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Kapitel 3

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Kneipen waren Quinn nicht fremd, doch beim Anblick dieser Absteige drehte sich selbst ihm der Magen um. Auch Rory starrte mit aufgerissenen Augen auf das Bild, das sich den vier Männern bot.

Verärgert wünschte sich Quinn, er hätte den Jungen mit Bloomfield gehen lassen. Wie in aller Welt hätte er ahnen können, dass Wainwright sie an solch einen Ort führen würde? Er konnte sich kaum vorstellen, dass Le Bonne Kiera und ihre Schwestern tatsächlich hierher hatte bringen lassen.

Leicht bekleidete Frauen bedienten die Gäste. Reichlich Alkohol wurde ausgeschenkt. Mehr als einen der Männer erkannte er als Matrosen der Lady Gallant wieder. Gleich nachdem sie ihren Lohn erhalten hatten, mussten sie aufgebrochen sein, um ihn wieder auszugeben – für harte Getränke und für Frauen.

„Rory, mein Junge, warte draußen.“ Quinns ernster Ton duldete keine Widerrede. Folgsam wandte Rory sich zur Tür.

Am anderen Ende des Raumes erspähte Quinn Le Bonne. Mit einem leichten Stoß in die Rippen machte er Wainwright auf sich aufmerksam und nickte in Richtung des Franzosen. „Ich werde herausfinden, wo die Mädchen sind.“

Noch bevor er bei Le Bonne angekommen war, zog der Kneipenbesitzer eine Pistole, zielte zur Decke und zog den Abzug. Laut hallte der Schuss durch den Raum. Mit einem Schlag wurde es still.

„Messieurs!“, rief Le Bonne. „Heute Abend wartet eine besondere Überraschung auf Sie.“

Wie schon so oft schnippte er mit den Fingern, woraufhin Claude auf der Galerie oberhalb des Schankraumes erschien. Kiera zerrte er hinter sich her.

Der Anblick trieb Quinn zur Weißglut. Das war nicht die mutige junge Frau, die er am Hafen zurückgelassen hatte. Dem Mädchen, das er dort oben sah, stand das blanke Entsetzen ins Gesicht geschrieben.

Wo waren nur ihre Schwestern? Quinns Blick wanderte über die Galerie, die sich über der linken Seite des Schankraumes befand. Waren sie auch irgendwo dort oben?

Laute Pfiffe ertönten, als Le Bonnes Handlanger Kiera die Treppe hinunterzwang. Auf der letzten Stufe geriet sie ins Stolpern. Als sei sie eine gefühllose Stoffpuppe, riss Claude sie wieder nach oben. Quinns Magen rebellierte, als er sie leise wimmern hörte.

„Auf die Bühne. Bring sie auf die Bühne, damit wir sie sehen können!“

Von allen Seiten begannen die Männer mit ihren blechernen Trinkgefäßen auf den Tisch zu klopfen. Immer schneller wurden sie, bis es in Quinns Ohren zu klingeln begann. Zu dem rhythmischen Getrommel riefen sie unablässig: „Bühne! Bühne! Bühne!“

Kiera schrie auf, als der grobe Riese sie von hinten packte und auf ein Podest stellte, das sich gut einen halben Meter über dem Boden befand.

Eine Hand schlang sich um Quinns Handgelenk, als dieser wutentbrannt losstürmen wollte.

„Nicht jetzt, du Narr“, zischte Wainwright in dem Versuch, Quinn in seinem Feuereifer zu stoppen.

Behände sprang Le Bonne auf das Podest. Hämisch grinsend näherte er sich Kiera und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Daraufhin verschwand der ängstliche Blick aus ihrem Gesicht und sie presste nur noch entschlossen die Lippen aufeinander. Während die Männer wie Tiere jaulten und die junge Frau begafften, starrte sie über ihre Köpfe hinweg in eine unbestimmte Ferne. Tränen stahlen sich links und rechts aus ihren Augenwinkeln und liefen ihre Wangen hinunter. Trotzdem stand sie dort erhobenen Hauptes. Ohne sich zu bewegen, ohne zu schreien, ohne in irgendeiner Weise auf die johlende Menge zu reagieren.

Quinn wusste nicht, was er tun sollte. In ihm regte sich der starke Drang, irgendjemanden zu schlagen. Er wollte sie alle schlagen, ungeachtet dessen, was Mr Wainwright dachte. Bevor Le Bonne seinen grausamen Plan in die Tat umsetzen konnte, musste Quinn dafür sorgen, dass die Bestien vor ihm am Boden lagen und Kiera in Sicherheit war.

Brüsk schob sich ihm Mr Wainwright in den Weg. „Wenn Sie dafür sorgen wollen, dass sowohl Sie als auch diese Mädchen diese Nacht überleben, dann tun Sie gefälligst, was ich Ihnen sage!“, presste er aus zusammengebissenen Zähne hervor. Seine Augen funkelten. Auch Marchette hatte sich vor Quinn geschoben. Die beiden Herren standen Schulter an Schulter und versperrten ihm damit die Sicht auf die Szene, die sich im Raum abspielte.

Das Herz hämmerte in seiner Brust. Trotzdem ließ Quinn sich zu einem kurzen, widerwilligen Nicken hinreißen.

Wild gestikulierend flüsterte Marchette etwas in Wainwrights Ohr. Immer wieder zeigte er auf Kiera. Wainwright nickte kurz und dann sah Quinn einige Münzen aufblitzen, die der alte Mann Marchette zusteckte. Kurz darauf war Marchette im Raum verschwunden und schob sich in Richtung des Podests.

Quinn konnte sich kaum konzentrieren, so sehr wallte das Blut in seinen Adern. Wieder blickte er zu Kiera. Immer noch stand sie unheimlich still, fast schon abwesend auf dem Podest und blickte in die Ferne. Wie ein Angeklagter auf dem Weg zur Hinrichtung, dem jegliche Hoffnung auf Rettung genommen wurde. Und dann dämmerte es Quinn: Kiera opferte sich selbst für ihre Schwestern. Sicher dachte sie, dass sie ihre Schwestern vor Le Bonne schützen könne, wenn sie sich freiwillig zur Verfügung stellte. Doch Quinn wusste es besser. Es würde nicht mehr lange dauern, bis auch Megan und Amelia … Der Gedanke war zu grausam, um ihn in Worte zu fassen.

Vater im Himmel, beende diesen Wahnsinn.

„Wie viel, Le Bonne?“, brüllte jemand aus der Menge.

„Alles zu seiner Zeit, Monsieur.“ Le Bonne grinste. Im trüben Licht des Schankraums glitzerten seine im Schatten liegenden Augen unheimlich.

„Wie ich mir gedacht habe“, flüstere Wainwright. „Er wird das Mädchen dem Höchstbietenden verkaufen. Marchette wird dieser Mann sein. Sobald wir wissen, wo die beiden hingeführt werden, schleichen wir uns nach draußen. Bete dafür, dass Le Bonnes Fenster nicht vergittert sind.“

„Geben Sie mir das Geld“, presste Quinn aus zusammengebissenen Zähnen hervor. Seine Hand lag schon am Schaft seines Messers. Wenn er nur nahe genug an die Bühne, an Le Bonne herankommen könnte … „Ich werde es tun.“

„Unmöglich. Le Bonne hat Sie am Hafen gesehen. Marchette war die logische Wahl.“

Nun packte Le Bonne Kiera an den Haaren und riss ihren Kopf nach hinten. Quinns Hände ballten sich zu Fäusten. „Die kleine Mademoiselle kommt direkt vom Schiff. Frische Ware, sage ich da nur!“

„Aus Frankreich?“

„Unglücklicherweise nicht. Mein kleines Mädchen ist eine wunderschöne irische Rose, finden Sie nicht?“

„Irisch haben Sie gesagt?“ Abscheu mischte sich in die Stimme. „Bah, was will ich denn mit einem irischen Weib?“

Schulterzuckend wandte sich Le Bonne von seinem Gesprächspartner ab: „Ich bin mir sicher, dass nicht jeder Ihre Meinung teilt, Monsieur.“

„Zeigen Sie uns ein bisschen was von der Ware, Le Bonne!“

Die hungrige Meute johlte. Unbeteiligt beobachtete der Bordellbesitzer die Menge, was die Spannung im Raum genauso erhöhte wie das ausstehende Angebot für die erste Nacht mit Kiera.

Mit einem Fingerschnipsen bedeutete Le Bonne Claude näher zu treten. Mit ihm standen auch die Gäste auf und drängten sich um das Podium, offensichtlich getrieben von ihrer Lust. Der Riese griff nach Kieras Mieder. Nach Luft schnappend sprang sie zur Seite. „Bitte. Nein.“ Angsterfüllt weiteten sich ihre Augen.

In die erregte Stille mischte sich das Geräusch von Münzen, die auf das hölzerne Podest prasselten.

„Das Privileg ihres Anblicks sollte nicht an Männer verschwendet werden, die nicht zahlen können oder wollen.“ Eine Stimme schnitt durch den Tumult im Raum.

Marchette.

Erst blickte Le Bonne auf die Münzen vor ihm am Boden, dann auf Marchette. Der eindrucksvolle Aufritt des Mannes schien ihm sichtlich zu gefallen. Quinn hielt die Luft an. Ein Lächeln – wenn man es denn so nennen konnte – umspielte Le Bonnes Lippen und er wandte sich an die Menge. „Gentlemen?“

Niemand erhöhte das Angebot und so nickte er. „Sie gehört Ihnen, Monsieur. Für heute Nacht.“

Claude scheuchte Kiera vom Podest und schob sie in Richtung der Treppen. Erneut stolperte sie kurz, doch kam sie diesmal allein wieder auf die Füße. Ohne nach rechts oder links zu schauen, folgte Marchette den beiden. Da ihr Spaß ein Ende gefunden hatte, wandten sich die restlichen Gäste wieder ihren Getränken zu. Nur Quinn stand immer noch angespannt wie ein Raubtier in der Ecke des Raumes und beobachtete Kiera, die über die Galerie am oberen Ende der Treppe geführt wurde.

Als ihm jemand auf die Schulter tippte, drehte er sich um und blickte in Wainwrights Gesicht. Der zog eine Grimasse und packte Quinn am Kragen. „Entschuldigen Sie, aber ich muss das jetzt tun …“

Dann holte er aus und schlug Quinn mit der Faust ins Gesicht.


Kiera saß zusammengekauert in einer Ecke des kleinen Raumes und versuchte, sich so klein wie möglich zu machen. Den Rücken zu ihr gedreht stand der breitschultrige Mann an der Tür.

Vergeblich versuchte Kiera den Kloß loszuwerden, der sich in ihrem Hals festgesetzt hatte. Flehend betete sie im Stillen: Bitte, Jesus. Hilf mir. Bitte…

Den Schritten nach zu urteilen kam er jetzt auf sie zu. Ein Schritt. Noch einer. Fest presste sie die Augen zusammen, obwohl sie wusste, dass sie der Situation so nicht entkommen konnte. Ihre stillen Gebete wandelten sich in kaum hörbare Bitten. Zwischen ihren tauben und eiskalten Lippen presste sie hervor: „Bitte, Sir. Haben Sie Erbarmen.“

Der Mann blieb stehen. „Miss Young, Sie brauchen sich nicht zu fürchten. Ich bin Alistair Marchette. Wir haben uns bereits auf der Lady Gallant kennengelernt und heute Nachmittag in Mr Bloomfields Büro getroffen. Erinnern Sie sich?“

„Mr … Mr Marchette?“ Kieras Stimme glich mehr einem Schluchzer, als sie seinen Namen aussprach. Langsam richtete sie ihre Augen auf den vor ihr stehenden Mann und betrachtete ihn genau. Eine Welle der Erleichterung überkam sie. In ihrer Not hatte sie nicht auf die Person geachtet, die das Geld auf das Podest geworfen hatte. Selbst wenn, hätte sie ihn in ihrem Schock wahrscheinlich nicht wiedererkannt. „Wie? Warum?“

„Machen Sie sich darum keine Sorgen. Wir haben nicht viel Zeit.“ Marchette blickte sich im Raum um und zeigte dann auf die Koffer, die an der Wand angelehnt standen. „Sind das Ihre?“

„Ja.“

Er griff nach einem Kissenbezug und warf es ihr mit den Worten zu: „Packen Sie, so viel es geht, von Ihren Sachen hinein. Beeilen Sie sich.“

Von unten ertönten Schreie und das Geräusch von berstendem Glas und Holz. Eilig machte sie sich ans Werk. „Was geht dort unten vor sich?“

„Wainwright und O’Shea veranstalten ein Ablenkungsmanöver.“ Die Hand auf der Türklinke wandte er sich Kiera zu und zog eine Augenbraue nach oben. „Fertig?“

„Ja. Was ist mit meinen Schwestern?“

„Wo sind sie?“

„Ich …“ Die Geschehnisse der letzten Stunde wirbelten in ihrem Kopf umher. Kiera schloss kurz die Augen. „Den Gang hinunter. Im Eckzimmer.“

„Gut gemacht. Halten Sie sich dicht an der Wand und bleiben Sie außerhalb der Sichtweite von unten.“

Leise quietschend öffnete Marchette die Tür und lief gebückt über die Galerie zum hinteren Teil der Kneipe. Kiera folgte. Als sie das Eckzimmer erreichten, lehnte sie sich gegen die Wand und schloss die Augen. Alles drehte sich, ihr Herz pochte laut. Ein Seil hielt die Klinke an Ort und Stelle und Marchette machte sich sogleich daran, den Knoten zu lösen.

Währenddessen nickte er mit dem Kopf in Richtung der rückseitigen Treppen und murmelte, immer noch mit Blick auf das verknotete Seil: „Wir werden diesen Weg nehmen. Verstanden?“

„Ja“, krächzte Kiera leise.

Im Schankraum schien die Schlägerei zu eskalieren. Von hier oben konnte Kiera nur die eine Ecke des Raumes einsehen. Das Durcheinander war groß: Männer prügelten aufeinander ein; Frauen kreischten. Kiera schlug die Hände vor den Mund, um nicht aufzuschreien, als ein Stuhl auf dem Kopf eines Mannes zersplittert wurde. Die Tür schwang auf und Kiera taumelte in das Zimmer. Sofort wurde sie von ihren schluchzenden und wimmernden Schwestern bestürmt. Wie gerne hätte sie Megan und Amelia getröstet, doch dafür hatten sie jetzt keine Zeit.

„Zur Treppe. Schnell.“ Mr Marchette schob sie aus dem Zimmer. Kurz bevor sie die Treppe erreichten, wandte Kiera sich noch einmal um. Am anderen Ende der Galerie erblickte sie Claude und Le Bonne, die mit wutverzerrten Gesichtern auf sie zustürmten.

Ein Schuss ertönte und Kiera schrie auf. Auf Marchettes Schulter erschien ein karmesinroter Fleck, der sich rasch ausbreitete. Schnell griff er selbst nach seiner Pistole und drängte Kiera weiterzugehen: „Geht! Ich werde sie aufhalten.“

Wie ihr geheißen wurde, rannte sie weiter. Mit aller Kraft riss sie die Tür auf, die ihr die ersehnte Freiheit versprach. Kiera taumelte nach draußen und prallte gegen eine harte Brust.

„Gott sei Dank!“

Nichts hatte jemals so gut geklungen wie in diesem Moment Quinns sanfte, irische Stimme.

„Wo haben Sie Marchette gelassen?“ Wainwright drängte Amelia und Megan in Richtung Rory.

„Er ist noch drinnen. Man hat ihn angeschossen und …“

Im selben Moment taumelte Mr Marchette aus der Tür und ließ sie hinter sich ins Schloss fallen.

„Quinn, Rory, bringt die Mädchen zur Kutsche und wartet dort auf uns“, befahl Mr Wainwright und zog ebenfalls seine Pistole, während Mr Marchette die seine nachlud.

„Aber …“

„Tun Sie, was ich sage, Mann. Wir werden direkt hinter Ihnen sein.“

Quinn hob Megan hoch, nahm sie in seine Arme und begann zu laufen. Hinter ihm folgten Kiera und Amelia Hand in Hand, die Nachhut bildete Rory. Ohne ein Wort zu sagen führte Quinn sie durch dunkle Gassen und verwinkelte Straßen. Bald tauchte vor ihnen eine Kutsche auf, deren Pferde von einem ängstlich dreinblickenden Jungen gehalten wurden. Mit einem Ruck öffnete Quinn die Tür. „Schnell, rein mit euch, bevor uns jemand sieht.“

„Was ist mit Mr Marchette und Mr Wainwright?“

„Sie sind direkt hinter uns …“ Quinn brach ab, als er Mr Wainwright auf sich zukommen sah.

„Rein mit Ihnen. Wir müssen aufbrechen. Schnell, Jack.“

In Windeseile sprang der Stallbursche auf den Kutschbock und trieb die Tiere an, noch bevor Mr Wainwright Platz genommen hatte.

Kiera war irgendwie auf dem Platz zwischen Megan und Quinn gelandet. Gegenüber saßen Mr Wainwright, Rory und Amelia.

„Mr Marchette?“ Kieras Stimme klang schrill.

„Wir wurden getrennt. Beten Sie für einen sicheren Ort, an dem er bleiben kann, bis ich zurückkehren kann.“


Als Kiera Stunden später im Anwesen der Wainwrights saß, das hoch oben auf dem Felsufer des Mississippi thronte, fühlte sie sich nicht im Geringsten sicher und geborgen. Erschrocken sprang sie auf, als im Feuer krachend ein Holzscheit in sich zusammenfiel. Automatisch warf sie einen Blick zu Amelia und Megan hinüber, die endlich – eng umschlungen – in tiefen Schlaf gefallen waren. Energisch hatten sie sich geweigert, von Kieras Seite zu weichen, selbst als sogar Patrick dem Butler erlaubt hatte, ihm sein Schlafzimmer zu zeigen.

Keine der beiden bewegte sich und so wanderte Kieras Blick wieder zurück zum Fenster. Warum brauchen sie so lange? Quinn, Rory und Mr Wainwright hatten sich vor Stunden auf den Weg gemacht, um Mr Marchette zu suchen. Hoffentlich …

Kieras Herz schlug bis zum Hals. Mit jeder Stunde, die verging, wuchs auch ihre Sorge. Im Hintergrund hörte sie die Stimme der Haushälterin, die andächtig die Seiten der großen Bibel des Hauses umschlug und mit sanfter Stimme abwechselnd daraus vorlas und betete. Trotz ihrer warmen Stimme war es für Kiera nicht zu überhören, dass in ihren Bitten und an den Stellen, die sie aus den Psalmen vorlas, die Verzweiflung mitschwang.

„Mein Gott, hilf mir aus der Hand der Gottlosen, aus der Hand des Ungerechten und Tyrannen.“

Bei den Worten schob sich ein Bild von Pierre Le Bonne in Kieras Gedanken. Wenn sie jemanden kannte, der ungerecht und tyrannisch war, dann ihn. Ein Schauder lief ihr über den Rücken und sie schlang fest die Arme um sich. Ihr Herz schien vor Dankbarkeit zu bersten, dass Megan, Amelia und sie selbst aus den Händen dieses Mannes gerettet worden waren. Aber zu welchem Preis? Zum Preis des Lebens der Männer, die sie gerettet hatten?

Bitte, Herr. Bitte nicht!

Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Kiera wollte nichts mehr, als auf ihre Knie zu fallen und Gott für seine Gnade und Barmherzigkeit danken, während ihre Seele gleichzeitig immer wieder rief: Warum?

Solche Zwiespälte kannte Kiera schon von früher. Bei der Geburt ihres Bruders, der der lang ersehnte Erbe des Vaters gewesen wäre, waren sowohl ihre Mutter als auch das Kind gestorben. Während Kiera sich einerseits in Verzweiflung aufzulösen drohte, wusste sie sich auf der anderen Seite von ihren Schwestern, ihrem Vater und ja, auch von Gott gehalten, der ihre sichere Zuflucht war.

Aber dann starb ihr Vater unerwartet – nicht einmal zwei Jahre später. Seitdem schien sich ihr Leben immer und immer mehr aufzulösen. Kiera hatte schon früh geahnt, dass Charlotte und George den Familienbesitz in Irland verkaufen und ihr damit die einzige Heimat nehmen würden, die sie bis dahin gehabt hatte. Unablässig hoffte sie, dass die beiden für immer in London bleiben und das kleine bisschen Land in Irland vergessen würden, auf dem die drei Schwestern noch lebten.

Die Wahrheit über das, was George mit ihnen getan hatte, schockierte sie mehr, als dass sie es verstand. Selbst in ihren schlimmsten Albträumen hätte sie sich nicht vorstellen können, dass jemand zu solchen Grausamkeiten fähig wäre. Und dennoch war Georges Werk nur ein Tropfen auf dem heißen Stein, verglichen mit dem, was Le Bonne mit ihnen vorgehabt hatte.

Mrs Butler klopfte leicht auf den Platz neben ihr. „Komm her, mein Kind. Setz dich ein wenig zu mir. Selbst die größte Sorge wird nichts bewirken; darum sei getrost. Die Männer werden zur richtigen Zeit zurückkehren.“

Beschämt merkte Kiera, dass sie sich die ganze Zeit nur um sich selbst gesorgt hatte, während Quinn und die anderen todesmutig die Straßen durchkämmten. Sie verließ ihren Wachposten zugunsten des weichen Platzes an der Seite von Mrs Butler. Trotzdem war sie zu angespannt, als dass sie sich hätte beruhigen können.

Ungeduldig verschränkte sie die Hände in ihrem Schoß und drehte Däumchen. Ohne Absicht wanderte ihre Aufmerksamkeit wieder zurück zum Fenster. „Wie können Sie sich da nur so sicher sein?“

Ein abwesendes Lächeln umspielte die Mundwinkel der alternden Haushälterin. „Weil ich glaube. Und Gott vertraue. Nichts anderes hält uns in schweren Zeiten.“

Plötzlich vernahmen die beiden Frauen das Wiehern eines Pferdes. Kiera sprang auf und lief hinaus zu den Ställen, dicht gefolgt von der Haushälterin. Alle Hoffnung sank, als Kiera merkte, dass Mr Marchette nicht unter den Männern war, die gerade heimgekehrt waren.

„Sie … Sie haben ihn nicht gefunden?“

Angst durchflutete sie, als Quinn den Kopf schüttelte.

Was war dem Mann – nicht viel mehr als ein Fremder – geschehen, als er sein Leben für sie aufs Spiel gesetzt hatte?

Das Haus hinter den Magnolienblüten

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