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2 Die Arbeitsschritte der Texterschließung

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Mit dieser begrifflichen Festlegung der Operatoren gehen zwingende Konsequenzen in Bezug auf die Bearbeitungsmethode einher. Denn wer versteht, dass die Analyse eine Unterscheidung und die Interpretation eine an diese Unterscheidung anknüpfende weitere Untersuchung ist, der versteht auch, dass die Analyse der Interpretation gedanklich stets vorausgehen muss: Die Analyse ist Anfang und Ende der Interpretation.

Denn erstens kann nicht interpretiert werden, was nicht analysiert wurde.

Ein Beispiel: Wenn E nicht erkennt, dass S seine Aussage ironisch verschlüsselt, wird E den Sinn der von S gesendeten Botschaft nicht entdecken. Denken Sie an einen Promotionsstudenten, der sich anlässlich seiner erfolgreichen Doktorarbeit den lang gehegten Wunsch nach einer wertvollen Armbanduhr erfüllen möchte. Als er sich für ein besonders edles Schweizer Modell entschieden hat, fragt ihn der Juwelier, der in einer solchen Uhr nicht bloß ein Accessoire, sondern eine Geldanlage sieht und um die begrenzte Stückzahl des Modells weiß, ob der Student mehrere Exemplare erwerben möchte. Der von dieser Frage völlig überraschte Student entgegnet spontan: „Natürlich! Wieso nicht gleich drei?“ Er meint das nicht ernst, ist der Meinung, auf einen Scherz des Juweliers zu erwidern, und will in Wirklichkeit nur eine Uhr kaufen. Das wird unter den gegebenen Umständen das Ergebnis der Interpretation sein. Die gegebenen Umstände, aus denen dies folgt (z.B. der Tonfall des Studenten beim Antworten und sein verdutztes Gesicht, als der Juwelier ihm die Frage stellt), sind in der Analyse zu erarbeiten. Sind dem Juwelier diese Umstände unbekannt, etwa weil das Geschäft per E-Mail abgeschlossen wird, wird er die Antwort vielleicht anders interpretieren.

Zweitens kann die Interpretation über den von der Analyse gesetzten Rahmen nicht hinausgehen, ohne zu einer nicht mehr nachvollziehbaren (Über-)Interpretation zu werden. Das Ergebnis der Interpretation darf sich von dem zugrunde liegenden Text nicht so weit entfernen, dass es in diesem keinen Anhaltspunkt mehr findet. Was nämlich keine Aussage des Textes mehr ist, kann nur eine solche des Bearbeiters sein, die zwar im Rahmen einer Stellungnahme zum Text – ggf. also im Anschluss an die Interpretation –, nicht aber bei einer Interpretation des Textes zu verorten ist. Hier hat eine kritische Auseinandersetzung mit der Kernaussage des Textes zu unterbleiben.

Umgekehrt sollte möglichst kein Analyseergebnis im Rahmen der Interpretation unberücksichtigt bleiben, denn eine Interpretation, die nicht alle relevanten Aspekte des Textes beachtet, kann kaum den Anspruch für sich erheben, auf einer sicheren Grundlage zu stehen.

Daher ließe sich durchaus vertreten, das Ergebnis der Texterschließung zweigliedrig zu erarbeiten und darzustellen, nämlich in einem Analyse- und einem davon getrennten Interpretationsteil. Die Analyse beschäftigt sich mit der Ermittlung der formalen, inhaltlichen und sprachlichen Aspekte und Besonderheiten des Textes, wobei jedwede Deutung der auf diese Weise gewonnenen Ergebnisse erst bei der späteren Interpretation erfolgt.

Die Aussage „Dieser Vergleich zeigt, dass …“ schießt im ersten Teil über das Ergebnis hinaus, während die bloße Feststellung, dass sich in einem bestimmten Satz ein bestimmter Vergleich befinde, im zweiten Teil unzureichend ist, sofern ihr keine Einordnung dieses stilistischen Mittels in den interpretatorischen Kontext folgt.

Diese strenge Aufspaltung der Bearbeitung in zwei Teile mag zunächst befremdlich erscheinen, kann doch ein Text nur in der Zusammenschau von formalen, inhaltlichen und sprachlichen Besonderheiten und ihrer jeweiligen Bedeutung im Zusammenhang erschlossen werden, weshalb es auf den ersten Blick wohl sinnvoll wäre, die Ergebnisse der Analyse sogleich einer interpretatorischen Deutung zu unterziehen.

Zugegeben: Die Ermittlung von Tatsachen kann mitunter sogar eine Deutung voraussetzen. So kann etwa ein Pars pro toto als stilistisches Mittel nur festgestellt werden, wenn sicher ist, dass mit dem Teil das Ganze in Bezug genommen wird. Die meisten Stilmittel – etwa die Aufzählung, die Metapher, die Personifikation, der Vergleich, das Oxymoron, der Pleonasmus, die Tautologie, die Anapher und die Epipher – setzen eine solche Vordeutung indes nicht voraus. Es gilt hier vielmehr: Die Ausnahme bestätigt die Regel.

Auch zugegeben: Es besteht die Gefahr der Wiederholung, wenn die Tatsachen zunächst ermittelt und sodann erst gedeutet werden. Dies aber ist eine Frage des Bearbeitungsstils, die keinen Einfluss auf solche des Aufbaus haben sollte. Der Aufbau dient allein dem Zweck, die Ergebnisse des Bearbeiters nachvollziehbar darzustellen, und ist folglich vielmehr einer gedanklichen Strukturierung als einem stilistischen Empfinden verschrieben. Dennoch: Da die Bearbeitung selbst nicht nur logisch strukturiert, sondern, falls sie schriftlich erfolgt, auch elegant formuliert sein soll, werde ich an gegebener Stelle praktische Formulierungsbeispiele aufzeigen, mit deren Hilfe sich Wiederholungen vermeiden lassen.

Letztlich zugegeben: Die Analysetätigkeit ist kein Selbstzweck. Die Trennung von Analyse und Interpretation unterstellt dies aber auch nicht. Die Analyse liefert nicht nur dem Leser, sondern vor allem auch dem Bearbeiter ein solides Fundament, auf das er seine spätere Arbeit stützen kann. Sie ermöglicht eine klare Trennung zwischen Form, Inhalt und Sprache und eine geordnete Darstellung der Ergebnisse der Interpretation. Denn wer schon im ersten Schritt im Rahmen der Formanalyse zu interpretieren beginnt, müsste der Vollständigkeit halber auch alle diejenigen inhaltlichen und sprachlichen Merkmale erwähnen, die das Ergebnis eben dieser Deutung stützen. Damit aber würde die Darstellung der einzelnen Analyseergebnisse aufgespalten, wenngleich es doch ratsam erscheint, alle formalen Merkmale, alle sprachlichen Besonderheiten und den Inhalt in drei jeweils geschlossenen Teilen herauszuarbeiten.

Jedenfalls im Rahmen der gedanklichen Vorarbeit sollte der Bearbeiter daher zwischen Analyse und Interpretation strikt trennen, nicht zuletzt deshalb, weil er überhaupt erst dann interpretieren kann, wenn das Ergebnis der Analyse, genauer: eine Codierung B vorliegt.

Im Rahmen dieses Buches wird daher die Analyse der Interpretation vorangestellt. Das folgende Schaubild gibt Ihnen nun einen Überblick über die einzelnen Arbeitsschritte, die Sie zum Zwecke der Texterschließung nacheinander gehen müssen und die daher auch den Aufbau dieses Buches bestimmen.

Abb. 2:

Arbeitsschritte der Texterschließung

Analysieren, Interpretieren, Argumentieren

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