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b) Das geschmähte Staatsoberhaupt: Fall Ebert
ОглавлениеIst die Landesverratsanklage die schwerste und ungeschlachteste Waffe im Kampf um die politische Macht, so sind die Mittel, mit denen man einen politischen Gegner zu Beleidigungs- oder Verleumdungsklagen zwingen kann, fast wie ein Florett: handlicher, beweglicher, zweideutiger. Und da diese Mittel auch denen zugänglich sind, die am Genuss der Macht nicht teilhaben, wird von ihnen auch sehr viel häufiger Gebrauch gemacht. Ihre Wirksamkeit ist von Land zu Land verschieden. Sie hängt einerseits mit nationalen Unterschieden in den gesetzlichen Vorschriften, anderseits damit zusammen, wie sich die Allgemeinheit und die Richter zu Verunglimpfungen im politischen Bereich stellen.57
Diffamierung in der politischen Sphäre mit anschließenden Beleidigungs- und Verleumdungsklagen war in der Weimarer Republik sehr früh zur Alltagserscheinung geworden. Diese Waffe konnten die Deutschnationalen schon 1920 gegen den vielseitigsten und einfallsreichsten, wenn auch vielleicht nicht allerskrupelhaftesten Politiker der Periode, den Zentrumsmann Matthias Erzberger (1875 - 1921), damals Reichsfinanzminister, nicht ohne Erfolg in Anschlag bringen. Von den vielen Fällen, die Erzbergers Vorgänger aus des Kaisers Tagen, sein ärgster Feind Karl Helfferich, Vorsitzender der Deutschnationalen Volkspartei, gegen ihn zusammengetragen hatte, um zu beweisen, dass der republikanische Verwalter der Staatsfinanzen Politik und Geschäft auf unzulässige Weise vermenge, erwiesen sich die meisten als gegenstandslos. Doch auch die wenigen Fälle, in denen Helfferichs Anschuldigungen unwiderlegt blieben, reichten dazu aus, dem verklagten Beleidiger zu einem gewissen moralischen Sieg zu verhelfen und den Kläger Erzberger zum Rücktritt zu zwingen.58
Ungleich höher war der Einsatz im Beleidigungsprozess, den Reichspräsident Friedrich Ebert (1871 - 1925) Ende 1924 zu führen genötigt war. Hier ging es nicht mehr um Probleme privater oder öffentlicher Moral. Auf dem Spiel stand hier die Legitimität des neuen republikanischen Staatswesens schlechthin; sie hing wesentlich mit der Beurteilung der historischen Rolle zusammen, die der erste Präsident des jungen Staates in den Januartagen 1918 gespielt hatte, sozusagen in der Inkubationszeit der Republik. Der gerichtlichen Austragung des Konflikts kam umso größere Bedeutung zu, als Eberts Amtszeit ihrem Ende entgegenging. Die Behandlung der Beleidigungsklage und ihr Ausgang mussten sowohl seine Bereitschaft, sich zur Wiederwahl zu stellen, als auch die Möglichkeit beeinflussen, ihn zum Bannerträger einer republikanischen Koalition bei der ersten Volkswahl des Präsidenten im Juli 1925 zu machen.
Es ist mit Ebert nicht viel anders als mit dem anderen führenden europäischen Staatsmann der zwanziger Jahre, der gleich ihm aus den Reihen der Arbeiterbewegung gekommen war: J. Ramsay MacDonald (1866 - 1937). Auf der historischen Leistung beider Männer, die das Heranrücken der organisierten Arbeiterschaft an den Staat symbolisieren, liegen dunkle Schatten. In der Perspektive ist gerade Eberts Lebenswerk verzerrt, weil die großen geschichtlichen Gebilde, mit denen es aufs engste verbunden war, die Sozialdemokratische Partei der vorhitlerschen Zeit und die Weimarer Republik, gescheitert sind. Nachdem das Verhängnis seinen Lauf genommen hat, lassen sich jedoch zwei historische Momente am allerwenigsten aus der Welt schaffen: Ebert hatte bei der in vieler Hinsicht fatalen Spaltung der deutschen Arbeiterklasse Pate gestanden und sie durch seine Haltung während des Krieges vertieft, und während seiner Tätigkeit als Reichspräsident wurde er zum Mittelsmann zwischen den Politikern der Republik und den Generalen und Bürokraten der alten Zeit, die ihn als Schirmherrn und als Schachfigur benutzten. Sind seine gewaltigen Anstrengungen, die Weimarer Republik zu einem lebensfähigen politischen Gebilde zu machen, damit zu abschätzig beurteilt? Gewiss: Hätte Ebert den Vorzug gehabt, nicht im Deutschland der zwanziger, sondern im England der vierziger Jahre zu wirken, so hätte er mit Auszeichnung die Rolle eines Ernest Bevin (1881 - 1951) bewältigen und zum Vollstrecker und Symbol der dauernden Verbindung der endlich als gleichberechtigt anerkannten Volksmassen mit der staatlichen Organisation werden können. In Bevins von Erfolg gekrönter Karriere gibt es mancherlei, was die Geschichte nachsichtig belächelt: eine gewisse Gespreiztheit und Affektiertheit, die unverbesserliche Neigung, sich von einer »fachlich geschulten« Ministerialbürokratie imponieren und an der Nase herumführen zu lassen, ja überhaupt alles, was zum schwierigen Aufstieg eines Politikers aus den unteren Gesellschaftsschichten gehört, wenn er von gleich zu gleich mit den alten herrschenden Schichten umgehen will, deren Beifall und Billigung er sucht, weil er glaubt, das sei für die Erfüllung seiner eigenen geschichtlichen Sendung unerlässlich. All diese Dinge, die die Geschichte dem Erfolgreichen verzeiht, werden zur Tragödie, wenn das Unterfangen mit völligem Fehlschlag endet.
So verschieden die Historiker Eberts Rolle auch beurteilen mögen, eins scheint über jeden Zweifel erhaben: Ebert war genau das, was man in den ersten zwei Jahrzehnten unseres Jahrhunderts unter einem deutschen Patrioten verstand. Im Kriege stand er in der ersten Reihe der sozialistischen Politiker, die ohne jeden Hintergedanken den Sieg der deutschen Sache ersehnten. Erst verhältnismäßig spät, zu Beginn des Sommers 1917, kam er – wie auch die meisten Politiker des deutschen Bürgertums – zu der Einsicht, dass man im allergünstigsten Fall gerade noch einen Kompromissfrieden erhoffen könne, der Deutschland, ginge alles mit rechten Dingen zu, die Erhaltung des Status quo brächte. Keineswegs schwächte diese für ihn deprimierende Erkenntnis den Eifer, mit dem er sich abmühte, das Staatsschiff im Innern vor dem Kentern zu bewahren. Dazu warf er alle Machtmittel in die Waagschale, über die er als Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei und einer ihrer einflussreichsten parlamentarischen Vertreter verfügte, obgleich damit die Kluft zwischen breiten Schichten der Arbeiterklasse und der Politik der sozialdemokratischen Führung immer weiter aufgerissen wurde. Unvermeidlich kam das Eberts ehemaligen Parteifreunden zustatten, die die Disziplin der alten Partei nicht mehr gelten ließen und nun dabei waren, eine Konkurrenzorganisation aufzubauen. In den Mittelpunkt ihrer Tätigkeit stellte die neue Organisation, die Unabhängige Sozialdemokratische Partei, die Mobilisierung der Massen für den bald möglichen Abbruch des Krieges.
Kaum war 1919 der Versailler Friedensvertrag unterschrieben worden, als auch schon die Behauptung – von der extremen Rechten und manchen Gruppen der gemäßigten Rechten lanciert – in Umlauf kam, dass der Krieg hätte gewonnen werden können, wenn nicht landesverräterische Unruhen, Streiks und defätistische Strömungen dem tapferen Heer einen »Dolchstoß in den Rücken« versetzt hätten; nur dadurch sei die Revolution ausgelöst, die Niederlage verursacht worden. Für diesen Ausgang des Krieges wurde die gesamte Linke ohne Unterschied der Parteischattierungen verantwortlich gemacht.
Die Geschichtsepisode, um die sich der Ebert-Prozess drehte, hatte der Legende von der auf dem Felde der Ehre siegreichen, aber von Landesverrätern hinterrücks erdolchten deutschen Armee einen ihrer wichtigsten Bausteine geliefert. Ende Januar 1918 waren in zahlreichen Metallbetrieben und anderen Arbeitsstätten der Kriegsindustrie in vielen wichtigen Industriezentren Deutschlands und Österreichs Streiks ausgebrochen. Die Streikenden hatten auf eigene Faust, ohne Unterstützung oder Billigung der Gewerkschaften, Streikleitungen gebildet und politische und wirtschaftliche Forderungen aufgestellt. Einerseits riefen sie nach einem Frieden ohne Annexionen und nach Heranziehung von Arbeitervertretern zu den Friedensverhandlungen: eine überaus populäre Forderung in den Tagen, an denen in Brest-Litowsk über die kaum verschleierten deutschen Ansprüche auf große Teile früher russischen Gebiets erbittert gerungen wurde. Anderseits verlangten sie eine bessere Lebensmittelversorgung, Einschränkung der Befugnisse der Militärgewalt im Innern des Landes, insbesondere in den Betrieben, und entschiedene Demokratisierung des öffentlichen Lebens. Gerade die Demokratisierung war ein brennendes Problem, denn die in Preußen herrschenden Kreise bekämpften wütend jeden Versuch, das ungerechte preußische Dreiklassenwahlrecht zu beseitigen.
Die aktivsten Elemente der Streikleitungen standen in organisatorischer Verbindung mit der sozialistischen Linken, die sich von der offiziellen Sozialdemokratie getrennt hatte. Was sie forderten, drückte indes keinen besonderen Parteistandpunkt aus, sondern entsprach in der Hauptsache dem, was die große Mehrheit der Bevölkerung dachte. Ebenso wie die Gewerkschaftsführung wurde der Vorstand der Sozialdemokratischen Partei vom Ausbruch des Streiks am 29. Januar überrascht und in gewissem Sinne überwältigt; von den Berliner Streikenden aufgefordert, Delegierte in die elfköpfige Streikleitung zu entsenden, beschloss der Parteivorstand, der Einladung Folge zu leisten.
Die Einladung war ohnehin nicht ohne Schwierigkeiten zustande gekommen. Als Wortführer der Unabhängigen Sozialdemokraten, die in der Streikleitung bereits vertreten waren, trat Georg Ledebour (1850 - 1947) mit Vehemenz gegen die Heranziehung der Mehrheitspartei auf; nicht zu Unrecht befürchtete er, dass sich die Bereitschaft zu Kompromissen mit den Behörden in einer so erweiterten Streikleitung stärker bemerkbar machen werde. Für den Augenblick lag aber der Delegiertenversammlung der Streikenden mehr daran, der Streikbewegung einen möglichst breiten politischen Widerhall zu verschaffen; sie entschied sich gegen Ledebour. Zu den drei Abgesandten des sozialdemokratischen Parteivorstandes gehörte auch Ebert. Der Streik, der in seinen letzten Stadien in Berlin allein über eine halbe Million Menschen in den Kampf hineingezogen hatte, wurde nach fünftägiger Dauer abgebrochen. Unter dem Druck der Obersten Heeresleitung (Ludendorff) und auf Anraten der Berliner Polizeibehörde hatte die Regierung den Belagerungszustand verhängt, auf Grund eines Gesetzes von 1851 außerordentliche Kriegsgerichte, gegen deren Urteile (auch wenn es Todesurteile waren) Berufung nicht möglich war, errichtet und Verhandlungen mit den Streikenden abgelehnt.
Die Motive, die Ebert und seine Partei veranlasst hatten, sich an der Streikleitung zu beteiligen, und vor allem auch Eberts Verhalten während des Streiks gaben den Gegenstand der Beleidigungsklage von 1924 ab. Faktisch fand der Prozess zweimal statt. Seine Vorgeschichte begann bei einem Amtsbesuch Eberts in München im Juni 1922, als ein völkischer Hetzer dem Reichspräsidenten auf der Straße »Landesverräter« zurief. Die Angelegenheit kam vor ein Münchner Gericht, das auf Antrag des Beklagten das persönliche Erscheinen des beleidigten Staatsoberhaupts verlangte; um den Gegnern keine neue Gelegenheit zu ungestraften öffentlichen Schimpfkanonaden zu geben, folgte Ebert dem Rat seiner Anwälte und zog den Strafantrag zurück. Unterdes waren die prozessualen Vorschriften abgeändert worden, so dass die Zeugenaussage des Reichspräsidenten auch an seinem Amtssitz eingeholt werden konnte. Als derselbe Täter seine Beschimpfungen in einem »Offenen Brief« wiederholte und ein nationalistisches Blättchen sie mit eigenen beleidigenden Ergänzungen abdruckte, leitete die Staatsanwaltschaft gegen den verantwortlichen Redakteur der Zeitung ein Verfahren ein, dem sich Ebert als Nebenkläger anschloss. Im Dezember 1924 kam der Fall vor dem Schöffengericht Magdeburg zur Verhandlung. Das Gericht setzte sich aus zwei Berufsrichtern (die, wie sich später herausstellte, zum völkischen Flügel der Deutschnationalen gehörten) und zwei Schöffen zusammen.59
Die recht weitschweifigen Zeugenaussagen konzentrierten sich auf zwei miteinander verflochtene Fragen: 1. Welche Beweggründe hatten den sozialdemokratischen Parteivorstand veranlasst, sich an der Streikleitung von 1918 zu beteiligen? 2. Wie hatte sich Ebert in der Streikleitung und namentlich in einer Massenversammlung der Streikenden, die am 31. Januar 1918 in Treptow im Freien abgehalten wurde, verhalten?
Das große Zeugenaufgebot zerfiel in vier deutlich unterscheidbare Gruppen. Zur ersten gehörte die treue Mannschaft sozialdemokratischer Funktionäre, darunter auch der längst nicht mehr radikale frühere USPD-Parlamentarier und Streikleitungsteilnehmer Wilhelm Dittmann (1874 - 1954), der in derselben Treptower Versammlung nach Ebert das Wort genommen hatte, aber von der Polizei am Weiterreden gehindert, vor ein Kriegsgericht gestellt und zu fünfjähriger Festungshaft verurteilt wurde. Die Aussagen dieser Funktionäre kreisten um einen einfachen Gedankengang: Nachdem der sozialdemokratische Parteivorstand von Anfang an gegen den Streik gewesen sei, habe er sich für die Teilnahme an der Streikleitung entschlossen, um den Streik auf diese Weise so schnell wie möglich zum Abschluss zu bringen; selbstverständlich habe Ebert diesen Vorstandsbeschluss befolgt. Darüber hinaus wurde die insgesamt vaterlandstreue Haltung der Sozialdemokratischen Partei hervorgehoben, die 1917/18 von allen Regierungsorganen lobend anerkannt worden sei. Eberts eigene Darstellung deckte sich im Wesentlichen mit den Aussagen dieser Zeugengruppe.
Die zweite Gruppe bildeten Zeugen, die linkssozialistischen Gruppierungen entweder früher angehört hatten oder noch angehörten, der Sozialdemokratischen Partei mehr oder minder feindlich gegenüberstanden und am Streik von 1918 in dieser oder jener Form teilgenommen hatten; auch der einstige Vorsitzende der Berliner Streikleitung, der Kommunist geworden war, war darunter. Diese Zeugen betonten, dass der sozialdemokratische Parteivorstand aus höchst eigensüchtigen Motiven zur Streikleitung gestoßen sei, um das Ansehen der Mehrheitspartei in den Augen der Arbeitermassen zu heben; in den Jahren zuvor habe die Partei infolge ihrer überpatriotischen Haltung schwere Einbußen erlitten. Außer einem einzigen Zeugen, der inzwischen zur extremen Rechten abgeschwenkt war, bestätigten diese Linken bereitwilligst, dass Ebert – wenn auch vergebens – versucht habe, die Forderungen der Streikenden abzumildern; von ihrem Standpunkt aus war Ebert damit nur noch mehr als »Sozialpatriot« belastet. Mit dieser Version stimmte die Darstellung eines parteilosen Zeugen überein, der Eberts Treptower Rede vom 31. Januar als Journalist gehörte hatte. Eberts Dilemma, meinte er, habe darin bestanden, dass er sich einerseits gegen eine äußerst kritische Zuhörerschaft habe durchsetzen müssen, ihr aber anderseits nicht allzu sehr habe entgegenkommen können, um sich nicht mit seiner eigenen Politik in Widerspruch zu setzen: einer Politik der entschiedensten Landesverteidigung bis zu einem Zeitpunkt, zu dem der Abschluss eines ehrenhaften Friedens möglich geworden wäre.
Die größte öffentliche Beachtung zog die dritte Gruppe auf sich, die gleichsam bestellten Zeugen. Sobald das politische Potential des Prozesses in Rechtskreisen erkannt worden war, unternahm es ein als Berliner Lokalgröße bekannter deutschnationaler Landtagsabgeordneter, im Nebenberuf Pfarrer, Zeugen zu suchen, die mit »interessanten« Aussagen aufwarten könnten. Mit ihrer Vernehmung verschob sich das Schwergewicht der Beweisaufnahme von Eberts umstrittenen Beweggründen und Zielen zu den konkreten Vorgängen in der Versammlung vom 31. Januar. Jetzt tauchte die Behauptung auf, Ebert habe in Treptow auf eine schriftliche Frage, wie sich die Arbeiter gegenüber Einberufungsbefehlen zu verhalten hätten, antworten müssen. Ohne Zweifel war die Frage von brennendem Interesse, denn die Behörden hatten seit Kriegsbeginn »Rädelsführer« der Unzufriedenen und Murrenden dadurch mundtot zu machen gesucht, dass sie sie als Soldaten einzogen. Nun hieß es, Ebert habe den Streikenden den Rat gegeben, Gestellungsbefehle nicht zu beachten. Ebert selbst konnte sich an den Vorgang nicht mit voller Klarheit erinnern. Allerdings widersprachen solche zweifellos präparierten Aussagen nicht nur der bis dahin bekannten Gesamtlinie der Ebertschen Politik, sondern auch dem, was bei Diskussionen im sozialdemokratischen Parteivorstand zu diesem konkreten Punkt geäußert worden war. Überdies wurde das Hauptparadepferd unter diesen organisiert zusammengesuchten Zufallszeugen, dessen Behauptungen den politischen Bedürfnissen der äußersten Rechten am ehesten entgegenkamen, so gründlich diskreditiert, dass das Urteil seiner Aussage keine Beachtung schenkte.
Eine vierte Gruppe stellten offizielle Persönlichkeiten aus der Kriegszeit, darunter auch Generale und Polizeioffiziere, bestimmt keine Freunde oder Anhänger der Sozialdemokraten. Nichts, was Ebert belastet hätte, kam aus Polizeiberichten über den Streik zum Vorschein. Die Aussagen der Generale, Beamten und Politiker zeigten Unterschiede, die offenbar mit ihrer verschiedenen politischen Einstellung zur Zeit des Prozesses zusammenhingen. Die einen sprachen von der Munitionsknappheit, die möglicherweise durch Streiks verursacht worden sei, oder deuteten an, dass ihre Kriegsanstrengungen bei den Sozialdemokraten keine ausreichende Unterstützung gefunden hätten. Die anderen unterstrichen umgekehrt die großen Verdienste der Sozialdemokraten um die Landesverteidigung und die Stärkung der nationalen Abwehrkraft. Eberts Anwälte konnten dem Gericht sogar einen Brief Hindenburgs vom Dezember 1918 vorlegen, in dem Ebert Vaterlandsliebe und patriotische Gesinnung bescheinigt wurden.
In dem eifrigen Bemühen, ihren Mandanten als guten Patrioten erscheinen zu lassen, hatten Eberts Anwälte allerdings eine beachtliche Klippe zu umschiffen: las man das offizielle sozialdemokratische Organ, die Berliner Tageszeitung Vorwärts, aus dem Jahre 1918, so mochte man zu einer etwas anderen Lesart der sozialdemokratischen Politik gelangen. Es hörte sich nicht sehr überzeugend an, wenn Eberts Anwälte bestritten, dass die Zeitung die Haltung der Partei repräsentiert habe. Beachtet man aber den Tenor der redaktionellen Stellungnahme der Zeitung in der kritischen Zeit, so treten zwei Gesichtspunkte unmissverständlich hervor: 1. Der Streik war der Partei völlig überraschend gekommen, und sie hatte mit seinem Ausbruch nicht das Geringste zu tun; 2. es war nicht daran zu denken, dass die Sozialdemokratische Partei eine dem Streik feindliche Stellung beziehen könnte. Die Sozialdemokraten hätten Massenstreiks im Krieg zwar nicht gewollt und nicht für möglich gehalten, aber die Dinge seien »eben oft stärker als die Menschen«, schrieb die Zeitung nach dem Abbruch des Streiks.60
Denkbar ist, dass die anfängliche Genugtuung der Parteileitung über die Aufnahme offizieller Parteivertreter in die Streikleitung von der Redaktion des Vorwärts überbetont wurde; ihre Artikel ließen aber jedenfalls keinen Zweifel daran, dass die Sozialdemokratische Partei, was immer geschehen möge, auf Seiten der Streikenden stehen werde, wenn auch zugleich die Hoffnung ausgesprochen wurde, dass die Regierung die Forderungen der Streikenden »einer gewissenhaften Prüfung unterziehen und alles tun {werde}, was in ihren Kräften steht, um eine Einigung herbeizuführen«.61 Am 30. und 31. Januar durfte die Zeitung auf Anordnung des Oberkommandos in den Marken nicht erscheinen, weil sie »eine Aufforderung zum Massenstreik veröffentlicht« habe: Der Oberbefehlshaber in den Marken hatte das am 29. Januar bekundete Einverständnis der Redaktion mit den »Forderungen der Arbeiter« wohl nicht ganz falsch gedeutet.
Nach dem Scheitern des Streiks wehrte sich die Zeitung erbittert gegen den von der reaktionären Presse erhobenen Vorwurf des »Landesverrats« wie gegen die in »anonymen Flugblättern« enthaltene Prophezeiung, die Sozialdemokratie werde »Arbeiterverrat« begehen. »Szylla und Charybdis!« rief das Blatt empört aus. »Die Sozialdemokratie«, hieß es weiter, »treibt weder ›Landesverrat‹ noch ›Arbeiterverrat‹. Denn die Arbeiter und das Land gehören zusammen, und man kann nicht das Land verraten, ohne die Arbeiter mitzuverraten; man kann aber auch nicht die Arbeiter verraten, ohne das Land mitzuverraten. Denn wenn sich das Land nach außen verteidigen soll, dann dürfen sich seine Arbeiter nicht ›verraten‹ fühlen!«62
In Wirklichkeit hatte Ebert seinen Prozess lange vor der Verkündung des Magdeburger Urteils verloren. Caillaux, der von einer rein politischen Körperschaft abgeurteilt wurde und seine Verteidigung auf dasselbe politische und Verfassungssystem abstellen musste, in dessen Rahmen sein angebliches Verbrechen begangen worden war, wagte nichtsdestoweniger den Gegenangriff und setzte seine politischen Ideen denen seiner Gegner mit aller Schärfe entgegen. Die Anwälte und Freunde Eberts befanden sich in einer viel günstigeren Lage. An die Stelle des politischen Regimes, unter dem Eberts »Verbrechen« begangen worden war, war ein anderes getreten, und der Regimewechsel war gerade durch die Umstände ausgelöst worden, mit denen Eberts vermeintliche Straftat im engsten Zusammenhang gestanden hatte; der Regimewechsel war – genau wie Eberts vorgebliches Delikt – aus der wachsenden Unzufriedenheit des Volkes mit der Politik und den Methoden der kaiserlichen Regierung hervorgegangen. Aber Ebert und seine Anwälte ließen sich den Kampf unter Bedingungen aufnötigen, die ihnen der Feind vorschrieb. Sie beharrten nicht darauf, dass sie mit ihren Handlungen von 1918, wie ein Zeuge sagte, zur Rettung des Vaterlands63 beigetragen hätte, dass ihr Tun lediglich ein historisches Zufallsmoment im unvermeidlichen und notwendigen Zusammenbruch der alten Ordnung gewesen sei. Stattdessen zogen sie es, um die Dolchstoßlegende zu widerlegen, vor, sich gegen den Vorwurf zu verteidigen, sie hätten sich nicht heldenhaft genug für die alte Ordnung geschlagen und damit die (nicht vorhandene) Möglichkeit des »Durchhaltens auf lange Sicht« zunichte gemacht.
Für die sozialdemokratische Gefolgschaft von 1924 und sogar für die möglichen künftigen Anhänger, die die Sozialdemokratie nun, nach der Verschmelzung der Mehrheitspartei mit den Unabhängigen, dem Wirkungsbereich der Kommunisten hätte entziehen müssen, war das, was die sozialdemokratische Führung im Januar 1918 getan hatte, entweder von minimalem Interesse oder geradezu ein Ehrentitel. In den Augen ihrer Gegner aber war Ebert im Voraus verurteilt als Repräsentant der zwiespältigen sozialdemokratischen Haltung vom Januar 1918, die sich eben daraus ergeben hatte, dass zwischen der Politik des offiziellen Deutschlands, des Deutschlands Ludendorffs, und den Gefühlen und Erwartungen der Mehrheit der deutschen Bevölkerung und der sie schlecht oder recht vertretenden Sozialdemokraten ein unüberbrückbarer Abgrund klaffte. Möglich ist freilich, dass sich Ebert und seine Anwälte in Magdeburg nicht nur von Gesinnungszwang, sondern auch von taktischen Überlegungen leiten ließen. Möglich ist, dass Ebert der Meinung war, er müsse als Reichspräsident und eventueller Präsidentschaftskandidat gerade die unentschlossenen und unentschiedenen Teile der Wählerschaft hofieren, die sich an die Vorstellung des kontinuierlichen organischen Zusammenhangs zwischen kaiserlichem und republikanischem Deutschland klammerten und denen es ein inneres Bedürfnis war, alles aus dem Bewusstsein zu verdrängen, was zum Zusammenbruch der alten Ordnung geführt hatte.
Der die Magdeburger Verhandlung leitende Landgerichtsdirektor und der Landgerichtsrat, der ihm zur Seite stand, waren indes nicht von dieser Sorte: Sie waren fanatische Gegner des republikanischen Staatsgebildes. In seiner sorgfältig ausgearbeiteten Urteilsbegründung umging der Vorsitz führende Richter das historische und moralische Problem, das nach dem Urteil eines der Kritiker64 das eigentliche Problem des Prozesses war; das Urteil, führte er aus, könne nur nach rein rechtlichen Gesichtspunkten gefällt werden. Eberts Beweggründe, so patriotisch sie auch gewesen sein mochten, seien, meinte er, für die Urteilsfindung nicht von Belang: »… es kann eine Handlung, die politisch und historisch als zweckmäßig, ja heilsam erkannt wird, gleichwohl gegen das Strafgesetz verstoßen.«65 Ebert habe durch seine Teilnahme an der Streikleitung und durch seine Versammlungsrede der Landesverteidigung Schaden zugefügt und damit Landesverrat begangen; seine Absicht, den Streik zu beenden und eine weitere Schädigung des Landes zu verhüten, schließe den Vorsatz des Landesverrats nicht aus. Nachdem das Gericht somit gefunden hatte, dass der Beklagte für seine wichtigsten Behauptungen den Wahrheitsbeweis erbracht habe, denn Ebert habe sich im juristischen Sinne in der Tat des Landesverrats schuldig gemacht, verurteilte es den Beleidiger wegen der Form seiner Äußerungen über das Staatsoberhaupt zu drei Monaten Gefängnis.
Als die Reichsregierung, der ein Deutschnationaler und drei Mitglieder der Deutschen Volkspartei angehörten, vom Urteil erfuhr, beschloss sie einstimmig eine Kundgebung an den Reichspräsidenten, in der sie ihre Überzeugung aussprach, seine Tätigkeit habe »stets dem Wohl des deutschen Vaterlands gedient.« Für die Presse der Rechten und für viele Politiker der Rechtsparteien war das wieder ein Anlass, sich zu entrüsten und Ebert zu beschimpfen.
Ebert starb kurz darauf, im Februar 1925. Kein Historiker kann sagen, ob ihm der Ausgang des Prozesses die Möglichkeit genommen hätte, sich zur Wiederwahl zu stellen. Zu einer Überprüfung des Magdeburger Urteils im normalen Instanzenzug ist es nicht mehr gekommen, da eine Amnestie dem Verfahren ein Ende bereitete. Rechtskräftig ist das Urteil nicht geworden. Mehrere Rechtslehrer kritisierten das Verfahren und den Urteilsspruch: sie verneinten den Vorsatz der Schädigung des Staatsinteresses oder waren der Meinung, dass der alte Grundsatz des Nachteilsausgleichs (compensatio lucri cum damno) hätte angewandt werden müssen.66 Akzeptierte man das Prinzip des Nachteilsausgleichs, so fiel nicht nur das subjektive Element der Schuld fort, sondern auch jedes objektive Tatbestandsmoment eines landesverräterischen Unternehmens.
Indes fand auch die gegenteilige Ansicht beredte Wortführer. Wer der Kriegsmacht, hieß es da, durch sein Handeln einen Schaden zufüge, könne sich nicht zum Beweis des fehlenden staatsschädigenden Vorsatzes darauf berufen, dass er beabsichtigt habe, mit derselben Handlung einen größeren Vorteil für die Kriegsmacht zu erzielen, »selbst dann nicht, wenn der Vorteil in der Folge wirklich eintritt.« Auch »die uneigennützige Absicht, dem Vaterland zu helfen«, schütze nicht vor Strafe, »wenn die Verwirklichung der Absicht mit unerlaubten Mitteln angestrebt wird«, schon gar nicht in Kriegszeiten: »Im Krieg vornehmlich kann nur ein Wille herrschen, der Wille des Staates, der durch seine berufenen Organe handelt.«67
Ebert war schon seit über sechs Jahren tot, als das Reichsgericht mit einer entschiedenen Zurückweisung der Magdeburger Landesverratstheorie seine Ehrenrettung unternahm. In einem neuen Verfahren wegen Beleidigung des toten Reichspräsidenten, in dem sich der Angeklagte zu seiner Entlastung auf das Urteil des Magdeburger Schöffengerichts berief, wurde den Magdeburger Kollegen die Belehrung zuteil, dass ihrer Rechtsinterpretation durch eine ältere höchstgerichtliche Entscheidung die Basis entzogen worden sei. Ein Urteil des vereinigten II. und III. Strafsenats des Reichsgerichts vom 5. April 1916 wurde ausgegraben, in dem das Vorliegen eines Landesverrats verneint worden war, obgleich der Angeklagte, ein deutscher Großkaufmann, mitten im Krieg die Belieferung seiner russischen Fabriken mit schwedischem Stahl vermittelt hatte. Hätte der Angeklagte, so wurde argumentiert, keine Stahllieferungen mehr ins Feindesland gehen lassen, so wären die Werke, in denen landwirtschaftliche Geräte hergestellt wurden, von der russischen Regierung beschlagnahmt und in den Dienst der Kriegsproduktion gestellt worden; dem Angeklagten sei also zugute zu halten, dass der größere Schaden mit seiner Hilfe verhütet worden sei. (Vom »totalen Krieg« und davon, dass auch landwirtschaftliche Geräte die Wehrkraft eines kriegführenden Landes erhöhen, war noch nicht viel bekannt.)
Diese Argumentation wurde nun von den Reichsgerichtsräten von 1931 auf den Fall Ebert angewandt. »In ähnlicher Weise«, sagten sie, »ist auch das Verhalten eines Arbeiterführers zu beurteilen, der während eines Kriegs in die Leitung eines von radikalen Elementen angezettelten, für die deutsche Kriegsmacht nachteiligen Streiks eintritt mit der Willensrichtung, wieder Einfluß auf die von den radikalen Elementen aufgehetzten Arbeiter zu gewinnen, sie zur Besonnenheit zu ermahnen und ein möglichst baldiges Ende des Streiks herbeizuführen.«
Dieser Arbeiterführer dürfe sogar Konzessionen an den Radikalismus machen, den Streikenden versprechen, dass er für ihre Forderungen eintreten werde, und diese Forderungen auch wirklich vertreten, »sofern er nur bei allen seinen Maßnahmen das Endziel im Auge behält, von der deutschen Kriegsmacht größeren Nachteil, insbesondere auch eine Ausartung der Streikbewegung in eine revolutionäre Bewegung, abzuwenden.«68 Unter Berufung auf compensatio lucri cum damno wurde der Makel des Landesverrats von Ebert genommen und sein Andenken in Ehren wiederhergestellt.
Das Urteil von 1931 erfreute gewiss die politischen Freunde Eberts. Es war aber kein Damm, mit dem die Sturmflut der nationalistischen und nationalsozialistischen Propaganda hätte aufgefangen werden können. Diese Propaganda hatte sich seit langem der Gerichtsvorgänge und des Urteils von Magdeburg bemächtigt und daraus tödliche Waffen gegen die Weimarer Republik geschmiedet. Unermüdlich und unablässig wurde dem Staat, der nicht aus einer »revolutionären Bewegung« hervorgegangen sein wollte, die Schmach des Vaterlandsverrats vorgehalten.
Man kann dem Ebert-Prozess aber auch noch ein anderes entnehmen: Offenbar charakterisiert die Vergrößerung und Ausweitung der Wirkungen politischer Propaganda mit Hilfe öffentlicher Gerichtsverfahren ganz allgemein das Stadium der Politisierung gesellschaftlicher Konflikte und der Verschärfung politischer Kämpfe in einer Gesellschaft, die zur Massendemokratie wird. Wer ein solches Potential an sich zu reißen und auszunutzen weiß, kann, indem er die Ergebnisse der Justizprozeduren in einer geeigneten Situation gegen den politischen Gegner kehrt, seine Schlagkraft vervielfachen.