Читать книгу Das Haus hinter den Magnolienblüten - Pam Hillman - Страница 11
Kapitel 6
ОглавлениеKiera faltete die wenigen Kleidungsstücke zusammen, die sie aus Natchez hatte mitnehmen können. In der Eile hatte sie nicht darauf geachtet, was sie in das Kopfkissen stopfte. Dementsprechend dürftig erschien ihr das, was nun vor ihr lag.
Für Megan hatte sie nur einen Kittel mitgenommen. Apropos Megan – sie hatte schon seit einer Ewigkeit nichts mehr von ihrer Schwester gehört. Eilig lief sie in das Vorzimmer der Suite, die die Mistress O’Shea für die drei Schwestern bestimmt hatte.
„Wo ist Megan?“
Amelia blickte nicht einmal auf, sondern zuckte nur mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ich habe sie seit unserer Ankunft nicht mehr gesehen. Dieses Mädchen – die Rothaarige – hat von irgendwelchen Welpen geredet, die sie ihr zeigen wollte.“
„Ich werde nach ihr sehen.“ Kiera griff nach ihrem Überwurf und warf dabei einen kritischen Blick auf ihre Schwester, die sich auf dem Sofa zusammengerollt hatte. „Währenddessen schlage ich vor, dass du dich auf die Suche nach Mistress O’Shea oder Martha machst und deine Hilfe anbietest.“
Amelia gähnte. „Ich soll sie Isabella nennen, hat sie gesagt. Außerdem gibt es zurzeit nichts zu tun. Es ist Winter.“
„Es gibt immer etwas zu tun. Mir ist nicht entgangen, dass du auch nach dem Mittagessen nicht deine Hilfe angeboten hast.“
Wieder zuckte Amelia mit den Schultern. „Das ist Marthas Aufgabe.“
Kiera schritt auf Amelia zu und kniete sich neben ihre Schwester.
„Amelia, nur weil uns die O’Sheas in ihrem Haus als Gäste dulden, heißt das nicht, dass wir ihnen gleichgestellt sind. Unsere eigene Schwester hat zugelassen, dass ihr Ehemann uns an ein Bordell verkauft, um seine Spielschulden zu begleichen. Wir können nicht einfach so tun, als wäre das nicht geschehen. Die Dinge sind ab jetzt nicht mehr so, wie du es aus Irland gewohnt bist.“
Gedankenverloren spielte Amelia an einem losen Faden des Sofas. „Glaubst du, sie hat es gewusst? Warum George uns wirklich hierhergeschickt hat, meine ich.“
Der Schmerz in ihrer Stimme war kaum zu überhören. Sanft strich ihr Kiera eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht und klemmte sie ihr hinter das Ohr. Amelias Haare waren schon immer ein wenig heller gewesen als ihre eigenen. „Wer weiß schon, was in Charlottes Kopf vor sich geht. Was geschehen ist, ist nun einmal geschehen, und jetzt müssen wir das Beste daraus machen. Egal was geschieht, wir wollen auf keinen Fall wieder zurück zu Le Bonne. Hast du das verstanden?“
Alle Farbe wich der Sechzehnjährigen aus dem Gesicht. „Ja.“
„Gut. Vielleicht könntest du Martha fragen, ob sie Hilfe in der Küche braucht. Falls nicht, frag nach einem Eimer Wasser und beginn damit, unsere Zimmer abzustauben. Wir wollen der guten Frau nicht noch mehr Arbeit machen, als sie ohnehin schon hat.“
„Meinetwegen.“
„Sobald ich Megan gefunden habe, komme ich zurück.“
Nachdem Kiera auf die Veranda herausgetreten war, suchte sie den Hof mit den Augen ab. Keine Spur von Megan. Seufzend schlang sie den Überwurf enger um sich und lief auf die Scheune zu.
Für diese Zeit des Jahres war das Wetter erstaunlich mild und die Sonne schien verblüffend hell. Doch Kiera wusste, dass es sich über Nacht ebenso gut ins Gegenteil wenden konnte. Das Wetter in Irland war ebenso unvorhersehbar.
Als Kiera am Weinberg vorbeikam, steckte sie den Kopf in drei der heruntergekommenen Hütten, die am Wegesrand standen. Verwundert fragte sie sich, wieso sie leer standen. Megan war nirgendwo zu finden. Als sie bei den Ställen angekommen war, drückte sie die schweren Türen auf. Kurz hielt sie inne, damit sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnen konnten.
„Megan?“
Niemand antwortete und so drehte sie sich wieder zum Gehen um. Als Kiera ins grelle Sonnenlicht trat, prallte sie mit Quinn zusammen. Vor Schreck fasste sie sich an die Brust und stolperte zur Seite. Nur dank Quinns stützendem Arm konnte sie sich aufrecht halten. Die Fältchen neben seinen Augen wurden sichtbar, als er lächelte.
„Quinn, Sie … Sie haben mich erschreckt.“
„Entschuldigen Sie bitte. Ich wollte Sie nicht erschrecken.“
„Ich bin auf der Suche nach Megan. Haben Sie sie gesehen?“
„Ich habe dieselbe Mission wie Sie – nur bin ich auf der Suche nach Patrick“, sagte er achselzuckend. Schmunzelnd fügte er hinzu: „Wenigstens gibt es hier keine Takelage, auf die sie klettern könnten.“
Bei dem Gedanken an ihre erste Begegnung an Deck der Lady Gallant zuckte Kiera leicht zusammen. „Sie werden mich das wohl nie vergessen lassen, wie?“
„Vermutlich nicht.“ Quinn lachte.
„Amelia meinte, dieses rothaarige Mädchen – ich glaube, ihr Name ist Lizzy – wollte den anderen Kindern irgendwelche Welpen zeigen. Nur leider konnte sie mir nicht sagen, wo.“ Energisch stemmte Kiera die Hände in die Hüften. „Ich möchte nur vermeiden, dass Megan sich in irgendwelche Schwierigkeiten bringt.“
„Mir geht es mit Patrick ähnlich. Sobald ich ihn nicht mehr hören kann, muss ich mit dem Schlimmsten rechnen. Kommen Sie mit. Wir schauen bei der Räucherkammer nach.“
Tatsächlich entdeckten sie dort mehrere süße Welpen, die zusammengekauert in einer Grube schliefen, die jemand unter das Fundament der Hütte gebuddelt hatte. Doch von den Kindern fanden sie keine Spur. Besorgt zog Kiera ihre Augenbrauen zusammen. „Wo können sie nur hingegangen sein?“
„Hören Sie das?“
Kiera vernahm ein Kichern und folgte Quinn zum Kornspeicher. Auf den Stufen zum Eingang saßen die drei Kinder gemeinsam mit einer indianischen Frau. Gut ein Dutzend weiterer Kinder hockten bei ihnen, die zwar nicht so dunkle Haut, aber ebenso rabenschwarzes Haar hatten wie die Indianerin.
Als Megan Kiera und Quinn bemerkte, rannte sie auf die beiden zu. „Kiera! Komm, ich will dir meine neuen Freunde vorstellen.“
Ohne den freudigen Eifer ihrer Schwester zu stoppen, folgte Kiera dem Mädchen zu der Gruppe. „Guten Tag, Ma’am.“
Rasch stand die Indianerin auf. Mit gebeugtem Kopf stellte sie sich vor: „Mein Name ist Mary Horne, Mistress.“
„Kiera Young“, erwiderte Kiera und zeigte dann auf Quinn. „Und Quinn O’Shea.“
„Master O’Shea, Mistress Young.“
„Quinn reicht vollkommen aus, Ma’am.“
„Wie Sie wünschen, Master Quinn.“
Quinn verdrehte die Augen, doch er korrigierte die Frau nicht noch einmal.
Zwischen Lizzy und Patrick setzte Megan sich wieder auf den Boden und blickte erwartungsvoll auf Mary Horne. „Erzählst du uns noch eine Geschichte? Bitte?“
Mit einem Kopfnicken ließ sich die schwarzhaarige Frau wieder auf die Stufen sinken. Schweigend griff sie nach einem weiteren Maiskolben und begann damit, ihn zu schälen. Stirnrunzelnd beugte sich Megan zu Lizzy hinüber und flüsterte ihr ins Ohr: „Warum redet sie nicht?“
„Sie beginnt immer erst dann mit ihrer Geschichte, wenn jeder einen Maiskolben schält“, flüsterte Lizzy zurück und reichte Megan einen goldgelben Maiskolben. Sobald Megan mit dem Schälen angefangen hatte, fing Mary zu sprechen an:
„Die kleine Toksa, eine Meeresschildkröte …“
Der sanfte Klang von Marys melodischer Stimme hielt die Kinder im Bann. Quinn lehnte sich zu Kiera hinüber und murmelte: „Von dieser Mrs Horne können wir uns echt noch eine Scheibe abschneiden, wenn es darum geht, Patrick und Megan zu beschäftigen. Meinen Sie nicht, Miss Young?“
Um nicht laut loszukichern, hielt Kiera sich eine Hand vor den Mund. „Ich glaube, Sie haben recht, Mr O’Shea.“
Den Rest des Tages bekam Quinn Connor nicht mehr zu Gesicht. Darum machte er sich am nächsten Morgen noch vor Sonnenaufgang auf den Weg zum Sägewerk. Auch wenn er nicht lange bleiben würde, würde er sich bis zu seinem Aufbruch den Unterhalt verdienen.
Ein schmaler Lichtstreifen erschien gerade am östlichen Horizont, als Connor beim Sägewerk auftauchte. Quinn schoss von den Stufen auf, auf denen er gewartet hatte, und wischte sich grob mit den Händen das Sägemehl von Beinen und Gesäß.
„Quinn“, nickte ihm Connor zum Gruß zu. „Du bist früh wach.“
„Ich bin es nicht gewohnt, lange im Bett liegen zu bleiben.“ Achselzuckend blickte Quinn an Connor vorbei und starrte in die nebelverhüllte Ferne. „Pa hat mir das früh genug ausgetrieben.“
„Das kann ich mir vorstellen.“ Nachdem Connor die Tür des Sägewerks geöffnet hatte, griff er nach einem Schäleisen und wog es in der Hand. Dann bot er es Quinn an. „Willst du ein wenig mithelfen?“
„Dafür bin ich hier.“ Er griff nach dem Eisen. „Wo sind die anderen Männer? Ich dachte, sie würden spätestens beim Morgengrauen hier sein?“
„Sie werden bald hier sein. Der Weg in den Wald lohnt sich erst bei vollem Tageslicht wirklich.“
„Und trotzdem bist du hier.“
„Ich bin hier.“ Ohne seinen Bruder anzuschauen, griff Connor nach einem weiteren Schäleisen und machte sich auf den Weg in Richtung der Stämme am Rande der Lichtung. „Ich mag diese Zeit der Stille am frühen Morgen. Wenn ich ganz für mich allein bin. Manchmal arbeite ich dann an einem Möbelstück; manchmal befreie ich einen Stamm von der Rinde. Manchmal …“ Connor nahm einen tiefen Atemzug. „Manchmal setze ich mich auch einfach nur hin und bete. Dann danke ich Gott für all den Segen, den er über uns ausschüttet.“
Unschlüssig betrachtete Quinn das Werkzeug in seiner Hand. „Und was genau macht man mit so einem Ding?“
„Komm mit. Ich zeige es dir.“
Von einem Ende zum anderen ritzte Connor einen der Baumstämme auf. Dann griff er nach dem Eisen. „Sobald du den Stamm angeschnitten hast, nimmst du dir einfach dieses Schäleisen und lässt es zwischen Rinde und Baumstamm gleiten. Wenn du es ein wenig hin- und herbewegst, kannst du die Rinde lösen. So kannst du den gesamten Stamm schälen, bis das Holz glatt ist wie ein Aal.“
Quinn folgte Connors Anweisungen und versuchte, die Rinde so selten wie möglich abzubrechen, weil er sonst wieder von vorne anfangen musste. Doch mit der langen, geraden Klinge gelang es ihm einfach nicht, mehr als kleine Bruchstücke der Rinde abzuschälen. Bei Connor hatte es so einfach ausgesehen, wie er gleichmäßig lange Rindenstücke abgenommen hatte. Nichtsdestotrotz machte er weiter. Bestimmt würde er den Dreh bald herausbekommen.
„Die Arbeit wäre so viel einfacher mit einer geschwungenen Klinge.“ Connor begann bereits mit einem weiteren Stamm und schnitt ihn der Länge nach ein. Dann legte er seine Hand auf die Wölbung des Stammes und meinte verträumt: „Selbst die geringste Krümmung würde einen riesigen Unterschied machen.“
„Die Arbeit würde auf alle Fälle schneller gehen.“
„Ja, das stimmt. In den Carolinas habe ich solche Schäleisen gesehen. Es wäre so viel einfacher, damit zu arbeiten.“ An einem Ende des Stammes stellte Connor sich auf, Quinn begann mit dem Schälen am anderen Ende. Einen Fuß stellte er auf den Stamm, um ihn stabil zu halten.
Er sah sich das Werkzeug in seiner Hand genau an. „Ich könnte dir so eins machen.“
„Du weißt mit Eisen umzugehen?“ Ungläubig warf Connor seinem Bruder einen Blick zu. „Wo hast du denn so etwas gelernt?“
„Erinnerst du dich an den alten Seamus? Seine Arbeit wurde in den letzten Jahren immer gefragter und so brauchte er einen Lehrling.“ Quinn zuckte mit den Schultern. „Ich stand zur Verfügung und war froh, endlich aus den Minen herauszukommen.“
Ehrlich gesagt war er nicht einfach nur froh gewesen. Keine Ahnung, ob er noch einen weiteren Tag unter der Erde hätte verbringen können.
„Seitdem ich hier bin, hat es keinen Schmied mehr auf Breeze Hill gegeben. Wenn du möchtest, darfst du die Schmiede gerne übernehmen.“
„Was ist mit Mr Bartholomew?“ Konzentriert schälte Quinn ein weiteres Stück Rinde vom Stamm ab. „Hat er nicht mitzuentscheiden, wer auf seiner Plantage eingestellt wird und wer nicht?“
„Isabellas Vater geht es nicht sehr gut. Er hat mir die Leitung der Plantage übertragen, bis sein Enkel alt genug ist für diese Aufgabe. Dann wird der kleine Jonny Breeze Hill erben.“
„Selbst, wenn du und Isabella Kinder haben werdet?“
Schmerz mischte sich in den konzentrierten Ausdruck auf Connors Gesicht. „Ja, auch wenn wir selbst Kinder haben werden. Ich wollte nie, dass Isabella denkt, ich hätte sie nur der Plantage wegen geheiratet.“
„Und trotzdem bist du nicht leer ausgegangen, oder? Isabella hat einen Ort erwähnt, der sich Braxton Hall nennt.“ Quinn lachte leise. „Ich hätte nie gedacht, dass ein O’Shea jemals Landbesitzer sein würde. Was hast du diesmal dafür getan – wieder eine hilflose Dame in Bedrängnis gerettet?“
„Ja.“ Bei der flapsigen Bemerkung seines Bruders verhärtete sich Connors Kiefer. „Isabella.“
Vor Scham schloss Quinn kurz die Augen. Er fühlte sich wie ein Idiot. „Es tut mir leid. Ich hab nicht gewusst, dass …“
„Nolan Braxton war ein Dieb und ein Wegelagerer.“ Scharf klang Connors Stimme bei diesen Worten. „Er hat Isabellas Bruder umgebracht und beinahe ihren Vater und ihre Schwägerin getötet. Dann hatte er sich in den Kopf gesetzt, Breeze Hill um jeden Preis zu besitzen, und dafür wollte er Isabella heiraten. Nachdem er umgekommen war, übertrug der Statthalter mir sein Land.“
Aus den Augenwinkeln schielte Quinn zu Connor hinüber. „Hast du ihn selbst umgebracht, diesen Braxton?“
Kopfschüttelnd verneinte Connor und blickte gedankenverloren in Richtung des Anwesens. „Nein, aber das heißt nicht, dass ich es nicht versucht hätte.“
Einzig das Schaben der Schäleisen war in den nächsten Minuten zu hören.
„Also, erzähl mir von der Sache mit Caleb“, durchbrach Connor schließlich die Stille. „Warum hat er sich dafür entschieden aufzubrechen?“
Fester als gewollt rammte Quinn das Eisen zwischen Stamm und Rinde. Der Ärger in seiner Stimme war nicht zu überhören, als er antwortete: „Er sagte, er hätte genug von der Arbeit in den Minen. Er wollte unbedingt losziehen und die Welt erkunden.“
„Das kann ich verstehen. Ich habe die Minen selbst gehasst.“
Quinn schnaubte. Wenigstens eine Sache hatte er mit seinen Brüdern gemein.
Für eine lange Zeit war Connor daraufhin still. „Er hat dich einfach mit Rory und Patrick zurückgelassen und erwartet, dass du dich um sie kümmerst?“
Das Eisen in Quinns Hand rutschte ab und schlug eine tiefe Kerbe in das sonst glatte und geschälte Holz. Mit zusammengebissenen Zähnen riss er das Eisen heraus und rammte es erneut zwischen Rinde und Stamm. Die ganze Zeit über dachte er an den Tag, an dem Caleb sie im Stich gelassen hatte. Obwohl die blauen Flecken von ihrer Schlägerei längst nicht mehr zu sehen waren, kam es Quinn so vor, als sei es erst gestern gewesen. „Es hat sich nicht viel dadurch verändert. Auch vorher ist Caleb nie eine große Hilfe gewesen.“
„Ich wünschte, ich hätte euch helfen können. All diese Jahre und …“
In der Bewegung innehaltend stützte Connor sich auf den Griff des Schäleisens und starrte Quinn an.
„Unser Wiedersehen ist nicht ganz so abgelaufen, wie ich es mir vorgestellt hatte.“
Quinn grunzte. „Was hast du denn erwartet?“
„Keine Ahnung. Dass alles wieder so sein würde wie früher, als Ma und Pa noch am Leben und wir Kinder waren.“
„So wie damals ist es schon seit Jahren nicht mehr gewesen.“ Die Verbitterung der letzten Jahre brodelte in Quinn. „Wir können niemals dorthin zurück.“
Jetzt tauchte ein Dutzend Männer zwischen den Bäumen am Ende der Auffahrt zum Sägewerk auf.
Es war Connor deutlich im Gesicht abzulesen, dass er nicht sonderlich begeistert über diese Unterbrechung war. „Nein, ich vermute nicht.“
Genauso wenig wie Quinn die Zeit zurückdrehen und wiedergutmachen konnte, was Caleb ihm angetan hatte, als er die Familie verließ und ihm damit seine Aufgabe als neues Familienoberhaupt aufgezwängt hatte.
Isabella stürmte in die Küche. „Wo ist Martha?“
„Sie sammelt Eier.“ Um zu antworten, hob Kiera nur kurz den Kopf, hielt aber in ihrer Arbeit nicht inne. Für den Eintopf zum Mittagessen schnitt sie Zwiebeln klein. Martha hatte ihr keine Aufgabe gegeben, als sie heute Morgen in die Küche gekommen war, aber über etwas Hilfe beschwert hatte sie sich auch nicht.
Kiera war besessen von dem Drang, sich nützlich zu zeigen. Die Angst, wieder zurück nach Natchez geschickt zu werden, trieb sie an. Nie wieder wollte sie zurück zu Pierre Le Bonne.
„Mein Ehemann bringt mich noch um. Schon wieder hat Martha mir erzählt, dass er kein Frühstück gegessen hat, und ich kann nur wetten, dass er auch nicht bei Lafette eine Pause eingelegt hat. Niemals würde er sich für das Essen des Arbeiterkochs entscheiden, wenn er stattdessen Marthas Kochkünste genießen könnte.“ Isabellas Augen funkelten gefährlich unter den zusammengezogenen Augenbrauen und ihre Hände hatte sie in die Hüften gestemmt. „Connor weiß genau, dass er keinen ganzen Tag ohne Essen auskommen kann.“
Die Zwiebeln trieben Kiera die Tränen in die Augen. Energisch versuchte sie, sie wegzublinzeln, und hoffte, dass Isabella dabei ihre Verlegenheit nicht bemerken würde. Im Gegensatz zu ihr wusste sie, weshalb Connor das Frühstück ausgelassen hatte. Heute Morgen waren sie sich auf dem Weg in die Küche begegnet; doch nachdem er sie mit einem knappen Kopfnicken begrüßt hatte, war er, so schnell es ging, in Richtung des Sägewerks verschwunden.
„Und seinen Bruder Quinn habe ich heute Morgen auch noch nicht zu Gesicht bekommen.“ Die junge Hausherrin griff sich einen Korb aus einem der Regale. „Kiera, hast du Connor oder Quinn schon gesehen?“
„Nein, Ma’am. Das heißt …“ Kiera schluckte. „Ja, Mistress. Ich bin Mr O’Shea heute Morgen begegnet. Ich meine Master Connor.“
Seufzend kam Isabella auf sie zu und setzte sich auf den Hocker neben Kiera. „Es gibt keinen Grund, dass du so formell reden müsstest. Connor ist nicht dein Master und ich bin definitiv nicht deine Mistress. Du und deine Schwestern, ihr seid unsere Gäste.“
„Ich glaube kaum, dass dein Ehemann das ebenso sieht. Er ist nicht gerade erfreut über unsere Anwesenheit.“ Wieder sprangen Tränen in Kieras Augen – diesmal jedoch nicht nur vom Zwiebelschneiden. Blinzelnd schüttelte sie ihren Kopf. „Nicht nach alldem, was meine Schwester ihm angetan hat.“
Sanft tätschelte Isabella ihren Arm. „Was Charlotte getan hat, hat absolut nichts mit dir zu tun. Sie scheint nicht besonders viel Mitgefühl oder moralische Hemmungen zu haben. Ich für meinen Teil bin unglaublich froh, dass Quinn und die Wainwrights zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen sind und euch retten konnten. Bei dem Gedanken daran, was euch sonst geschehen wäre, läuft es mir eiskalt den Rücken hinunter.“
„Dein Mann wollte mich nicht einmal ansehen, als er mir heute Morgen auf dem Weg in die Küche begegnet ist. Das ist der Grund, weshalb er kein Frühstück gegessen hat.“ Beschämt blickte sie nach unten. „Er konnte es wohl nicht ertragen, im selben Raum wie ich zu sein.“
„Das stimmt nicht.“ Isabella schüttelte entschlossen den Kopf. „Er lässt das Frühstück ständig ausfallen. Du kannst diesen Gedanken also ganz schnell wieder aus deinem Kopf verbannen, verstanden?“
„Ja, Ma’am.“
„Sehr gut. Dann schauen wir mal, ob wir etwas Essbares für Connor und seinen Bruder auftreiben können. Nicht dass die Männer uns noch verhungern.“ Isabella stand auf und lief aus der Küche. Zu Kiera sagte sie noch: „Ich bin gleich zurück“, dann war sie verschwunden.
Allein in der Küche sitzend griff Kiera nach dem Zipfel ihrer Schürze und wischte sich die Nase daran ab. Bedächtig achtete sie darauf, keinen Zwiebelsaft in ihre Augen zu bekommen. Um das Brennen zu verringern, schielte sie aus zusammengekniffenen Augen auf die Zwiebeln und schnitt sie, so schnell sie nur konnte, zu Ende. Endlich ließ sie auch den letzten Rest in den Schmortopf fallen.
Im Stillen dankte sie Isabella für ihre lieben Worte. Sie meinte es sicher nur gut mit ihr. Trotzdem konnte sie den Ärger in Connors Stimme nicht vergessen, als er herausgefunden hatte, wer sie war. Das würde sich auch heute noch nicht geändert haben. Connor wollte sie und ihre Schwestern immer noch loswerden. Je schneller, desto besser.
Die Tür öffnete sich und Isabella kam wieder herein. In der Hand hielt sie einen runden Laib Käse. „Oh, gut, du bist ja schon fertig mit den Zwiebeln.“ Sie drückte Kiera den Käse in die Hand. „Schneide ein paar Scheiben ab, ich brate derweil ein wenig Speck. Im Brotkasten findest du Brot, das kannst du auch in Scheiben schneiden.“
Kiera tat, wie ihr geheißen wurde. Während sie Brot und Käse schnitt, füllte der Geruch nach gebratenem Speck die Küche.
Kurz darauf gabelte Isabella den Speck auf die Hälfte der Brotscheiben und bedeckte sie mit einer weiteren Scheibe Brot. Die Sandwiches wickelte sie mehrfach ein, um sie warm zu halten, und legte sie in den Korb. Dann griff sie nach ihrem Schal und schwang sich den Korb über den Arm. Bevor sie die Tür aufstieß, drehte sie sich lächelnd zu Kiera um. „Kommst du nicht mit?“
„Ich glaube nicht, dass …“ Isabellas hochgezogene Augenbraue ließ sie innehalten. „Natürlich. Lass mich nur schnell meinen Überwurf holen.“
Auf dem Weg redeten die beiden Frauen nicht viel miteinander. Beide hingen ihren eigenen Gedanken nach. Als das Sägewerk in Sicht kam, hielt Kiera sich jedoch dicht bei Isabella. Mehrere Männer hatten sich zu zweit zusammengetan und sägten Baumstämme in großen Sägegruben. Andere Arbeiter waren damit beschäftigt, die abgesägten Holzbretter über die Lichtung zu tragen, wieder andere stapelten das Schnittholz aufeinander.
Ein großer, schlaksiger Mann lupfte seinen Hut in ihre Richtung. „Guten Morgen, Miss O’Shea. Miss.“
„Guten Morgen, Mr Horne“, rief Isabella fröhlich zurück und nickte ihm zu. An Kiera gewandt sagte sie: „Das war Mr Horne. Sicher wirst du bald seine Frau und Töchter kennenlernen.“
„Mary?“
„Du hast sie schon kennengelernt?“
„Ja. Sie hat die Kinder gestern dazu gebracht, Mais zu schälen.“
„Wahrscheinlich nicht, ohne ihnen dabei die eine oder andere Geschichte zu erzählen.“
„Genau.“
„Sie hat eine Gabe dafür, die Kinder beschäftigt zu halten.“ Isabella lachte. „Die Hornes haben zehn Kinder. Das jüngste ist fünf Monate alt, nur ein paar Wochen jünger als mein Neffe. Du wirst die Gottesdienste lieben. Mrs Horne und ihre Töchter haben wundervolle Stimmen und Mr Horne ist ein sehr lebhafter Prediger.“
Das Chaos auf der Lichtung schien Isabella nicht im Mindesten zu beeindrucken. Entschlossen lief sie zwischen den Arbeitern hindurch. Kiera beeilte sich, nicht von ihrer Seite zu weichen. An einer der Sägegruben stand Quinn. Das Hemd klebte ihm am Körper, als er das Sägeblatt mit aller Kraft durch den Baumstamm schob. Das rhythmische Hin und Her der Säge klang beruhigend in Kieras Ohren. Als er kurz innehielt, um sich mit dem Halstuch den Schweiß von der Stirn zu wischen, trafen sich ihre Blicke. Kiera errötete und schaute schnell in eine andere Richtung.
Neben dem Stamm kniete Connor sich nieder und trieb einen Keil in den entstandenen Spalt, um das Holz auseinanderzuhalten. Als er die beiden Frauen entdeckte, reichte er den Hammer an einen seiner Männer weiter. Energisch schritt er auf sie zu, seine Miene so düster wie eine Gewitterwolke. Doch sein Blick war allein auf seine Frau gerichtet, nicht auf Kiera. Als er bei ihnen ankam, packte er Isabella am Arm und zog sie an seine Seite. „Du hättest nicht so weit laufen sollen, Liebe. Es ist viel zu früh, seit …“
„Mir geht es wunderbar, Connor. Hör auf, dir Sorgen zu machen.“
„Brr! Halt, du Dummkopf!“
Kiera wirbelte herum, als das ängstliche Wiehern eines Pferdes direkt hinter ihr ertönte. Das arme Tier bäumte sich auf. Seine hinteren Hufe hatten sich im Geschirr verheddert, das an einem der Baumstämme festgemacht war. Vor Schreck machte Kiera einen Schritt zurück und stolperte auf dem unebenen Boden.
Das riesige Arbeitspferd scheute erneut und riss sich los. Wild schlug es mit den Hufen aus, nur wenige Meter von Kiera entfernt. Plötzlich wurde Kiera hochgehoben und aus der Gefahrenzone gebracht. Männer kamen aus allen Eckern herbeigeeilt, um das Tier zu bändigen und die Ketten zu lösen, in welchen sich das Pferd verfangen hatte.
Als Kiera aufblickte, sah sie direkt in die blauen Augen von Quinn.
Besorgt schaute er sie an. „Alles in Ordnung mit Ihnen?“
„Mir … mir geht es gut.“ Seinen rechten Arm hatte er um ihre Hüfte geschlungen und hielt sie damit aufrecht. Laut pochte Kieras Herz bei dem Gedanken an die Hufe des Pferdes, die sie nur knapp verfehlt hatten – oder war es wegen des Gedankens an Quinns unmittelbare Nähe? Sie schob Quinn von sich, um wieder frei atmen und richtig denken zu können.
„Björn!“
Connors lautes Brüllen ließ Kiera zusammenzucken. Mit Quinn im Schlepptau rannte er auf die Stelle des Geschehens zu.
„Wie konnte das passieren?“, bellte er den unglückseligen Mann an, der wieder den Führstrick des Pferdes in beiden Händen hielt. Zitternd, aber folgsam stand das endlich befreite Pferd neben ihm.
„Ich weiß es nicht, Master O’Shea. In der einen Minute verhielt es sich lammfromm, in der nächsten trat es um sich wie der Teufel selbst.“
„Es hat beinahe meine Frau getroffen und …“ Das gefährliche Funkeln in Connors Augen traf Kiera, „und Miss Young getötet.“
„Es tut mir leid“, murmelte Björn beschämt, während er nervös seinen Hut in den Händen knetete. „Es wird nicht wieder vorkommen.“
„Wenn du das Tier nicht unter Kontrolle bekommst, kann ich dich nicht länger auf Breeze Hill gebrauchen.“ Connors Stimme schnitt durch die Stille.
„Aber ich habe nichts getan …“
„Er hat recht, Connor.“ Quinn bückte sich und nahm die Kette in die Hand, die neben dem Baumstamm lag. „Es war nicht seine Schuld. Die Kette ist gerissen.“
„Lass mich mal sehen.“ Nach der ausführlichen Begutachtung des gebrochenen Kettengliedes riss sich Connor den Hut vom Kopf und ließ die freie Hand durch die Haare gleiten. Dann wandte er sich wieder dem muskulösen Schweden zu, der mit gesenktem Blick vor ihm stand.
„Es tut mir leid, Björn.“ Er zeigte auf Isabella und Kiera. „Meine Sorge um meine Frau und Miss Young hat mich überreagieren lassen.“
Voller Hoffnung hob der Mann den Kopf. „Ich habe also immer noch einen Job, ja?“
Connor lächelte. „Ja.“
Grinsend setzte sich der Mann den Hut wieder auf den Kopf und eilte mit dem Pferd davon. Im Weggehen konnte Kiera hören, wie er das Tier immer wieder liebevoll schimpfte und es Dummkopf nannte.