkeit von der englischen Seeherrschaft und der Weltreichsstrategie Englands entscheidend abgeschwächt.
Das war kein abstraktes Theoretisieren. Zum ersten Mal in der französischen Geschichte wurde 1911/12 unter der Ministerpräsidentschaft Caillaux’ die progressive Einkommensteuer eingeführt, die niedrige Einkommen von der Besteuerung ausnahm. Um dieselbe Zeit konnte Caillaux den deutsch-französischen Konflikt um Marokko beilegen und damit die Voraussetzungen für eine gemeinsame wirtschaftliche Betätigung in Afrika schaffen.32 Als Hauptverantwortlicher für das deutsch-französische Abkommen von 1911 stieß Caillaux auf erbitterten Widerstand in den Reihen der Regierungskoalition und wurde von seinem eigenen Außenminister desavouiert. Sein Kabinett fiel.
Umso intensiver wurden seine finanziellen Operationen. Er bemühte sich hartnäckig darum, die Investitionen der französischen Kleinbesitzer aus den russischen Anleihen abzuziehen und für die Finanzierung der landwirtschaftlichen und industriellen Erschließung von Gebieten außerhalb der französischen Kolonien zu mobilisieren. Er gewann französisches Kapital für den von deutscher Seite begonnenen Einbruch in Domänen englischer Finanzhoheit. Im Jahre 1913 zum Führer der Radikalen Partei gewählt und von neuem als Finanzminister in die Regierung berufen,33 gab Caillaux den Anstoß zu einer breiten Massenbewegung gegen den Ausbau des Heeres und vor allem gegen die dreijährige Dienstpflicht. Wieder war eine angriffslustige Linkskoalition auf dem Vormarsch. Im März 1914 waren Kammerwahlen fällig, und alles sprach dafür, dass die Radikalen und die Sozialisten sie gewinnen würden. Eine Friedens- und Reformregierung unter der Führung Caillaux’ und mit tätiger Unterstützung des großen sozialistischen Volkstribuns Jean Jaurès war im Werden.34
In diesem Augenblick kam in einem unheimlichen Durcheinander von politischen und persönlichen Verwicklungen eine tragische Wendung. Caillaux’ Tätigkeit hatte an vielen Stellen wilden Zorn und tobende Wut ausgelöst. Industriemagnaten, Generale, Zeitungsverleger, deren Käuflichkeit er hatte enthüllen helfen, Royalisten, die sich von den Hasstiraden der Action Française inspirieren ließen, und ganze Scharen von Politikern des rechten Flügels, kurzum alle, die jahrelang gegen Dreyfus gehetzt hatten, verspritzten gegen Caillaux ihr konzentriertes Gift. Äußerlich unberührt, hatte Caillaux für seine Widersacher nur Spott und Hohn übrig; er ließ es sich nicht nehmen, sie zu reizen und zu provozieren. Einer der brillantesten Köpfe in den Annalen der französischen Parlamentsgeschichte und als politischer Schriftsteller beredt und überzeugend, war Caillaux von seiner Bedeutung nicht wenig eingenommen und nicht abgeneigt, seine intellektuelle Überlegenheit und seinen politischen Scharfblick über Gebühr zur Schau zu stellen. Er gab gern zu verstehen, dass ihm Publikumsreaktionen gleichgültig seien, und nahm auch im Privatleben und in persönlichen Beziehungen keine Rücksicht auf Meinungen und Urteile anderer. Er hatte sich von seiner ersten Frau scheiden lassen und danach eine geschiedene Frau geheiratet. Privatbriefe, die Eheschwierigkeiten und Liebesgefühle mit großer Offenheit und Angelegenheiten von erheblicher öffentlicher Bedeutung mit Frivolität und Zynismus behandelten, wurden nicht sorgfältig verwahrt und gingen von Hand zu Hand. Einige erreichten die Zeitung Figaro, die Caillaux am meisten nachstellte. Sie druckte ein paar Leseproben ab und kündigte saftige Enthüllungen an. Von Angst und Sorge getrieben, stürzte Frau Caillaux am 17. März 1914 zur Redaktion des Figaro und gab mehrere Schüsse auf den Redakteur Calmette ab. Die Schüsse waren tödlich.
Der Politiker Caillaux war lahmgelegt. Die herrschenden Sitten verlangten, dass er sich bis zur gerichtlichen Entscheidung die größte Zurückhaltung auferlege. Ohne zu zögern, gab Caillaux sein Regierungsamt auf und schied überhaupt aus dem politischen Getriebe aus; er kümmerte sich nur noch um die Verteidigung seiner Frau. In den entscheidenden Sommermonaten des Jahres 1914 gab es keinen Politiker Caillaux.35 Frau Caillaux wurde von einem Pariser Geschworenengericht freigesprochen.
Seit dem Ausbruch des Krieges war es mit der Hoffnung auf eine Linkskoalition vorbei. Jaurès war ermordet worden. Caillaux war praktisch isoliert und hatte mit politischen Entscheidungen nichts zu tun. Man fürchtete ihn immer noch. Seine außenpolitischen Ansichten hatten sich nicht gewandelt; auch machte er kein Geheimnis daraus, dass ihm ein baldiges Ende des Krieges wichtiger schien als Frankreichs Sieg. Aber er blieb der aktiven Politik fern und äußerte sich nicht in der Öffentlichkeit. Er trat in den Dienst der Armee und zankte sich mit seinen Vorgesetzten. Die Regierung forderte ihn auf, jenseits des Ozeans Rohstofflieferungen zu organisieren. Caillaux übernahm den Auftrag; später wurde ihm für die geleisteten Dienste hohes Lob zuteil.
Den Winter 1914/15 verbrachte Caillaux in Lateinamerika. Er war unmutig und nahm kein Blatt vor den Mund. In Rio de Janeiro machte er die Bekanntschaft eines Grafen Minotto, der die Guaranty Trust Company of New York vertrat und in halbamtlichem Auftrag reiste. Caillaux war bekannt, dass Minotto mit Graf Luxburg, dem deutschen Botschafter in Buenos Aires, zusammenkam. Nicht bekannt war ihm, dass vieles, was er in Unterhaltungen mit Minotto sagte, nach Berlin gemeldet wurde. So hieß es in einem dienstlichen Bericht Luxburgs, Caillaux habe sich über die Dummheit der deutschen Presse beklagt, die ihn überschwänglich lobe und damit der französischen Öffentlichkeit verdächtig mache.36 Da Luxburgs Berichte abgefangen wurden, konnte die französische Anklagebehörde daraus später die Behauptung machen, Caillaux habe die Berliner Regierung gebeten, die Dienste, die er der deutschen Sache leisten könnte, nicht aufs Spiel zu setzen.37
Auch nach seiner Rückkehr nach Frankreich blieb Caillaux in seinem gesellschaftlichen Umgang wie immer unvorsichtig und wenig wählerisch. Er unterhielt Beziehungen zu einem etwas anrüchigen Finanzmakler namens Bolo, der sich später als deutscher Sonderagent für Pressebestechungen und Zeitungskauf entpuppte. Er schrieb Artikel für die Zeitung Bonnet Rouge, die sich von der Unterstützung der Vorkriegspolitik Caillaux’ erst zur Propaganda für den Sieg und dann zur Politik des Friedens bekehrt hatte und deren geschäftsführender Redakteur Duval beim Einlösen schweizerischer Bankschecks gefasst wurde, deren Ursprung aus deutschen Regierungsfonds ermittelt werden konnte. Und er kam mit dem Journalisten Almereyda zusammen, der sich der Reihe nach als halber Anarchist, als Kriegspropagandist und zuletzt als Kriegsgegner und Regierungskritiker betätigt hatte und dem nun auch vorgeworfen wurde, im Dienst der deutschen Regierung zu stehen. Caillaux’ Schwäche für diese zwielichtigen Gestalten stammte aus der Zeit des Prozesses gegen seine Frau: Damals hatten sie ihm als Leibwächter, Claqueure und Presseagenten manchen Dienst erwiesen, und er glaubte ihnen zu Dank verpflichtet zu sein. Schlimmer noch war, dass er nicht für nötig gehalten hatte, die zuständigen Behörden darüber zu unterrichten, dass deutsche Agenten auf ziemlich durchsichtige Weise versucht hatten, mit ihm brieflich oder durch Mittelsleute Verbindungen aufzunehmen. Bolo und Duval wurden verurteilt und hingerichtet. Almereyda beging im Gefängnis Selbstmord. Und der Unteragent, der an Caillaux herangetreten war, fiel der Polizei in die Hände.
Anfang 1917 wurden Caillaux und seine Frau von einer Horde nationalistischer Rowdys überfallen. Um sich von diesem Schock zu erholen, reisten sie nach Italien. Dort verkehrte Caillaux in Kreisen, die der Kriegspolitik der italienischen Regierung kritisch gegenüberstanden; auch in diese Kreise hatte sich, wie sich später herausstellen sollte, ein feindlicher Agent eingeschlichen. Im Gespräch mit dem einzigen italienischen Politiker von der »richtigen« Couleur, dessen er habhaft werden konnte, machte Caillaux kein Hehl aus seiner wirklichen Meinung. Mit den üblichen Entstellungen und Übertreibungen wurde den Pariser Behörden nicht nur über diese und ähnliche Unterhaltungen, sondern auch noch über die angeblich defätistischen Ansichten berichtet, die Caillaux auf der Heimreise einem Schlafwagenschaffner offenbart haben sollte.
In Frankreich verharrte Caillaux in der politischen Passivität. Im Parlament schwieg er. Die einzige politische Ansprache, die er vor seinen Wählern hielt, unterschied sich kaum von den Durchhaltereden anderer Politiker.
Bei seiner Abreise nach Italien hatte er sich kein Bild davon gemacht, wie lange er wegbleiben wollte, und für den Fall eines längeren Auslandsaufenthalts alle möglichen Papiere mitgenommen. Diese Papiere waren in einem Banksafe in Florenz geblieben, und Caillaux kam nicht auf die Idee, dass er sich damit bei Feinden und Aufpassern besonders verdächtig gemacht hatte. Als die Feinde gegen Ende des Jahres losschlugen, verursachten die »Geheimpapiere in Italien« eine böse Sensation. Auf Ansuchen der französischen Regierung ließen die italienischen Behörden das Bankfach öffnen. Der Presse wurde die Version serviert, dass Aktienpakete im Werte von Millionen Francs gefunden worden seien; kreischende Schlagzeilen malten das phantastische Vermögen aus, das Caillaux aus dem Lande herausgezogen habe, um dessen wirtschaftliche Abwehrkraft zu schwächen. (Die Richtigstellung kam später in einer kaum erkennbaren Zeitungsnotiz.)
In Wirklichkeit hatte das »Versteck« in Florenz hauptsächlich Manuskripte enthalten. Ihnen wandte die Anklagebehörde ihre besondere Aufmerksamkeit zu. Eins der Manuskripte behandelte die Ereignisse, die zum Ausbruch des Krieges geführt hatten: Die Rolle verschiedener französischer Politiker kam zur Sprache, Pardon wurde nicht gegeben, und Poincaré kam besonders schlecht weg. Hieß das nicht, das Ansehen der nationalen Führung in der Zeit schwerer Bedrängnis schädigen? In einem anderen Schriftstück hatte sich Caillaux zu einem früheren Zeitpunkt – unter der Überschrift »Rubikon« – Gedanken darüber gemacht, was er zu tun haben würde, falls er wieder an die Regierung käme. Darin war die Rede von einer Vertagung des Parlaments auf zehn Monate, von Notstandsermächtigungen für die Regierung für die Dauer der Parlamentsvertagung, von einem Hochverratsverfahren gegen die Monarchisten von der Action Française, Caillaux’ urälteste Feinde. War das nicht ein hochverräterischer Machtergreifungsplan?
Als Caillaux 1920 seinen Richtern, den Senatoren als Haute Cour, gegenüberstand, produzierte der Ankläger – irgendwie musste das Prestige des Präsidenten aus der Kriegszeit und der ihm gefügigen Parlamentsmehrheit gewahrt bleiben! – den bizarren Einfall, den Inhalt der florentinischen Papiere als crimen laesae maiestatis zu behandeln. Caillaux beschränkte sich darauf zu bemerken, mehr als hundert Jahre nach der Erklärung der Menschenrechte gehe es doch wohl nicht an, unveröffentlichte private Notizen zur Grundlage eines Strafverfahrens zu machen.38 (Dreihundert Jahre und ein halbes Jahrzehnt, hätte er hinzufügen können, seien seit 1615, seit dem Fall Edmund Peacham,39 verstrichen, in dem diese Art Anklage eindeutig verworfen worden war.) Nicht einmal die dem Regime Poincaré-Clemenceau treuen Senatoren, die einen beträchtlichen Teil des Gerichtskollegiums bildeten, ließen sich einreden, dass das Strafgesetz die politische Tätigkeit der Mitglieder einer Kriegsregierung vor jeglicher Kritik schütze. In der Urteilsbegründung wurden die Papiere aus Florenz nur in dem Sinne erwähnt, dass ihnen Hinweise auf die Motive des Angeklagten zu entnehmen seien.40
Sogar um ein so dünnes und rissiges Netz zu flechten, braucht man Zeit. Dass der Prozess Caillaux immer wieder hinausgeschoben wurde, war aufschlussreich genug, denn ernste politische Hürden waren nicht zu nehmen. Keinerlei Schwierigkeiten bereitete die Aufhebung der parlamentarischen Immunität: Caillaux selbst verlangte ein regelrechtes Gerichtsverfahren. Die Immunitätsdebatte in der Kammer im Dezember 1917 bot ihm eine gute Gelegenheit, seinen Standpunkt darzulegen; er ließ sie nicht ungenutzt und hielt eine der eindrucksvollsten Reden seiner langen Laufbahn. Er bestritt nicht, dass er es im Umgang mit verdächtigen Gestalten an Vorsicht habe fehlen lassen; umso größeren Nachdruck legte er auf die lebenswichtigen Probleme, die die Nation – über die bloßen Kriegsmühen hinaus – zu lösen habe. Er versäumte es nicht, den einstigen Journalisten Clemenceau, den mutigen Wortführer im Kampf um Dreyfus, mit dem Premier Clemenceau zu vergleichen, der einen neuen Fall Dreyfus inszeniere. An der Entscheidung des Parlaments vermochte Caillaux’ rednerisches Glanzstück nichts zu ändern. Sie stand im Voraus fest: Einen Monat früher, am 20. November, hatte das Kabinett Clemenceau in einer Abstimmung, in der 418 Abgeordnete für die Regierung, 65 gegen sie stimmten und 41 sich der Stimme enthielten, das Vertrauensvotum erhalten.41 Bei der Aufhebung der Immunität, die Caillaux selbst verlangte und die mit 418 gegen 2 Stimmen beschlossen wurde, gab es schon 140 Stimmenthaltungen,42 aber das Kabinett in der Immunitätsfrage zu desavouieren, konnte der Mehrheit nicht in den Sinn kommen.
Der langsame Gang der Voruntersuchung, in deren Verlauf Caillaux immer wieder vom kriegsgerichtlichen Untersuchungsrichter vernommen wurde, die von der Regierung inspirierte Hetzkampagne um den Zwischenfall von Florenz und mancherlei Gerüchte über die angebliche Absicht des Kabinetts, den Fall eher einem willfährigen als dem zuständigen Gericht zuzuleiten, riefen scharfe Kritik der Opposition hervor. Zweimal, im Januar und im Februar 1918, griffen die Sozialisten die Regierung wegen der eigenartigen Handhabung des Falls Caillaux in der Kammer an und verlangten die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses. Aber noch hielt Clemenceau seine Mehrheit zusammen: Am 15. Januar wurden 369 Stimmen für die Regierung und 105 gegen sie abgegeben, am 8. Februar waren es 374 gegen 99 Stimmen.43 Kein parlamentarisches Untersuchungsverfahren sollte den militärischen Untersuchungsrichtern das Leben schwer machen.
Wem aber war die richterliche Entscheidung anzuvertrauen? Von Anfang an scheint sich Clemenceau der Idee eines Kriegsgerichts widersetzt zu haben: »Ich bin ein Politiker, der gegen einen anderen Politiker vorgeht«, soll er Poincaré entgegengehalten haben.44 War er von Caillaux’ Anspielung auf seine Dreyfus-Vergangenheit beeindruckt? Oder erwartete er, dem es doch bei der ganzen Affäre nur um Mehrung seines Ansehens ging, bei Militärrichtern ein Todesurteil,45 das seinem Prestige nur hätte schaden können? Ob so oder so: Am 13. Oktober 1918 erließ die Regierung ein Dekret, das den Fall der ordentlichen politischen Gerichtsbarkeit, das heißt dem Senat als Haute Cour, zuwies. Die von den Untersuchungsrichtern im Waffenrock begonnene Voruntersuchung wurde von einem Untersuchungsausschuss des Senats weitergeführt.
Der Senatsausschuss verbrachte mit der Vorbereitung des Prozesses weitere sechzehn Monate. Im Februar 1920 trat endlich der Senat als Haute Cour zusammen. Der Krieg war längst vorbei, und die Initiatoren des Verfahrens waren aus der aktiven Politik ausgeschieden: Poincaré vorübergehend, Clemenceau für immer. Aber ihre Jünger hatten am 11. November 1919 die ersten Nachkriegswahlen gewonnen, und ihrer überwältigenden Mehrheit in der »horizontblauen« Kammer46 entsprach ein solider Mehrheitsblock im Senat.
Der Mann Caillaux, wie ihn das dem Senat unterbreitete Belastungsmaterial schilderte, war ein Ausbund der Untugend: in persönlichen Beziehungen mehr als unvorsichtig, in politischen Bindungen von Hass und Ressentiment aus der bösen Zeit des Calmette-Dramas vom Sommer 1914 getrieben, in der Kritik an der Regierungspolitik von Arroganz und Hochmut erfüllt, ein Mensch ohne Wärme, dem kein Mitgefühl zukommt.
Entlastende Aussagen kamen weder von Malvy, dem Freund und Schützling, der von der Landesverratsanklage freigesprochen, aber wegen Amtsmissbrauchs verurteilt worden war, noch von Briand, dem alten Rivalen, der nicht zum horizontblauen Lager gehörte, aber immer noch über großen Einfluss verfügte. Weder der eine noch der andere konnte sich daran erinnern, von Caillaux halbamtlich, wie er behauptete, aber zur richtigen Zeit mitgeteilt bekommen zu haben, dass er die Annäherungsversuche des nämlichen deutschen Agenten zurückgewiesen habe, von dem die Anklageschrift sagte, Caillaux habe mit ihm »in Verbindung« gestanden. Briand, der selbst seit drei Jahren nicht mehr im Amt war, tadelte Caillaux wegen Unklugheit und Unaufrichtigkeit und wollte ihm nicht mehr zugutehalten als die Atmosphäre allseitiger Feindseligkeit und gegenseitigem Misstrauen, die Politiker dazu treibe, tadelnswerte Dinge zu tun; wenn Politiker nicht mehr in der Regierung seien, meinte Briand, werde angenommen, dass sie bis zum äußersten gingen, um wieder hineinzukommen: »Das Unglück ist, dass die Politiker nicht genug Verbindung miteinander haben; wenn sie einander in der Regierung ablösen, könnte man meinen, sie täten es nur, um einander in Stücke zu reißen, während doch zwischen ihnen, was immer ihre politischen Differenzen sein mögen, starke Bande der Solidarität bestehen sollten.«47
Der Anklage stellte sich Caillaux’ Denken und Handeln als Landesverrat dar, der konkret in der Aufnahme von Verbindungen zum Feind zum Ausdruck gekommen sei. Dieser Beschuldigung, in der juristische Gesichtspunkte hinter politischen Überlegungen zurücktraten, lag folgende Argumentation zugrunde: 1. Damit man im Krieg den Sieg erringe, sei es unerlässlich, dass man an ihn glaube und das Vertrauen zur Armee stärke; 2. außer der verantwortlichen Regierung, die allein ausreichend unterrichtet sei, stehe es niemandem, weder einer Person noch einer Institution, zu, darüber zu befinden, wie der Krieg geführt werden solle; 3. wer dem Feind in irgendeiner Form, unmittelbar oder mittelbar, Beistand leiste, begehe ein Verbrechen.48
Unzweifelhaft gab es genug Beweise dafür, dass Caillaux weder an den Sieg geglaubt noch je die Absicht gehabt hatte, der Armee dazu zu verhelfen, das Vertrauen des Volkes zu behalten. Dafür, dass er sich das der Regierung vorbehaltene Recht, die Kriegspolitik zu bestimmen, angemaßt habe, gab es wenig Anhaltspunkte. Gewiss hatte ihn die deutsche Propaganda unentwegt als den wahren Staatsmann und den einzigen Franzosen mit politischem Verständnis hingestellt; aber das war psychologische Kriegführung und konnte dem ohne sein Zutun auserkorenen Objekt, dem Opfer, schwerlich zur Last gelegt werden. Und Beistand für den Feind? Das war eine komplizierte, problemreiche und problematische Konstruktion.
Man unterstelle, die Regierung und die Anklagebehörde hätten mit der Behauptung recht gehabt, dass ein Kompromissfrieden notwendigerweise zur Vorherrschaft Deutschlands hätte führen müssen. Hätte das geheißen, dass die Befürwortung eines solchen Friedens mit Hilfe, Unterstützung und Zuspruch für den Feind gleichbedeutend gewesen sei? Kam es nicht im Gegensatz zur Meinung des Anklägers entscheidend auf den Nachweis eines schuldhaften Vorsatzes an, auf den Nachweis, dass der Angeklagte, und sei es auch nur zögernd, zum willentlichen Entschluss gekommen sei, die deutsche Sache zu fördern, und dass er darüber im klaren gewesen sei, dass er sie förderte? Wurde da nicht etwas erschlichen? Lag der Anklage nicht lediglich der Umstand zugrunde, dass das, was den Deutschen hätte zuträglich sein können, zufällig mit dem zusammenfiel, was der Angeklagte im Interesse eines dauerhaften Friedens für zweckdienlich gehalten hatte?
Die Argumentation der Anklage vernachlässigte eine elementare Tatsache: Die Bemühungen und Anstrengungen entgegengesetzter Kräfte können mitunter parallel verlaufen, ohne dass diese Kräfte von denselben Beweggründen ausgingen und dieselben Ziele verfolgten. Von der Verteidigung wurde diese Schwäche der Anklage energisch ausgeschlachtet. Marius Moutet, bewährter Kenner des parlamentarischen Getriebes, und Vincent de Moro-Giafferri, der verdiente Künstler des forensischen Gefechts, nahmen Stück für Stück das Beweismaterial auseinander. Und das Gedankengeflecht der Anklage sezierte der Veteran der Advokateur Charles-Gabriel-Edgar Demange (1841 - 1925), ein hochqualifizierter, wenn auch etwas altmodischer Spezialist der juristischen Analyse. Er hatte durchaus das Ohr der ältlichen Herren im Senat, als er den Anklägern nachwies, dass sie über das subjektive Element der Straftat achtlos hinweggegangen waren. Das Auditorium war beeindruckt.
Das letzte Wort des Angeklagten zeugte eher von politischer Konsequenz und Redlichkeit als von juristischer Logik. Allzu geschickt war die Art nicht, wie Caillaux darzulegen versuchte, dass er sich gegen das Gesetz nicht vergangen habe; unbestreitbar dagegen war die Folgerichtigkeit und Schlüssigkeit seiner politischen Argumentation. »Stahl und Eisen sind die direkten und indirekten Urheber des Krieges«, hatte er in der Anfangsphase der Verhandlungen49 verkündet, und darauf kam er immer wieder zurück. Dem Vorwurf, dass er sich 1916/17 ohne Rücksicht auf interalliierte Verpflichtungen um einen deutsch-französischen Frieden bemüht habe, begegnete er stolz mit der Erklärung, mit diesen Bemühungen habe er sich ein großes Verdienst erworben; was er 1911 zur Erhaltung des Friedens getan habe, habe den Ausbruch des Krieges um drei Jahre hinausgeschoben und Frankreich ganz anders als bei der Überraschungskatastrophe von 1870 genug Zeit gelassen, seine Verteidigungsmittel auszubauen. Die unausweichliche Doppeldeutigkeit der Geschichte war ein schwer widerlegbares Entlastungsargument: Wer einen Krieg vermieden hat, kann sich darauf berufen, dass er seinem Land die Chance gesichert habe, künftigen Gefahren besser vorzubeugen. Unwiderleglich war auch Caillaux’ Zukunftsperspektive: Sein zentrales Ziel, die Schaffung eines vereinten Europas, hatte seit der Vorkriegszeit weder an Überzeugungskraft noch an Dringlichkeit verloren.
Das Urteil der Haute Cour war ein Kompromiss. Mit einem aus der Französischen Revolution überlieferten Wort nannte es Caillaux »eine Maßnahme«, eine politische Entscheidung, nicht einen Akt der Gerechtigkeit.50 Das Gericht erklärte, dass eine schuldhafte Absicht des Angeklagten, die Sache des Feindes zu unterstützen, nicht festgestellt worden sei; infolge des »Verkehrs« des Angeklagten mit dem Feinde seien jedoch der feindlichen Koalition gefährliche politische und militärische Informationen zugetragen worden, womit sich der Angeklagte nach Artikel 78 des Code pénal strafbar gemacht habe.51 Vergebens wies Demange darauf hin, dass Caillaux, der wegen Verstoßes gegen Artikel 79 (Komplott zur Untergrabung der äußeren Sicherheit des Staates) und gegen Artikel 77 (Aufnahme von Verbindungen mit dem Feind) unter Anklage gestanden habe, nun wegen eines Verbrechens verurteilt werde, von dem er schon deswegen nicht habe beweisen können, dass er es nicht begangen habe, weil er dieses Verbrechens gar nicht beschuldigt worden sei. Das Urteil lautete auf Gefängnis für die Dauer von drei Jahren, Aufenthaltsbeschränkung für die Dauer von fünf Jahren und Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte für die Dauer von zehn Jahren.52 Die Dauer der Gefängnishaft war darauf berechnet, die sofortige Freilassung des Verurteilten, der über zwei Jahre in Untersuchungshaft gehalten worden war, zu ermöglichen. Das Urteil fand die Zustimmung von 150 Senatoren; eine starke Opposition ließ sich jedoch auch durch die Gnadenarithmetik nicht umstimmen: 98 Senatoren gaben ihre Stimme für Freispruch ab.
Die kautschukartige Natur der Strafrechtsklausel über den Verkehr mit dem Feinde war schon früher von Rechtslehrern angefochten worden; Unvorsichtigkeit in Beziehungen solcher Art, meinte ein führender Kommentator, sei eher ein Fehler als ein Verbrechen.53 Im Gegensatz zum Artikel 78 des französischen Strafgesetzbuches, wie er 1920 in Kraft war, bestraft der jetzt geltende Text (seit Juli 1939 Artikel 79 Absatz 4, neuerdings, seit Juni 1960, Artikel 81) jeden, der in Kriegszeiten ohne Genehmigung der Regierung Beziehungen mit Staatsangehörigen oder Agenten des Feindes unterhält. Jetzt bedarf es nicht mehr des Beweises, dass dem Staat durch die dem Feind zugetragene Information Schaden zugefügt worden sei; die Beweislast liegt auch nicht mehr bei der Anklagebehörde: Der Angeklagte muss nachweisen, dass er im Einvernehmen mit der Regierung gehandelt habe.54
Zur Zeit des Caillaux-Prozesses waren diese verschärften Bestimmungen noch nicht in Kraft, und das Urteil der Haute Cour rief allenthalben scharfe Kritik hervor. Weder der Caillaux vorgeworfene Umgang mit Feindesagenten noch die Beschuldigungen nach Art. 77 und Art. 79, die der Senat fallen ließ, hatten sich mit schuldhaftem Vorsatz in Beziehung setzen lassen. Der einzige Brief, den Caillaux je an einen deutschen Agenten geschrieben hatte, sagte, dass der Schreiber mit dem Adressaten nichts zu tun haben wolle. Als Zeuge vor dem Senat hatte Henry de Jouvenel treffend erklärt, Caillaux habe sich nicht des Einvernehmens mit dem Feinde, sondern des fehlenden Einvernehmens mit den Alliierten schuldig gemacht.55 Der vage Inhalt der Anklage war damit vielleicht noch am besten gekennzeichnet.
Was bewirkte nun eigentlich der so lange hinausgezögerte Prozess? Zweifellos lag seine Bedeutung nicht im Urteilsspruch. Sobald das neue Linkskartell bei den Wahlen vom 11. Mai 1924 die konservative Koalition geschlagen hatte, löschte eine Amnestie das Urteil mit all seinen Folgewirkungen aus; Caillaux wurde zum Senator gewählt, und im April 1925 war er von neuem Finanzminister.56 Das Entscheidende war, dass ein Zusammentreffen verschiedener Umstände Poincaré und Clemenceau Ende 1917 die Chance in die Hand gespielt hatte, einen Strafrechtsfall Caillaux zu inszenieren. So konnte Caillaux in den letzten Stadien des Krieges vom politischen Schlachtfeld entfernt und nicht nur als schlechter Patriot und Gegner der nationalen Sammlung der öffentlichen Missbilligung preisgegeben, sondern auch als Verräter und feindlicher Agent durch den Schmutz gezogen werden.
Als das Urteil 1920 schließlich gefällt wurde, kam es auf die Verurteilung des Verleumdeten kaum noch an. Aber in den trüben Wintertagen von 1917/18 war die Ausschaltung Caillaux’ von überragender Bedeutung gewesen. Und die Möglichkeit, Symbolbilder von anhaltender Wirkung zu prägen, auf die die Regierung in dieser kritischen Zeit besonders angewiesen war, hatte mit dem Klischee »Caillaux unter Beschuldigung des Landesverrats verhaftet« einen gewaltigen Auftrieb bekommen.
Die Symbolik der Kriegszeit verblasste sehr schnell. Von ihr war nichts mehr übrig, als nach zehnjähriger Pause eine neue Linkskoalition unter Herriot zur Macht kam und sich mit der entzauberten und ernüchternden politischen Wirklichkeit der zwanziger Jahre auseinandersetzen musste.