Читать книгу Spuren im Schnee - Patricia St. John - Страница 9

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4. Kapitel

Lukas lag unter seinem dicken Federbett und wünschte, es wäre noch lange nicht Zeit zum Aufstehen. Sein Bett war mollig warm und die Luft draußen so bissig kalt! Er seufzte und kroch tiefer unter die Decke.

»Lukas!« Mutters Stimme klang zornig, und Lukas sprang hastig aus dem Bett. Es war das dritte Mal, dass sie ihn rief. Aber er hatte getan, als hörte er es nicht. Es war ja immer noch früh genug, um aufzustehen und rechtzeitig zur Schule zu kommen! Bloß zum Melken hatte er nun keine Zeit mehr. Aber schließlich, wenn er es nicht tun konnte, tat es eben seine Mutter. Das war allerdings in der letzten Zeit meistens der Fall gewesen.

»Andere Jungen müssen nicht melken, bevor sie zur Schule gehen«, murrte er, während er seine Jacke zuknöpfte. »Ich sehe gar nicht ein, warum ich immer mehr arbeiten soll als alle anderen, bloß weil ich zufällig keinen Vater mehr habe!«

Er schaute recht finster und trotzig drein, als er nun die Treppe hinunterging und sich über sein Frühstück hermachte. Er war noch nicht ganz fertig damit, als seine Mutter vom Stall hereinkam.

»Lukas«, sagte sie scharf, »warum stehst du nicht auf, wenn ich dich rufe? Tag für Tag geht es nun so! Du bist mir am Morgen überhaupt keine Hilfe mehr. Deine Schwester steht doch auch früh auf und fährt zur Arbeit, ohne Geschichten zu machen. Wir haben ja nur drei Kühe, und für die müssen wir dankbar sein. Wie sollten wir bloß durchkommen ohne sie! Du bist jetzt ein großer, kräftiger Junge und es ist eine Schande, dass du all die Früharbeit mir überlässt!«

Lukas runzelte ärgerlich die Stirn. »Ich arbeite am Abend«, erwiderte er. »Ich kann nie spielen. Ich habe einen weiteren Schulweg als alle anderen. Und immer muss ich dir Holz holen und das Futter hereinbringen und am Samstag den Stall ausmisten!«

Seine Mutter rümpfte verächtlich die Nase. »Das meiste habe gewöhnlich ich schon gemacht, bis du endlich von der Schule heimkommst«, entgegnete sie. »Ich weiß wohl, dass du im Winter nicht so viel Zeit hast wie die anderen Kinder, aber ich tue, was ich kann, und das ewige Melken frühmorgens macht mich ganz kaputt. Du bist wirklich alt genug, um es zu übernehmen, und in Zukunft will ich, dass du rechtzeitig aufstehst. Jetzt mach, dass du fortkommst, sonst bist du zu spät in der Schule!«

Lukas warf sich den Regenumhang um und verabschiedete sich mit einem mürrischen Gruß. Er ergriff seinen Schlitten und sauste im Halbdunkel des kalten Wintermorgens davon. Nichts außer dem Ton seiner eigenen dahingleitenden Kufen unterbrach das Schweigen ringsum, jenes gewaltige Schweigen kurz vor Sonnenaufgang, wenn es scheint, als hielte die ganze Welt den Atem an. An anderen Tagen blieb die Größe dieses Augenblicks nicht ohne Wirkung auf Lukas; heute aber war er zu aufgebracht, um darauf zu achten.

»Es ist einfach nicht recht!«, knurrte er. »Jedermann ist gegen mich! Ich kann nichts dafür, wenn meine Aufgaben nicht gut gemacht sind, ich muss ja immer arbeiten zu Hause. Heute bekommen wir Noten fürs Lesen, da werde ich bestimmt wieder der Schlechteste sein und die dumme Aufschneiderin Annette Brunner die Beste. Ich wette, die muss keine Kühe melken, bevor sie zur Schule geht … o …!!«

Er bremste verzweifelt, aber es war zu spät. Er war so beschäftigt gewesen, seinen Zorn zu schüren, dass er nicht gemerkt hatte, wohin er fuhr. So war er bei der Weggabelung mit voller Wucht seitlich in Annettes Schlitten hineingesaust und hatte sie in hohem Bogen in eine Schneewehe befördert.

Es tat Lukas aufrichtig leid, dass er durch seine Unaufmerksamkeit einen solchen Unfall herbeigeführt hatte, und er sprang dunkelrot im Gesicht und aufrichtig betrübt vom Schlitten, um Annette zu helfen. Aber sie kam ihm zuvor. Sie hatte ihn nie besonders gemocht, und jetzt war sie richtig wütend. Bis über die Hüften im Schnee, wandte sie sich mit blitzenden Augen ihm zu.

»Du ungeschickter Esel!«, keuchte sie, den Tränen nahe. »Kannst du nicht aufpassen, wohin du fährst? Schau doch mein Heft an, es ist ja ganz nass und zerknittert! Wart nur, ich sag’s dem Lehrer, dass du an allem schuld bist!«

Lukas, der ohnehin immer Mühe hatte, sich zu beherrschen, brauste augenblicklich auf.

»Also gut!«, brüllte er zurück. »Du brauchst gar keine solchen Geschichten zu machen. Ich hab’s ja nicht absichtlich getan. Man könnte meinen, ich hätte dich umgebracht und nicht bloß dein dummes Heft zerdrückt. Ist mir egal, wenn du eine schlechte Note bekommst. Ich fahre weiter!«

Damit sprang er auf seinen Schlitten und sauste davon. Er kam gerade noch rechtzeitig zur Schule. Sein Gewissen klagte ihn zwar heftig an, aber er versuchte zu vergessen, was er angerichtet hatte.

»Sie braucht ja nur herauszukommen«, sagte er sich. »Sie hätte mich bestimmt sowieso nicht helfen lassen. Zum Glück bin ich rechtzeitig da! Ich bin ja diese Woche schon zweimal zu spät gekommen.«

Aus einer Schneewehe herauszukommen war nun allerdings etwas ganz anderes als hineinzusausen. Es war so anstrengend und dauerte so lange, bis sich die arme Annette herausgearbeitet und ihre Schulsachen zusammengesucht hatte, dass sie schließlich die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte. Sie weinte vor Kälte und Schrecken und schmerzenden Knien, hauptsächlich aber vor Wut. Und als sie mit einer Viertelstunde Verspätung ins Schulzimmer schlich, waren ihre Augen gerötet, ihre Nase blau und ihre armen, aufgeschürften Hände und Knie bluteten. Zusammen mit den nassen Heften und Büchern bot sie wirklich einen jammervollen Anblick.

»Annette«, sagte der Lehrer ganz erschrocken, »was ist denn geschehen, Kind?«

Einige Sekunden lang kämpfte Annette hart gegen die Versuchung an, ihren Klassenkameraden zu verraten. Als sie aber sah, wie Lukas bequem und sicher in seiner Bank saß, übermannte es sie.

»Lukas ist schuld«, platzte sie zornig los. »Er hat mich in den Graben geschleudert und ist weggefahren und hat mich allein gelassen. Ich konnte fast nicht heraus!« Sie presste die Fäuste vor die Augen und brach wieder in Tränen aus. Sie war arg mitgenommen … und wütend. Schrecklich wütend.

Die Schulklasse hielt in gerechter Entrüstung den Atem an, und Lukas, der Bösewicht, ließ den Kopf hängen und starrte trübselig vor sich hin.

Natürlich prügelte ihn der Lehrer tüchtig durch, weil er sich so unverschämt aufgeführt hatte, worauf Annette, es ist traurig zu sagen, wieder auflebte und sich besser fühlte.

Später wurden die Noten bekannt gegeben. Annette hatte die beste Note und fühlte sich dadurch noch besser. Lukas hatte die schlechteste und musste nachsitzen und Strafaufgaben machen. Da saß er denn während des ganzen, langen Vormittags, und nachmittags wieder, und als die anderen Kinder nach Hause gegangen waren, saß er noch immer da, diesmal allein. Und allmählich wuchsen die Wut und der Hass und die Unzufriedenheit in ihm höher und höher, bis ihm war, als müsste er zerspringen.

Endlich war er frei und stapfte den Berg hinauf, den Schlitten hinter sich herziehend. Was für ein grässlicher Tag war das doch heute gewesen! Seine Mutter hatte mit ihm geschimpft. Annette hatte ihn verraten, der Lehrer hatte ihn durchgehauen und er war der Schlechteste der Klasse. Gab es wohl auf der ganzen Welt einen Jungen, dem es so schlecht ging wie ihm?

Die Schatten an den Hängen waren an diesem Abend merkwürdig blau. Es war beinahe ein überirdisches Blau, wie das Blau eines Dunstes über fernen Tälern oder das Blau auf der Brust einer Waldtaube. Die obersten Spitzen der Berge standen noch im Sonnenlicht, und Wolkenfetzen hingen wie Schleier um sie herum. Die Stille der Berglandschaft breitete ihre Arme aus, um Lukas zu umfangen. Natur und Kinder sind einander ja so nah! Und die Stille der Natur vermag oft mehr als alle Menschenworte ein trauriges, zorniges Kinderherz zu beschwichtigen. Allmählich begann die Wut in Lukas’ Herzen einem müden Jammer zu weichen und da er sich allein wähnte, drückte er die Fäuste in die Augenhöhlen und begann leise zu weinen.

Und dann auf einmal entdeckte er, dass er nicht allein war. Er war wieder an der Weggabelung angelangt, und hier stand ein kleiner Junge im Schnee und schaute ihn höchst erstaunt an: ein glücklicher, rotbäckiger, helläugiger Junge, dessen blonder Haarschopf unter der Wollkappe hervorquoll und dessen Gesicht vor Gesundheit und guter Laune strahlte.

Es war Dani, der einen Schneemann baute. Eben hatte er ihm den Kopf aufgesetzt und war nun dabei, ihm Augen einzusetzen. Es war der schönste Schneemann, den Dani je gemacht hatte; gleich wollte er Annette holen, damit sie ihn bewunderte.

»Warum heulst du?«, fragte Dani.

»Ich heule nicht!«, gab Lukas zornig zurück.

»O doch, du heulst! Und ich weiß warum: weil der Lehrer dich verhauen hat. Annette hat es uns erzählt.«

Es lag nicht in Danis Absicht, grausam zu sein, denn er war ein freundlicher kleiner Junge. Aber Lukas war hässlich zu Annette gewesen, und das war in Danis Augen etwas Unverzeihliches.

In Lukas flammte augenblicklich der Zorn auf. Er trat mit dem Fuß gegen Danis Schneemann und zertrampelte ihn dann ganz, worauf Dani die Stimme erhob und vor Schrecken und Enttäuschung in lautes Gebrüll ausbrach.

Annette kam aus dem Stall gerannt und erkannte sogleich, was hier geschah. Wie eine Löwin sprang sie herzu und schlug Lukas mitten ins Gesicht! Der hob die Hand, um zurückzuschlagen, aber der Anblick von Herrn Brunner, der mit einem Milcheimer aus dem Haus trat, belehrte ihn eines Besseren. Es war klar, dass alles gegen ihn stand.

»Alte Klatschbase!«, schrie er. »Baby du, das heulend in die Schule kommt!«

»Wüster, gemeiner Grobian!«, schrie Annette zurück, »zuerst lässt du mich im Graben liegen und jetzt machst du noch dem armen Dani den Schneemann kaputt! Er hat dir doch nie etwas zuleide getan! Warum kannst du ihn nicht in Ruhe lassen? Es war ganz richtig, dass du Prügel gekriegt hast! Komm, Dani, komm heim! «

Zornig ging sie davon, Dani hinter ihr drein. Als sie unten an der Treppe stehen blieb, bemerkte sie hinter den fernen Gipfeln ein Stück leuchtend roten Himmels. Da fiel ihr plötzlich ein Bibelvers ein, den Großmutter sie gelehrt hatte: »Lass die Sonne nicht über deinem Zorn untergehen.« Noch war es Zeit! Noch war Lukas nicht weit weg! Es war trotz allem nicht schön von ihr gewesen, ihn zu verraten. Sie zögerte. Aber nein! Er war viel schlechter gewesen als sie. Es war an ihm, zu sagen, es tue ihm leid. Wenn sie ihn um Verzeihung bat, sah es ja aus, als ob sie schuldig wäre, und selbstverständlich war sie es nicht – o nein, nicht im Geringsten! Sie trat ins Haus und schlug die Tür zu.

Lukas wandte sich langsam zum Gehen. Sein Gesicht brannte und er war wütender als je zuvor. Nach wenigen Schritten jedoch hob er den Kopf. Da sah er etwas Wunderbares. Die Wolken hatten sich zu einer roten Wand zusammengeballt und verdeckten das Gebirge. Nur an einer einzigen Stelle waren sie wie entzweigebrochen und in der entstandenen Lücke konnte Lukas einen schneebedeckten Gipfel erkennen, in goldenem Licht erstrahlend. Es war, als stünde dort eine himmlische Burg, eingetaucht in die Herrlichkeit Gottes, sichtbar wie durch einen Schleier und nur für einen kurzen Augenblick.

Obwohl er an die Schönheit winterlicher Sonnenuntergänge gewöhnt war, musste Lukas vor solcher Pracht stehen bleiben und tief Atem holen. Vor dem reinen, herrlichen Glanz erschien ihm sein Zorn plötzlich wie etwas Geringfügiges, Armseliges, nicht der Mühe wert, dass man sich damit beschäftigte. Wie schön wäre es, von vorne anzufangen! Wenn er rannte, konnte er Annette noch einholen, bevor sie ins Haus trat!

Doch nein! Annette war eine Wichtigtuerin und würde wahrscheinlich bloß auf ihn herabsehen. Und überhaupt, weshalb sollte er ein Mädchen um Verzeihung bitten?

Auf diese Weise, weil keiner den ersten Schritt tun wollte, begann der Streit – ein Streit, der so manchen langen Tag dauern und in seinem Gefolge für beide Teile viel Herzeleid mit sich bringen sollte.

Während Lukas noch nachdenklich am Weg stand, wehte eine Wolke über die Lücke und die himmlische Festung entschwand seinen Blicken.

Spuren im Schnee

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