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1 Warum muss ich analysieren und interpretieren?

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Manch ein Schüler mag sich die Frage stellen, welchem Zweck es dient, Goethes Faust zu interpretieren. Man mag ihm antworten, dass er den Sinn seiner im Deutschunterricht erworbenen Fähigkeiten möglicherweise erst zu einem viel späteren Zeitpunkt erkennen, dann aber feststellen wird, dass nicht nur die Werbung, sondern auch die Politik von der Kraft der Rhetorik lebt, und dass Menschen von Zeit zu Zeit zweideutige Botschaften versenden und etwa das lieb klingende Kompliment des Kollegen in Wahrheit einem hinterrücks gestochenen Dolch ähnelt.

Sie als (angehender) Textwissenschaftler haben bereits erkannt oder werden bald erkennen, wieso Sie die Fähigkeit besitzen müssen, zu analysieren und zu interpretieren. Nach meinem Begründungsversuch im Vorwort will ich Ihnen nun ein ausführliches Beispiel geben.

Stellen Sie sich einen Deutschen und einen Engländer vor, die sich in Italien über den Kauf eines Hauses zu einem Kaufpreis von 250.000 Dollar einigen. Da der Käufer den Kauf im Nachhinein bereut, zahlt er den Kaufpreis nicht und behauptet, der Kaufvertrag sei ohnehin nie zustande gekommen, weil man sich in Wahrheit über einen Kaufpreis gar nicht geeinigt habe. Der in der Sache tätige Richter hat nun nicht nur die Frage zu klären, welche Voraussetzungen das Recht an das Zustandekommen eines Kaufvertrages stellt, sondern muss auch beurteilen, ob diese im vorliegenden Fall erfüllt sind. Er hat also nicht nur das Gesetz auszulegen, sondern auch zu beurteilen, ob sich die Parteien auf einen Kaufpreis geeinigt haben, was hier deshalb fraglich ist, weil sich der Kaufpreis nicht explizit entweder auf kanadische oder auf US-Dollar bezieht. Das Gesetz sagt bloß, dass ein Kaufvertrag durch Angebot und Annahme zustande kommt, wenn sich die Parteien auf den Kaufpreis geeinigt haben. Aber wie präzise müssen sich die Parteien geeinigt haben? Und lässt sich hier möglicherweise zumindest den Umständen entnehmen, welche der beiden Währungen gemeint ist? Je nach dem Ergebnis der richterlichen Interpretation hat der Käufer am Ende entweder gar nichts (wenn der Kaufvertrag mangels eindeutiger Einigung nicht zustande gekommen ist) oder aber 250.000 Dollar in einer der beiden Währungen zu zahlen, wobei der Wertunterschied der Währungen durchaus erheblich ins Gewicht fallen würde. Macht der Richter dabei einen Fehler, wird sein Urteil angreifbar. Er sollte also analysieren und interpretieren können.

Bei genauer Betrachtung kann man die Frage, wieso man einen Text erschließen muss, aber noch anders verstehen. Denn mit dem Hinweis darauf, dass es im privaten Alltag ebenso wie im Berufsalltag eine wichtige Rolle spielt, fremde Aussagen zu verstehen, ist noch nicht erklärt, wieso es für dieses Verständnis einer besonderen Technik, namentlich der Analyse und Interpretation bedarf. Ich möchte daher, bevor wir in die Einzelheiten der Technik einsteigen, die grundsätzliche – und bisher vielleicht noch nicht hinreichend von Ihnen beachtete – Frage stellen, wieso man Sprache überhaupt erschließen muss, um sie zu verstehen.

Um diese Frage beantworten zu können, muss man zunächst wissen, was SpracheSprache ist und wie sie funktioniert. Definieren wir also:

Sprache ist ein soziokulturelles und die sprachliche Kommunikation ein in erster Linie menschliches Phänomen, das – in seiner sozialen Dimension, d.h. fernab des Monologs – zwischen zwei natürlichen Personen stattfindet.

In Anlehnung an den Soziologen Niklas Luhmann könnte man diese beiden Alter und Ego nennen1, fügt man ihre jeweilige Funktion hinzu, vom SenderSender und EmpfängerEmpfänger sprechen. Der Sender übermittelt eine bestimmte Botschaft, die der andere empfängt. So einfach, so gut.

Niklas Luhmann (geboren am 8. Dezember 1927 in Lüneburg, gestorben am 6. November 1998 in Oerlinghausen), von Haus aus Rechtswissenschaftler, war an der Universität Bielefeld Professor der ersten soziologischen Fakultät im deutschsprachigen Raum. Er ist einer der bedeutendsten Vertreter der Systemtheorie.

Genau dieser Übermittlungsvorgang ist nun aber das Problem. Denn das, was der Sender übermitteln will, nämlich die Vorstellung, etwa dass der Empfänger zum Fenster geht und dieses öffnet, kann er auf direktem Wege nicht übermitteln. Wir können von Gehirn zu Gehirn keine Bilder versenden, sondern müssen die außersprachliche Wirklichkeit mittels Sprache in einen Code übersetzen. Erst wenn der Empfänger diesen Code versteht, die vom Sender gewählten „sprachlichen Zeichensprachliches Zeichen also entschlüsselt, erkennt er die gedankliche Vorstellung des Senders.

Abb. 1:

Kommunikationsmodell

Betrachtet man nun dieses „sprachliche Zeichen“, so empfiehlt sich in Anlehnung an den Linguisten Ferdinand de Saussure die Unterteilung in das Bezeichnete (SignifikatSignifikat, signifié), also das Bild, auf das sich das sprachliche Zeichen bezieht, und das Bezeichnende (SignifikantSignifikant, signifiant), mithin die Aneinanderreihung bestimmter Lexeme und Laute zur Bildung der sprachlichen Bezeichnung.2 Damit die verständige sprachliche Kommunikation zwischen zwei Menschen funktioniert, der Empfänger also durch Entschlüsselung des Codes die Vorstellung des Senders erkennt, muss die Verknüpfung zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem einer Regel folgen. Sie muss sich auf eine sprachliche Konvention beziehen, die festlegt, dass etwa die geordnete Aneinanderreihung der Buchstaben F-E-N-S-T-E-R in ihrer optischen und akustischen Komponente zur sprachlichen Verschlüsselung dessen dient, was der Sender als Bild übermitteln will. Nur wenn sich Sender und Empfänger bei der Codierung und Decodierung auf dieselbe Konvention beziehen, erfährt der Empfänger durch die Entschlüsselung des sprachlichen Zeichens den Verweis auf das vom Sender in Bezug genommene Bild der außersprachlichen (tatsächlichen) Wirklichkeit.

Ferdinand de Saussure (geboren am 26. November 1857 in Genf, gestorben am 22. Februar 1913 im Kanton Waadt) war Inhaber des Lehrstuhls für vergleichende Sprachwissenschaft an der Universität Genf. Mit seiner Auffassung von Sprache als Zeichensystem gilt er als Begründer der modernen Linguistik.

Am Ende sind wir damit allerdings nicht. Denn wenn dieses Modell den Kommunikationsprozess tatsächlich abschließend darstellt, dann muss aus ihm doch auch hervorgehen, wieso der Empfänger die Aufgabe hat, die Botschaft des Senders einer Analyse und Interpretation zu unterziehen. Man muss diese beiden Operatoren in dem Modell selbst „verorten“ können. Und das gelingt: Unterstellt man, dass jeder Sender verstanden werden will – und bitte gehen Sie immer davon aus! –, so steht es dem einzelnen Sender dennoch frei, inwieweit er die Codierung des sprachlichen Zeichens von der allgemein zugrunde liegenden Konvention einer gemeinsamen Sprache entfernt, solange er ein Mindestmaß an Verständlichkeit wahrt. Innerhalb eines begrenzten Spektrums ergeben sich für ihn also zwei Möglichkeiten:

Er kann dem Empfänger zunächst klipp und klar sagen, was gemeint ist, ihn also deutlich auffordern, bitte zum Fenster zu gehen und dieses zu öffnen. Diese sachliche, neutrale Codierung möchte ich fortan mit dem Buchstaben A bezeichnen. Der Sender muss es dem Empfänger aber keinesfalls so einfach machen und kann etwa nur seufzend preisgeben, wie warm es doch heute in diesem Zimmer sei – selbstverständlich in der Hoffnung, der Empfänger werde den Wink verstehen und sich auch in diesem Fall zur Öffnung des Fensters veranlasst sehen. Diese Art der Codierung will ich kreative, offene Codierung B nennen. Während der Empfänger im ersten Fall mit der Entschlüsselung des Codes die Vorstellung des Senders unmittelbar erkennt, muss er die Aussage des Senders im zweiten Fall auslegen, also entscheiden, ob der Sender die vorhandene Wärme bloß feststellen oder aber darüber hinaus noch eine Bitte äußern wollte. Die verständige Entschlüsselungstätigkeit des Empfängers ist daher maßgeblich von der Art und Weise bedingt, mit der der Sender codiert.

Damit lässt sich für die beiden Operatoren behaupten:

Analysieren heißt die Entdeckung der Art und Weise der Codierung, d.h. die Unterscheidung von „A“ und „B“. In diesem Sinne ist die Analyse eine Bestandsaufnahme, eine Tatsachenermittlung, die ausschließlich der Beantwortung der Frage dient, mit welchen sprachlichen (sowie formalen und inhaltlichen) Mitteln der Sender seine Botschaft codiert.

Interpretieren heißt dagegen die verständige Entschlüsselung eines sprachlichen Zeichens, das der Codierung B unterliegt.

Dabei sollte indes nicht der Eindruck erweckt werden, interpretieren bedeute stets die Ergründung der wahren Aussageabsicht des Senders. Dies ist ein möglicher, keinesfalls aber ein zwingender und noch weniger ein hinreichender Aspekt der Interpretation. In Anlehnung an den Rechtswissenschaftler Gustav Radbruch könnte man das geschriebene Wort mit einem Schiff vergleichen, das „bei der Ausfahrt vom Lotsen auf vorgeschriebenem Wege durch die Hafengewässer gesteuert wird, dann aber unter Führung des Kapitäns auf freier See den eigenen Kurs sucht“.3

Gustav Radbruch (geboren am 21. November 1878 in Lübeck, gestorben am 23. November 1949 in Heidelberg) war Reichsminister der Justiz in der Weimarer Republik und außerordentlicher Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Heidelberg. Er war einer der prägendsten Rechtsphilosophen seiner Zeit, dessen Werke internationalen Ruhm erlangten.

Lieber Empfänger, Sie sind der Kapitän! Denn das Verstehen eines Textes ist nicht autoren-, sondern vielmehr adressatengebunden. Zwar ließe sich behaupten, ein Text könne nur unter Bezugnahme auf seine Entstehungsgeschichte, die biographischen Hintergründe des Autors und im Kontext der übrigen Werke seines Verfassers „richtig“ verstanden werden. Dann aber müsste man davon ausgehen, dass es die Aufgabe des Lesers sei, gerade nur den Urheber der Botschaft, nicht aber die Botschaft an sich zu verstehen. Möglicherweise wird aber der Autor selbst nach der Absendung unter anderen gegebenen Umständen, vor einem anderen Erfahrungshorizont, in einer anderen zeitlichen und räumlichen Situation das Geschriebene in einer anderen Weise empfangen und verstehen, als dies zum Zeitpunkt bei oder unmittelbar nach der Absendung der Fall gewesen ist. Der Sender wird in dieser Weise gewissermaßen zum Empfänger seiner eigenen Botschaft. Niklas Luhmann lässt dieses Phänomen unbeachtet, weil er Kommunikation stets nur als soziale Operation, also als solche zwischen zwei unterschiedlichen Individuen definiert. Gerade die Absender- und Empfängergleichheit, das Zusammentreffen von Alter und Ego in einer Person zeigt indes die Deutungsoffenheit von Kunst.

Und wenn der Urheber die Bedeutung seiner Worte nicht abschließend determinieren und sich daher selbst zu einem späteren Zeitpunkt anders verstehen kann, so wäre es irrsinnig, alle Nichturheber an die ursprüngliche Aussageabsicht zu binden. Der Leser kann daher einen Text anders verstehen, als dies der Autor beabsichtigte, ohne dass seine Interpretation dadurch fehlerhaft würde, gerade auch weil der Autor zum Zeitpunkt der Absendung die Reichweite seiner Botschaft mitnichten zu überblicken vermag. Die Interpretation ist nur an das sprachliche Zeichen und die Konvention, nicht aber auch an den Sender gebunden.

Damit wird auch deutlich, dass das Abweichen von dem sicheren Bereich einer gemeinsamen sprachlichen Konvention keineswegs ein bewusster und gewollter Schaffensprozess des Senders sein muss. Es geschieht vielmehr unbewusst und ist regelmäßig notwendig, weil der sichere Bereich der Konvention keineswegs so sicher ist, wie es scheint. Unsere alltägliche Sprache ist in erheblichem Maße ungenau. So kann die einfache Bekundung des Nichtwollens sowohl bedeuten, dass der Sender etwas nicht tun wird, als auch, dass er es nur widerwillig tut. Und was mit einer Sache gemeint ist, hängt davon ab, ob ich sie bei mir führe oder etwas zu ihr beitrage. Das liegt daran, dass wir uns im täglichen Umgang keiner exakten Wissenschaftssprache bedienen, die die Bedeutung eines Begriffes eindeutig definiert. Bezieht man den zeitlichen Aspekt mit ein, so kommt hinzu, dass Begriffe dem BedeutungswandelBedeutungswandel unterliegen und in Abhängigkeit von äußeren Einflüssen ggf. eine unterschiedliche Resonanz erfahren. War die Bezeichnung „Fräulein“ vor wenigen Jahrzehnten noch eine geläufige Anredeform, erreicht sie heute fast schon die Qualität einer Beleidigung. Auf Grund dieser Ungenauigkeit wird die Umgangssprache nicht zur Kunst, sie zeigt aber, dass diese Sprache mitunter nicht weniger deutungsoffen ist. Daher bleibt festzuhalten: Nicht nur literarische Texte, die gemeinhin als künstlerisch gelten, sondern nahezu alle sprachlichen Erzeugnisse bedürfen der Auslegung, wenn sie keine exakte wissenschaftliche Bedeutung erfahren.

Was aber ist, wenn sich der Sender völlig entfernt? Bisher war nur die Rede davon, dass sich die sprachliche Äußerung im Kern- oder Randbereich der gemeinsamen Konvention bewegt. Was aber muss der Empfänger tun, wenn der Sender diesen Bereich verlässt? Die Frage ist vor allem vor dem Hintergrund einer jüngeren Entwicklung interessant, die man als Angloamerikanisierung der Sprache bezeichnen könnte. Gemeint ist damit der Umstand, dass wir heute kaum mehr Zeitung lesen, ins Kino gehen oder miteinander kommunizieren, ohne auf AnglizismenAnglizismus zu stoßen. Freilich sind derartige sprachliche Entwicklungen dem Deutschen nicht fremd, bedenkt man einmal die Fülle an französischen Begriffen, mit denen wir wie selbstverständlich umgehen: Restaurant, Terrasse, Portemonnaie, Klischee, Parfum, Salon usw. Doch gerade in dieser Selbstverständlichkeit liegt der entscheidende Unterschied: Denn während die ursprünglich französischen Begriffe in den sicheren Bereich unserer Konvention vollständig integriert sind, erleben wir die Angloamerikanisierung derzeit als noch nicht abgeschlossenen Prozess. Dies mag für „cool“, „lifestyle“ und einige weitere Vertreter anders sein, für „research assistants“ und „understatements“ mit Blick auf einen Großteil der Bevölkerung aber noch gelten. Wer sich derartiger Begriffe bedient, tut dies in der Regel nicht in künstlerischer Absicht und es handelt sich hier auch nicht um eine Form der Mehrdeutigkeit des Ausdrucks, die uns bei der Umgangssprache begegnet. Gelangt der Empfänger im Rahmen seiner Analyse zu dem Ergebnis, dass der Sender „außerkonventionell“ codiert (Codierung C), so hat er die Botschaft im nächsten Schritt also nicht so zu interpretieren, wie er eine künstlerische oder mehrdeutige Wendung (Codierung B) untersucht. Will man hier überhaupt von einer Interpretation sprechen, so kann diese nur darin bestehen, zu ergründen, warum sich der Sender so merkwürdig verhält.

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