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Kapitel 4

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Ausgestreckt lagen Rory und Patrick auf dem Bett. Nach all den nervenaufreibenden Erlebnissen waren sie endlich eingeschlafen und machten dabei Geräusche wie die Blasebälge der Schmieden in Kilkenny.

Freiwillig hatte Quinn sich für den Schlafplatz auf dem harten Boden entschieden und seinen Brüdern das Bett überlassen. Nicht dass es ihm etwas ausmachen würde. Schließlich war er es aus Irland gewohnt, mit nicht mehr als einer dünnen Decke auf dem oft kalten Steinboden zu liegen. Im Übrigen hatte die Haushälterin der Wainwrights ihn nicht nur mit einer, sondern mit gut einem Dutzend Decken ausgestattet, die ihn weich liegen ließen.

Und dennoch konnte er nicht schlafen.

Die Sorge um das Schicksal von Mr Marchette ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Gleichzeitig brachte ihn der Gedanke an Kiera und ihre Schwestern um den Verstand. Er konnte und wollte sich nicht vorstellen, was mit ihnen geschehen wäre, wenn er und die anderen nicht eingegriffen hätten.

Mr Marchette war klug. Vermutlich hatte er sich irgendwo verkrochen und wartete auf den Morgen, um Mr Wainwright eine Botschaft schicken zu können. Sicher ging es ihm gut.

Darüber hinaus hatten sowohl Mr Marchette als auch Mr Wainwright großen Einfluss hier in Natchez. Sie würden schon dafür sorgen, dass man sich um Kiera und ihre Schwestern kümmerte. Eigentlich hatte Quinn keinen Grund, sich über Dinge Sorgen zu machen, die nicht in seiner Hand lagen. Was er tun konnte, hatte er getan. Jetzt konnte er getrost losziehen und seine Pläne verwirklichen.

Pläne, die sich schon zum wiederholten Mal nach hinten verschoben hatten.

Eigentlich hatte er vorgehabt, mit dem nächstbesten Schiff aus Natchez auszureisen. Wie weit die Plantage seines Bruders tatsächlich von Natchez entfernt lag, hatte er bis heute jedoch nicht gewusst. Widerwillig gestand er sich ein, dass er keine andere Wahl hatte, als Patrick und Rory zu Connor zu bringen. So sehr er auch hoffte, er würde der Begegnung mit seinem älteren Bruder nicht entgehen können.

Mit zusammengebissenen Zähnen rollte Quinn sich auf die Seite. Ärgerlich griff er nach seinem Kissen, schüttelte es auf und stopfte es sich wieder unter den Kopf. Er würde nach Breeze Hill gehen. Er würde Connor gegenübertreten und sicherstellen, dass Patrick und Rory gut aufgehoben waren; dann erst würde er sich den Staub von den Füßen und alle Erinnerungen an Irland oder Natchez aus dem Gedächtnis streichen können. Endlich.

Langsam dämmerte Quinn weg, nur um Momente später von einem heftigen Hämmern an der Zimmertür aufzuschrecken. Benommen wühlte er sich aus den Laken, als bereits die Tür aufflog und gegen die Wand knallte. Wainwright kam hereingestürmt. Er hielt eine Kerze in der Hand, die wild flackerte und deren Schein seinem Gesicht ein gespenstisches Aussehen verlieh.

„Marchette ist tot.“

Rory setzte sich auf und blickte forsch zwischen den beiden Männern hin und her. Derweil versuchte Quinn durch ein Kopfschütteln die Benommenheit aus seinem Kopf zu bekommen. „Wie …?“

„Man fand seinen ramponierten Körper im Fluss. Soeben kam die Meldung.“

Alarmiert schnellte Quinns Blick zu Patrick. Der Junge schlief noch. Weder die Tür, die laut an die Wand geknallt war, noch die unheilvollen Neuigkeiten hatten seinen Bruder aufgeweckt. Mit einem Kopfnicken scheuchte Quinn Mr Wainwright aus dem Zimmer. Nachdem auch Rory auf den Flur getreten war, zog Quinn die Tür leise ins Schloss. Patrick musste nicht unbedingt aufwachen und die schlimmen Neuigkeiten zu hören bekommen.

„Denken Sie, dass Le Bonne ihn umgebracht hat?“ Quinn hielt die Stimme gesenkt.

„Ich kann nur vermuten, dass Le Bonne – oder zumindest seine Handlanger – für Marchettes Tod verantwortlich ist. Fragt sich nur, ob Le Bonne weiß, wo sich die Mädchen befinden. Wir dürfen kein Risiko eingehen, dass er sie wieder in die Hände bekommt.“

„Was schlagen Sie vor?“

„Ich werde Sie – und zwar Sie alle – heute Nacht nach Breeze Hill schicken. Sofort. Jack kennt den Weg und er wird Sie dort hinbringen. Das Vorhaben ist nicht ungefährlich, aber so haben Sie wenigstens einen Vorsprung.“

„Was ist mit Ihnen und Mr Bloomfield?“

„Sollte Le Bonne wirklich hier auftauchen, werde ich mich unwissend stellen. Bloomfield weiß ohnehin nicht mehr, als dass wir zum Blauen Reiher aufgebrochen sind. Er hat lange genug im Untergrund gearbeitet, um zu wissen, wann er den Mund halten muss.“ Mit Zeigefinger und Daumen kniff Wainwright sich in den Nasenrücken und schloss die Augen. „Sobald Miss Young und ihre Schwestern in Sicherheit sind, werde ich mehr über Le Bonne herausfinden. Sollte er tatsächlich Anspruch auf die drei Mädchen haben, könnte ich mit Connor sprechen. Vielleicht kann er die Papiere der Mädchen kaufen.“

„Sie haben keine Papiere. Kiera hat keine Einwilligung unterzeichnet. Nichts deutet darauf hin, dass sie sich ihm freiwillig zur Verfügung gestellt hat“, brummte Quinn. „Vielleicht wäre es das Beste, wenn wir einfach bleiben und kämpfen. Davonlaufen hat noch nie etwas Gutes hervorgebracht.“

„Einen Kampf könnten wir nur dann gewinnen, wenn wir Le Bonne töten würden. Und selbst dann bezweifle ich, dass wir den Rechtsstreit um die Vormundschaft gewinnen würden, sollte irgendjemand unser Recht anzweifeln. Was wir brauchen, ist Zeit. Und dafür müssen sich die Mädchen außerhalb der Stadt befinden. Je schneller, desto besser.“


Mr Marchette – tot?

Auch nach mehreren Stunden auf dem schaukelnden Rücken eines Pferdes konnte Kiera kaum glauben, was sie vorhin gehört hatte. Hätte sie zuvor noch Zweifel an dem unsittlichen Charakter des Franzosen gehabt, so stand ihr Urteil nun felsenfest; noch nie war sie einem so widerlichen und grausamen Menschen begegnet wie Pierre Le Bonne.

Um sie und ihre Schwestern zu retten, hatte ein unschuldiger Mann sein Leben geopfert. Niemals würde sie ihm das vergessen.

Zitternd – und zwar nicht nur von der nächtlichen Kälte – zog sie den geliehenen Überwurf enger um sich. Im Stillen dankte sie Mrs Butler für ihre Großzügigkeit.

Unaufhaltsam schlichen sich erneut Angst und Sorge in ihre Gedanken. Herr, bewahre Mrs Butler und Mr Wainwright vor allem Übel.

Kiera wollte sich nicht einmal vorstellen, was Le Bonne mit den beiden tun würde, sollte er herausfinden, dass sie an der Flucht der Mädchen beteiligt gewesen waren.

Stunde um Stunde ritten sie durch die Nacht. Es war Wainwrights Vorschlag gewesen, dass die kleine Truppe auf Pferden statt mit der Kutsche in Richtung Breeze Hill aufbrach. Aufgrund des weiten Weges und der Eile, die sie an den Tag legen mussten, schien dies die passendste Wahl zu sein. Trotz der Dunkelheit führte Jack sie sicher auf dem Weg, der sie immer weiter hinein in die Wildnis führte.

Die Dämmerung nahte, als der Stallbursche plötzlich den Hauptweg verließ. Ängstlich blickte er sich zu den anderen um.

„Es ist nicht mehr weit bis Mount Locust. Statt auf dem üblichen Pfad zu bleiben, werden wir uns einen Weg darum herum suchen. Mr Wainwright war der Meinung, dass es besser sei, wenn niemand mitbekommen würde, dass wir hier entlangkommen. Ab jetzt müssen wir alle besonders leise sein.“

„Wie lange ist es noch bis Breeze Hill?“, fragte Quinn.

„Ungefähr zwei Stunden.“

Amelia ächzte und Kiera hätte es ihr gerne gleichgetan.

Seit Monaten hat keine von ihnen mehr auf einem Pferd gesessen. Entschlossen griff sie nach den Zügeln und umfasste den Sattelknauf. Sie würde tun, was getan werden musste, um ihre Schwestern zu beschützen.

„Jack, eine kleine Pause würde doch sicher nicht schaden. Es täte uns allen gut, die Beine ein wenig auszustrecken. Was meinst du?“ Obwohl er den Stallburschen angesprochen hatte, wanderte Quinns Blick erst zu Kiera, dann zu ihren Schwestern und seinen Brüdern.

Kopfschüttelnd lehnte Jack ab: „Wir sollen auf schnellstem Weg nach Breeze Hill reiten. Anweisung von Mr Wainwright. Keiner weiß, wer die Nacht im Mount Locust verbringt. Vielleicht würde uns jemand verfolgen und dann umbringen …“

„Ist schon gut. Zwei Stunden mehr oder weniger machen auch keinen großen Unterschied mehr.“ Kiera warf einen ängstlichen Blick zurück auf den Weg, den sie gekommen waren. Jeder Schatten wirkte furchterregend und befeuerte ihre Fantasie. Wer oder was verbarg sich im Dunkel der Nacht? Was, wenn Le Bonne und Claude hinter ihnen waren? Schaudernd trieb sie ihre Stute an. „Zeig uns den Weg.“

Quinn nickte Jack zu: „Also weiter. Seid alle still jetzt.“

Sie ritten hintereinander und hielten sich im Schatten. Durch die Bäume erspähte Kiera eine Blockhütte, die sich dunkel vor dem Himmel abhob. Um die Hütte herum befanden sich mehrere kleinere Gebäude. Auch ein paar Pferdewagen standen geschützt unter den Bäumen, die sich unterhalb der Hütte am Berg befanden. Vermutlich alles Reisende, die in der Gaststätte übernachteten. Kiera ließ die anderen an ihr vorbeireiten, bis nur noch Quinn hinter ihr war.

Kurz bevor sie die Gaststätte passiert hatten, fing ein Hund zu bellen an. Schnell stimmten auch weitere Hunde mit ein. Kurz darauf rasten mehrere große Hunde den Hügel hinab und auf die kleine Reisegruppe zu. Jack gab seinem Pferd die Sporen und jagte davon, der Rest folgte ihm auf dem Fuß. So schnell es ging, ließen sie Mount Locust weit hinter sich zurück. Erst nach gut einer Meile ließ Jack allmählich die Zügel locker und wurde langsamer.

Das Herz pochte Kiera bis zum Hals. Sie ritt näher an Quinn heran. „Jack scheint mächtig Angst vor den Reisenden im Mount Locust zu haben.“

„Er hat auch allen Grund dazu.“

Kiera schluckte. „Wegen … wegen Le Bonne?“

„Nicht nur Le Bonne.“ Quinn drehte sich auf seinem Pferd um und spähte konzentriert auf den hinter ihnen liegenden Pfad. Als er sich wieder nach vorne wandte, knarzte sein Sattel. „Auf dem Schiff habe ich die Männer reden gehört. Kaufmänner und Plantagenbesitzer aus den nördlicheren Gebieten treiben ihre Ware den Mississippi hinunter. Wenn sie alles verkauft haben, nehmen sie diesen Weg, um wieder nach Hause zu kommen. Über die ganze Strecke verteilt warten Banditen, um ahnungslosen Reisenden aufzulauern. Für ein paar Münzen töten sie jeden, den sie zu fassen bekommen.“

Mit Argwohn begutachtete Kiera die dunklen Schatten um sie herum. Hatte sie ihre Schwestern in eine noch unheilvollere Lage gebracht? „Vielleicht hätten wir doch lieber in Natchez bleiben sollen“, murmelte sie.

„Mit Le Bonne?“ Die aufgehende Sonne sandte ihre ersten Strahlen über den Horizont, die das ganze Land in ein sanftes rosa Licht tauchten.

„Nein. Natürlich nicht. Aber …“ Ohne ihre Stimme zu erheben sprach sie weiter. „Was wissen Sie über dieses Breeze Hill? Was wissen Sie über die Menschen, die dort leben?“

„Ich weiß, dass mein Bruder mit der Tochter des Plantagenbesitzers verheiratet ist.“

„Ihr …“, Kiera musste schlucken, bevor sie weitersprach, „… Bruder ist verheiratet mit der Tochter des Plantagenbesitzers?“

Während er eine Augenbraue nach oben zog, bohrten sich Quinns blaue Augen in ihre. „Sie klingen erstaunt.“

„Ich …“ Kiera hielt inne. Diese Neuigkeit überraschte sie tatsächlich – aber wieso? Sie wusste viel zu wenig über Quinn oder seinen Bruder. Es wäre anmaßend, sich von Quinns ärmlichem Aussehen ein Urteil über dessen Bruder zu bilden. Immerhin befanden sie sich nun im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Hier konnte ein Mann sein und werden, was er wollte. „Es tut mir leid. Ich wollte Sie damit nicht vor den Kopf stoßen.“

„Das haben Sie nicht. Seit fast neun Jahren ist mein Bruder nun schon in den Kolonien. Genauer gesagt wurde er damals vom Besitzer von Breeze Hill als Arbeitskraft eingesetzt und endete dann als Ehemann von dessen Tochter. Darüber hinaus hat er anscheinend dem Statthalter einen großen Dienst erwiesen, indem er dessen Zukünftiger das Leben gerettet hat. Als Dank dafür bezahlte er die Überfahrt für uns drei.“ Quinn grinste. „Unter anderen Umständen hätte meine Reise in die Kolonien ebenfalls mit einem siebenjährigen verpflichtenden Arbeitsvertrag geendet. Vorausgesetzt, ich hätte die Reise überhaupt in Erwägung gezogen.“

„Wie bei mir …“

Quinn streckte seine Hand aus und griff nach Kieras Zügeln. Mit einem sanften Ruck brachte er ihre Stute neben seiner zum Stehen. Fest blickte er ihr in die Augen und sagte mit Nachdruck: „Keine Umstände der Welt hätten die Lage rechtfertigen können, in der Sie und Ihre Schwestern sich gestern Abend befunden haben.“

Tränen traten Kiera in die Augen. Sie nickte nur kurz, unfähig, auch nur ein Wort über die entsetzlichen Erlebnisse über die Lippen zu bringen.


Knapp zwei Stunden später sog Quinn den Anblick von Breeze Hill in sich auf. Was er auf dem Hügel vor sich erblickte, verschlug ihm beinahe den Atem: Umgeben von moosbedeckten Zedern thronte dort ein weißes Haus mit schwarz gestrichenen Fensterläden. Davor befand sich eine riesige Veranda, die sich über die gesamte Länge des Gebäudes zog. Ein zweites Stockwerk erhob sich über dem Erdgeschoss. Die ummauerte Fläche war kleiner als die des darunterliegenden Stockwerks, bot dadurch aber Platz für eine umlaufende Veranda.

Brach liegende Felder erstreckten sich hinter einer Baumgruppe auf der linken Seite des Gebäudes. Rechts fiel der Hügel stärker ab und führte zu einem Brunnen. Verschiedene Nebengebäude – ein Stall, mehrere Holzhütten, ein Kornspeicher, eine Räucherkammer und eine Schmiede – lagen verteilt unterhalb der schattigen Eichen und hohen Pinien. Hinter dem prächtigen Haus erkannte Quinn einen von Bäumen gesäumten Weg, der zu noch mehr Feldern, noch mehr Nebengebäuden führte.

Diese Plantage war nicht so eindrucksvoll wie das Wainwright-Anwesen oder eines der herrschaftlichen Häuser aus Dublin, die er vor seiner Reise auf der Lady Gallant gesehen hatte. Dennoch war es mehr als alles, was Quinn sich je erträumen würde, sein Eigen nennen zu dürfen.

Wie konnte Connor es nur wagen, in solch einem Luxus zu leben, während seine Brüder in England täglich ums Überleben hatten kämpfen müssen? Allein der Gedanke daran ließ Quinns Blut hochkochen.

Plötzlich ritt Patrick an seine Seite. „Schau dir das an! Ist das nicht klasse? Werden wir dort wohnen?“

Aus den Augenwinkeln betrachtete Quinn seinen kleinen Bruder, der mit weit geöffnetem Mund und glänzenden, großen Augen auf das Anwesen vor ihnen starrte. Tief atmete Quinn ein und ließ den Atem nur langsam wieder entweichen. „Vermutlich. Würde dir das gefallen, Patrick?“

„Darauf kannst du wetten“, erwiderte dieser grinsend.

Quinn wandte sich wieder nach vorne und zeigte auf die Holzhütten zwischen den Bäumen. „Und wenn du in einer dieser Holzhütten dort schlafen müsstest? Vergiss nicht: Auch wenn wir Verwandte aus Irland sind, sind wir vor allen Dingen arm.“

Patrick ächzte: „Ach, Quatsch. Connor würde das doch niemals tun. Immerhin sind wir seine Brüder.“

Jetzt trat eine dunkelhaarige Frau gemeinsam mit einem älteren Herrn auf die Veranda vor dem Haus und zog Quinns Aufmerksamkeit auf sich. Betend hoffte er, dass Patrick mit seiner Vorstellung recht behielt und Connor ihnen das nicht antun würde. Er würde seine Gefühle für Connor beiseitelegen und nur an seine beiden jüngeren Brüder denken. Sie verdienten etwas Besseres als das, was er ihnen in Irland hätte bieten können. Wenn Connor und seine Frau dieses bessere Leben bieten konnten, würde er sich nicht beschweren. Er selbst wäre ohnehin bald auf und davon.

Vor der Veranda hielt die kleine Reisegruppe an. Die junge Frau half dem älteren Herrn die Stufen hinunter. Beim Anblick ihrer feinen, maßgeschneiderten Kleidung wurde Quinn bewusst, wie schmutzig und zerknittert er aussah und wie arm er in Wahrheit war. Nichtsdestotrotz würde die Frau die Verwandten ihres Gatten so akzeptieren müssen, wie sie waren. Vorausgesetzt, sie war tatsächlich Connors Ehefrau. Für Rory und Patrick hoffte er, dass sie einen freundlichen Charakter hatte.

Der ältere Herr hob seinen Kopf und Quinn sog scharf die Luft ein. Das Gesicht des Mannes war durchzogen von weißen und pinken Narben, die auf einer Seite zusammenliefen. Ähnlich entstellte Gesichter kannte Quinn aus Irland, wo Arbeiter den Minenfeuern nur knapp entkommen waren.

Kieras weit geöffnete Augen trafen die seinen. Beruhigend lächelte er sie an.

„Jack, bist du das?“ Unsicheren Fußes trat der Narbenmann die letzte Stufe hinab. Immer noch hielt die junge Frau ihn am Arm.

„Ja, Sir.“

„Willkommen, mein Sohn. Wohin bist du an diesem schönen Morgen unterwegs?“

Als er seinen Blick über die Gruppe der Reisenden gleiten ließ, blieben seine Augen für einen Moment lang auf Quinn ruhen. Der Stallbursche stieg ab und so tat Quinn es ihm gleich. Anschließend half er Kiera von ihrer Stute. Als er sich umwandte, um Amelia zu helfen, stand sie dank Rorys Hilfe schon fest auf beiden Füßen. Megan hatte sich selbstständig gemacht und hüpfte mit flatternden Röcken zu Boden. Dabei verlor sie das Gleichgewicht und plumpste in ein Gewirr von Unterröcken.

Patrick gackerte los, während Megan aufstand und sich den Staub von ihrer Kleidung wischte. Böse funkelte sie ihn an. „Patrick O’Shea …“

„O’Shea? Seid ihr …? Ihr seid Connors Brüder.“ Die dunkelhaarige Schönheit presste ihre freie Hand gegen ihr Mieder. Nachdem sie erst Quinn und dann Rory in Augenschein genommen hatte, blieb ihr Blick an Patrick hängen. „Du bist also Patrick. Ich kann Connor in deinen Gesichtszügen erkennen.“

Fragend hob Patrick den Kopf und sah sie an. Seine Skepsis war nicht zu übersehen. „Ich soll aussehen wie Connor?“

„Ziemlich sogar. Er wird sich so freuen, euch zu sehen.“ Sie schritt auf Quinn zu und lächelte ihn an. „Ich bin Isabella Bartholomew O’Shea, Connors Ehefrau und eure Schwägerin. Herzlich willkommen auf Breeze Hill.“

„Madam.“

Ein Kichern entfuhr ihr. „Nicht so förmlich, bitte. Ich bin Isabella und das ist mein Vater, Matthew Bartholomew.“ Plötzlich runzelte sie die Stirn. „Ich hatte vier Brüder erw…“

„Quinn?“

Quinns Herz blieb stehen und er schloss seine Augen. Seit neun Jahren hatte er diese Stimme nicht mehr gehört. Langsam drehte er sich um und sah seinen Bruder am anderen Ende der Veranda stehen. Sein Hemd war schweißdurchtränkt. Sowohl seine Unterarme als auch die Füße bis hinauf zu den Knöcheln waren bedeckt von weißem Sägemehl.

Rory und Patrick traten näher an Quinn heran. Zusammengedrängt warteten die Brüder, während Connor auf sie zukam. Zwanzig Fuß, dann zehn. Schließlich war er so nahe gekommen, dass Quinn die Kiefermuskeln auf Connors Wangen zucken sehen konnte.

Quinn hob sein Kinn noch ein Stück höher. Warum hatte er dem Statthalter erlaubt, ihre Überfahrt zu bezahlen, wenn er sie doch gar nicht sehen wollte?

Als Connor nur noch fünf Fuß von ihnen entfernt war, entdeckte Quinn plötzlich zwei glitzernde Tränen, die sich aus Connors Augenwinkeln stahlen. Erst jetzt realisierte er, dass Connor keinesfalls aus Missmut seinen Kiefer aufeinanderpresste. Vielmehr versuchte er, seine Gefühle unter Kontrolle zu halten. Dann legten sich Connors schwere, muskulöse Arme um Quinn. Bevor er sich versah, fand Quinn sich in der heftigsten Umarmung wieder, die er bis zu diesem Tag erlebt hatte. Unsicher legte er nun seinerseits die Arme um Connor und tätschelte dessen Rücken leicht. Einen Moment später trat Connor einen Schritt zurück.

„Ihr seid hier. Ihr seid endlich hier.“ Er atmete tief durch, blinzelte und drehte sich dann zu Rory: „Rory?“

Der Junge nickte: „Ja, Sir.“

Während Connor die Hand ausstreckte, konnte er sich ein Grinsen nicht verkneifen. Als Rory die ihm dargebotene Hand packte, zog Connor ihn näher zu sich heran und schlang den anderen Arm um den Jungen. Anschließend hielt er ihn auf Armeslänge von sich fort, um ihn von oben bis unten zu betrachten. „Du bist das Ebenbild von Pa, Gott hab ihn selig.“

Eigentlich hätte Quinn ihm sagen müssen, dass sie Pa niemals erwähnten. Connor war nicht einmal dabei gewesen, als der alte Mann verstarb. Dennoch hielt er den Mund. Es war weder die richtige Zeit noch der richtige Ort, um seinem Bruder mitzuteilen, dass sie niemals über den Tod des Vaters sprachen.

Nun schob Patrick sich nach vorne und kniff die Augen zusammen, als er Connor betrachtete. Dann zeigte er auf dessen Frau: „Sie hat gesagt, dass ich wie du aussehe.“

Mit einem Schwung hob der kräftige Connor den Achtjährigen auf seinen Arm und blickte ihm tief in die grünen Augen. „Und, was sagst du, junger Master O’Shea?“

„Vielleicht.“ Patrick zuckte mit den Schultern. „Aber muss ich dich echt Master Connor nennen? Irgendwie klingt das komisch. Ich habe Quinn oder Rory niemals Master genannt und sie sind doch auch meine Brüder.“

Bei diesen Worten warf Connor den Kopf in den Nacken und lachte laut los. „Connor wird reichen.“

Nun wanderte sein Blick über die restlichen Anwesenden, landete aber letztlich wieder bei Quinn. Sanft ließ er Patrick wieder zu Boden gleiten. Sein Gesicht wirkte plötzlich eingefroren. Von der großen Freude, die er zuvor noch gezeigt hatte, war nicht mehr viel übrig. „Wo … Wo ist Caleb?“

„Vor drei Jahren ist er losgezogen.“ Noch ein unangenehmer Punkt, über den Quinn nicht gerne sprach. Trotzdem zuckte er nur mit den Schultern, so als würde ihm Calebs Abhauen nichts weiter ausmachen. „Er sagte, er wolle die Welt sehen.“

Connor schluckte schwer. Deutlich hüpfte sein Adamsapfel auf und ab, als er diese Neuigkeit aufzunehmen versuchte. Seine Frau Isabella trat näher und legte ihm eine Hand auf den Arm. „Ist er … Ist er tot?“

„Wir haben seitdem nichts mehr von ihm gehört.“

„Ich hatte so gehofft …“ Connor schloss seine Augen.

Einen kurzen Moment später öffnete er sie wieder. Die Trauer stand ihm fast greifbar ins Gesicht geschrieben. Quinn musste sich zurückhalten, um nicht laut loszulachen. Trauer? Trauer darüber, dass Caleb sein Glück auf hoher See hatte finden wollen, obwohl Connor die ganze Familie vor neun Jahren auf ähnliche Weise zurückgelassen hatte?

Die beiden waren aus demselben Holz geschnitzt. Während sie sich nur um sich selbst gekümmert hatten, hatte Quinn sich geopfert, um für seine Eltern zu sorgen. Und nachdem sie gestorben waren, sorgte er weiterhin als Vater und Mutter für seine beiden jüngeren Brüder.

Warum tat Connor so, als würde ihn das alles heute kümmern?

Isabella wandte sich derweil Kiera zu. „Und wen haben wir hier? Vielleicht deine Frau?“

„Nein, Ma’am. Noch bin ich unverheiratet.“ Quinn schnaubte amüsiert und verschluckte sich dabei fast. Leise hüstelnd drehte er sich zu Kiera und ihren Schwestern und bat sie mit einem Wink, nach vorne zu treten. „Das ist Kiera Young und dies hier sind ihre Schwestern, Amelia und Megan.“

„Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Mr und Mrs O’Shea. Master Bartholomew.“ Den Knicks, den sie daraufhin vollführte, zeigte ganz und gar die junge Dame, zu der sie erzogen worden war. Ihre Schwestern machten ebenfalls einen Knicks, auch wenn Megan dabei ein wenig wackelte.

„Young?“ Connor klang, als würde ihm jemand die Luft abschneiden. „Sind Sie zufällig verwandt mit einer gewissen Charlotte Young?“

„Charlotte ist meine Halbschwester.“

„Ach …“

Mit einem Moment war jeder Funken Gastfreundschaft und Wärme verschwunden und machte der Kälte von Connors schwer einzuordnenden Worten Platz.

Das Haus hinter den Magnolienblüten

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