Читать книгу Spuren im Schnee - Patricia St. John - Страница 10

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5. Kapitel

Annettes Geburtstag war im April, und Dani trug sich schon Wochen vorher mit Plänen, denn nichts bereitete ihm größeres Vergnügen, als Geschenke zu machen. Ein unbeteiligter Zuschauer hätte möglicherweise gefunden, seine Geschenke seien nicht viel wert. Dani jedoch fand sie wunderschön. Er bewahrte sie heimlich auf, und zwar in einem Verschlag, der für Holz bestimmt war. Annette wusste, dass sie ihn nicht öffnen durfte, und tat, als meine sie, er sei voll Holz für den Ofen.

Der Verschlag verbarg eine ganze Tannenzapfenfamilie, in den verschiedensten Farben angemalt und in Reih und Glied angeordnet. Vater Tannenzapfen war rot, Mutter Tannenzapfen grün und die fünf Tannenzapfenbabys prangten in leuchtendem Gelb. Dann war da noch ein prächtiges Bild, das Dani von Bless, der gescheckten Kuh, gezeichnet hatte. Man sah sie auf einer Wiese grasen, umgeben von blauen Enzianen, die beinahe so groß waren wie sie selbst. Weiter lag da ein schneeweißes Steinchen und ein kleines Armband, das aus Haaren vom Schwanz des Stiers geflochten war. Manchmal lag auch ein Schokoladenriegel dabei, aber nie lange, denn Dani hatte eine Schwäche für Schokoladenriegel und aß sie nach ein oder zwei Tagen stets selbst auf.

Und jetzt stand der große Tag ganz nahe bevor: Übermorgen war Annettes Geburtstag! Danis Kopf war voll davon, und sobald Annette zur Schule gegangen war, weihte er die Großmutter in seine neuesten Pläne ein. Sie saß in der Frühlingssonne auf dem Balkon und putzte Löwenzahnblätter für die Abendsuppe, als der Kleine zu ihr kam und seine Ellbogen auf ihre Knie stützte.

»Großmutter, ich gehe jetzt die Halde hinauf, bis dorthin, wo der Schnee geschmolzen ist. Ich will Alpenglöckchen und Krokusse für Annettes Geburtstag holen. Weißt du, ich lege sie dann mit allen meinen Geschenken auf den Geburtstagstisch.«

Die Großmutter, die ihn sehr ungern aus den Augen ließ, schaute ihn unschlüssig an.

»Du bist zu klein, um allein dort hinaufzusteigen. Die Hänge sind schlüpfrig, und du könntest ausrutschen und irgendwo hinunterfallen.«

»Schneeweißchen kommt mit mir«, versicherte Dani ernsthaft.

Die Großmutter lachte leise vor sich hin. »Das wird dir allerdings viel nützen«, entgegnete sie. Gleich darauf entfuhr ihr ein Schrei, denn ohne die geringste Vorwarnung war ihr die Katze auf den Schoß gesprungen. Nun rieb sie liebevoll schnurrend das weiße Köpfchen gegen ihre Brust.

»Schneeweißchen hat gemerkt, dass wir von ihm reden«, versicherte Dani. »Es versteht alles, und es sagt dir jetzt eben, dass es am Berg oben auf mich aufpassen will.«

Er nahm das Kätzchen in die Arme, küsste die Großmutter und stapfte die Treppe hinunter, ein munteres Lied auf den Lippen. Trapp, trapp klapperten seine genagelten Schuhe, und seine Stimme erhob sich laut und rein. Die Großmutter bemühte sich, ihm so lang wie möglich nachzuschauen, dann seufzte sie und wandte sich wieder ihren Löwenzahnblättern zu. Der Junge wurde so groß, so unabhängig und selbstständig. Bald würde er in den Kindergarten gehen. Er war wirklich kein kleines Kind mehr!

Dani kletterte vergnügt den Hang hinauf und Schneeweißchen suchte sich sorgfältig seinen Weg hinter ihm her. Obwohl es ein Weihnachtskätzchen war, verabscheute es den Schnee. Es war ein schöner Tag. Der Frühling hatte begonnen, die Berge neu zu kleiden und den Winterschnee wegzuschmelzen. Im Tal waren die Wiesen längs des Flusses bereits grün und die Kühe konnten dort grasen. Hier oben an den höheren Abhängen fing der Schnee ebenfalls an zu weichen und überall kamen Stellen mit blassgelbem Gras zum Vorschein, während die Bäche zum Überfließen anschwollen mit milchigem Eiswasser.

Es dauerte nicht allzu lange, da erreichte Dani die niedrige Steinmauer, die die Weiden abgrenzte. Jenseits des Mäuerchens fiel eine felsige Schlucht steil ab; in der Tiefe brauste ein reißender Wildbach. Im Sommer waren die Felsen die reinsten Traumgärten, über und über mit Glockenblumen, Steinbrech und ganzen Teppichen von rosarotem Leimkraut bedeckt. Um diese Jahreszeit aber waren sie noch nackt und braun. Schneeweißchen setzte sich auf das Mäuerchen und schüttelte seinen Pelz im Sonnenschein. Dann begann es sich von oben bis unten zu säubern, was ganz überflüssig war, denn es war ohnehin fast so weiß wie der Schnee.

Unterdessen wanderte Dani von einem hellen Flecken zum anderen. Blassviolette Krokusse und leuchtend gelbe Schlüsselblumen wechselten miteinander ab. Wie liebte Dani diese Blumen! Am allerliebsten aber waren ihm die Alpenglöckchen. Diese zierlichen, zarten Blumen konnten nicht einmal warten, bis der Schnee ganz weggeschmolzen war: Sie drängten sich durch die gefrorenen Ränder des Schneefeldes, die zarten Stängel im Eis eingeschlossen. Wie gefranste Glöckchen hingen die hellvioletten Blüten nach unten.

Dani liebte alles, was schön war, und in dieser Blumenwiese war er so glücklich, wie ein Kind nur sein kann. Die Sonne schien auf ihn herab, die Blumen lächelten zu ihm empor, und er erträumte sich Geschichten von winzigen Zwergen, die in Höhlen unter dem Schnee wohnten. Er sah ihre weißen Bärte und ihre roten Zipfelmützen vor sich und er war überzeugt, sie steckten voller lustiger Dummheiten! Manchmal, wenn niemand zugegen war, kamen sie zum Vorschein und schaukelten auf den Alpenglöckchen im Wind. Annette hatte es ihm gesagt. Aus diesem Grund näherte er sich jeder neuen Alpenglöckchen-Gruppe auf Zehenspitzen und hielt die Augen auf die gesenkten Köpfchen geheftet. Und deshalb hörte er die Schritte nicht, die sich ihm näherten, bis sie ganz nahe herangekommen waren. Dann schaute er plötzlich auf und schrak zusammen.

Lukas stand hinter ihm, mit einem unangenehmen, lauernden Ausdruck im Gesicht und einem merkwürdig triumphierenden Glanz in den Augen. Er hatte den Schlag nicht vergessen, den Annette ihm versetzt hatte, als Dani um Hilfe geschrien hatte. Von jenem Tag an hatte er unaufhörlich auf Rache gesonnen! Als er Danis kleine Gestalt allein auf der hochgelegenen Wiese entdeckt hatte, war er ihm ohne zu zögern hinterhergegangen. Natürlich wollte er einem so kleinen Kind nichts antun! Aber es würde ihm Spaß machen, ihn zu plagen und zu ärgern, um ihm das schmachvolle Erlebnis von neulich heimzuzahlen. Auf alle Fälle konnte er ihm die Blumen wegnehmen.

»Für wen pflückst du diese Blumen?«

»Für Annette«, erwiderte Dani tapfer, obwohl er spürte, dass Lukas diese Antwort nicht gefallen würde. Aber Annette hatte ihm eingeschärft, dass er immer die Wahrheit sagen müsse, auch wenn er Angst habe.

Lukas lachte ein hässliches Lachen.

»Ich hasse Annette«, erklärte er. »Sie ist eine hochmütige, eingebildete Wichtigtuerin. Aber in der Schule ist sie eine dumme Gans. Die Kleinen im Kindergarten können besser rechnen als sie. Sie ist nicht gescheiter als ihre Kühe. Gib mir die Blumen; sie soll sie nicht haben!«

Dani war so entsetzt über diese Rede, dass er feuerrot wurde. Die Blumen versteckte er hinter seinem Rücken. Wie konnte jemand Annette hassen? Annette, die so schön und so gut war, so geschickt und so gescheit! Dani, der nichts von Eifersucht wusste, konnte das nicht fassen.

»Du kannst sie nicht haben«, widersprach er und umfasste den Strauß fester. »Sie gehören mir.«

»Ich nehme sie dir weg«, höhnte Lukas. »Du bist ja bloß ein Dreikäsehoch, wie willst du dich gegen mich wehren? Ich kann mit dir machen, was ich will. Du bist ein dummer, kleiner Angeber und ich will es dir heimzahlen, dass du mich verraten hast!«

Grob riss er den Strauß aus Danis Hand, warf ihn auf die Erde und zerstampfte ihn. Dani starrte auf die zertretenen Alpenglöckchen und zerdrückten Krokusse und brach dann in lautes Weinen aus. Mit so viel Liebe hatte er diese Blumen gesucht, und jetzt war alles umsonst gewesen! Dann stürzte er sich auf Lukas und schlug mit seinen kleinen Fäusten wütend auf ihn ein.

»Ich sag es meinem Vater!«, schrie er. »Ich gehe jetzt sofort heim und sage es ihm, und dann kommt er zu dir nach Hause und verhaut dich. Du bist ein böser, gemeiner Junge!«

Gerade das war es nun aber, was Lukas gern verhindern wollte. Denn wie die meisten Grobiane war er feige; er fürchtete sich vor Danis Vater. Der war groß und stark wie ein Riese, und wer seinem Sohn wehgetan hatte, hatte bestimmt nichts Gutes von ihm zu erwarten. Lukas hielt Dani an den Handgelenken fest, damit seine Fäuste ruhig blieben, und schaute um sich, um etwas zu finden, das den Kleinen zum Schweigen zwingen könnte. Da fiel sein Blick auf Schneeweißchen, das sich noch immer sonnte, und sein Plan war gefasst. Er schob Dani von sich und eilte auf die Mauer zu. Dani dachte, dass sein Peiniger ihn jetzt laufen ließe; er wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen und begann, so schnell er konnte, frische Blumen zu pflücken. Was ging ihn Lukas an? Annettes Geburtstagstisch sollte schön und farbenfroh aussehen!

Plötzlich ertönte Lukas’ Stimme über die Wiese. Dani sah schnell auf, und es wurde ihm fast schlecht. Denn was sah er? Lukas stand auf dem Mäuerchen, hatte Schneeweißchen am Nacken gepackt und hielt es mit ausgestrecktem Arm über den dunklen Abgrund und den rauschenden Bach voll eisigen Wassers.

»Wenn du nicht sofort hierherkommst und versprichst, dass du deinem Vater nichts sagst«, drohte Lukas, »lasse ich deine Katze in den Bach fallen!«

Dani begann zu laufen. Blindlings stolperte er über Schnee und Grasflächen. Seine Beine zitterten, er kam kaum vorwärts. Der Gedanke an Schneeweißchen, das hilflos in den wirbelnden Wassern verschwinden könnte, erfüllte ihn mit solchem Grauen, dass sein Mund austrocknete und er nicht einmal schreien konnte. Er wusste nur, dass er Lukas erreichen und sein Kätzchen dem Griff des rohen Jungen entreißen musste, um es nie, nie mehr allein zu lassen.

In Wirklichkeit dachte Lukas nicht im Entferntesten daran, Schneeweißchen fallen zu lassen. Er war ein Grobian, und es machte ihm Freude, den kleinen Jungen in Angst zu versetzen. Aber er war kein Tierquäler. Die Katze jedoch war es nicht gewohnt, beim Nacken gehalten zu werden. Sie fing an zu zappeln, und als sie merkte, dass sie nicht freigelassen wurde, zappelte sie stärker, bis sie schließlich vor Angst außer sich geriet und tat, was sie nie getan hatte: Sie hob die eine Vordertatze und kratzte Lukas mit scharfen Krallen.

Und Lukas, der Danis Herbeistolpern beobachtete, ließ vor Schreck los! Wie ein Stein plumpste Schneeweißchen in die Tiefe, in demselben Augenblick, als Dani, totenbleich und mit angstverzerrten Zügen, das Mäuerchen erreichte.

Dani zögerte keinen Augenblick. Er stieß einen gellenden Schrei aus, wie ein zu Tode erschrecktes kleines Tier, und kletterte über die Mauer, bevor Lukas, dem seine eigene Tat lähmend in die Glieder gefahren war, überhaupt Zeit hatte, ihn zu packen und zurückzuziehen.

Was nun folgte, geschah in wenigen Sekunden. Schneeweißchen war nicht ins Wasser gefallen. Es war an der Kante eines überhängenden Felsens hängen geblieben und klammerte sich kläglich miauend daran. Ein größeres Kind hätte es ohne Gefahr erreichen und mit ihm zurückklettern können. Aber Dani war erst fünf. Der Felsen war feucht und Dani glitt aus, als er das Kätzchen eben packen wollte. Ein neuer Schrei – der Lukas jahrelang verfolgen sollte –, und Dani verschwand über den Rand des Abgrunds!

Wäre Lukas nicht vor Entsetzen halb von Sinnen gewesen, so wäre er ihm nachgeklettert und hätte in die Schlucht hinuntergeschaut. Aber es fiel ihm gar nicht ein, dass Dani noch am Leben sein könnte. Und den leblosen Körper des Kindes vom Wasser weggetragen zu sehen, hinunter zum Wasserfall, das war mehr, als er ertragen konnte. Entgeistert sank er ins Gras und bedeckte das Gesicht mit dem Arm. Hätte Annette ihn in diesem Augenblick gesehen, so hätte selbst sie erkennen müssen, dass Lukas bereits gestraft war.

»Dani ist ertrunken«, stöhnte er verzweifelt. »Ich habe ihn getötet! Was soll ich tun? O, was soll ich nur tun?«

Nach und nach erwachte in ihm ein feiger Gedanke. Er sprang auf und schaute panisch um sich. Die Zeit verstrich. Bald würden sie kommen und Dani suchen, und dann würden sie ihn, Lukas, hier finden, und jeder würde sehen, dass er der Mörder war. Bis zur Stunde wusste noch niemand, dass er etwas mit dem Unfall zu tun hatte, und wenn er nach Hause eilte und tat, als ob nichts geschehen wäre, brauchte es nie jemand zu wissen. Er musste fliehen!

Wie ein verfolgtes Reh schoss er auf und davon, in den schützenden Tannenwald hinein. Das Herz schlug wild in seiner Brust und sein Kopf hämmerte. Er wagte noch nicht heimzugehen, sondern umging das Dorf auf einsamen Pfaden. Falls ihm jemand begegnete, würde es aussehen, als ob er aus einer ganz anderen Richtung käme. Alle paar Minuten meinte er Schritte hinter sich zu hören. Doch wenn er sich umdrehte, war niemand da.

Schließlich erreichte er sein Elternhaus und hielt an. Nein, er konnte unmöglich hineingehen. Er konnte nicht mit diesem grässlichen, finsteren Geheimnis im Herzen seiner Mutter unter die Augen treten. Gewiss würde sie es ihm vom Gesicht ablesen. Er sah bestimmt nicht mehr so aus wie vorher. Er war ja ein Mörder! Vielleicht würde er später den Mut finden, ihr zu begegnen. Nur jetzt nicht. Seine Zähne klapperten. Sie würde fragen, was los sei. Er musste sich verstecken. Doch wo? Da bemerkte er die Leiter, die zur Tenne über dem Kuhstall führte. Er kletterte hinauf, warf sich ins Stroh und schluchzte, als wollte das Herz ihm brechen.

Spuren im Schnee

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