Читать книгу Spuren im Schnee - Patricia St. John - Страница 6
Оглавление1. Kapitel
Es war Weihnachtsabend. Drei Gestalten, deren Schatten sich im Mondlicht auf dem weißen Schnee abzeichneten, kletterten den steilen Bergpfad hinauf. Eine Frau in einem langen, weiten Rock und mit einem schwarzen Schal über den Schultern hielt einen dunkelhaarigen, etwa sechsjährigen Jungen an der Hand, der mit vollem Mund unaufhörlich vor sich hin schmatzte. Neben den beiden, die Augen zu den Sternen erhoben, stapfte ein etwa siebenjähriges Mädchen. Es hielt die Hände über der Brust gekreuzt und drückte einen honigfarbenen Lebkuchenbären mit weißen Zuckeraugen fest an sein Herz.
Der kleine Junge hatte auch einen solchen Bären gehabt. Aber der war bereits verzehrt. Bloß die Hinterbeine waren übrig geblieben! Der Junge warf einen verschmitzten Blick auf das Mädchen. »Meiner war größer als deiner«, erklärte er.
»Ich möchte nicht tauschen«, erwiderte die Kleine ruhig und ohne den Kopf zu wenden. Zärtlich blickte sie auf den prächtigen Bären in ihrer Hand. Wie süß er roch und wie er im Mondschein glänzte! Nie, nie wollte sie ihn anbeißen! Achtzig Dorfkinder hatten heute einen Lebkuchenbären erhalten, aber ihrer war bestimmt der allerschönste!
Ja, sie wollte ihn als Andenken aufbewahren. Jedes Mal, wenn sie ihn anschaute, würde er sie an diesen Weihnachtsabend erinnern: an den kalten, dunkelblauen Himmel, an den warmen Schein der festlich erhellten Kirche, an den mit Silbersternen geschmückten Baum, an die Lieder, die Krippe und die schöne, traurige Weihnachtsgeschichte. Es kamen ihr fast die Tränen, wenn sie an die Herberge dachte, in der es keinen Raum fürs Christkind gab. Sie hätte ihre Tür weit aufgemacht und die müden Reisenden freudig aufgenommen!
Lukas, der Junge, ärgerte sich über ihre Schweigsamkeit. »Ich habe meinen fast aufgegessen«, schmollte er; »lass mich deinen probieren, Annette, du hast ihn ja noch nicht einmal angefangen!«
Doch Annette schüttelte den Kopf und drückte ihren Bären fester an sich. »Ich werde ihn nie aufessen«, sagte sie. »Ich will ihn immer und ewig behalten.«
Inzwischen waren die drei bei einer Stelle angekommen, wo der Weg mit seinen Schlittenspuren sich teilte. Der Pfad zur Rechten führte zu einer Gruppe von Chalets mit hell erleuchteten Fenstern. Dahinter standen dunkle Ställe und Scheunen. Annette war beinahe zu Hause.
Frau Matter schien zu zögern. »Können wir dich allein heimgehen lassen, Annette?«, fragte sie. »Oder sollen wir dich bis vor die Haustür begleiten?«
»O nein, ich gehe lieber allein«, erwiderte Annette. »Vielen Dank, dass Sie mich mitgenommen haben. Gute Nacht, Frau Matter, gute Nacht, Lukas!«
Und damit eilte sie davon. Hoffentlich überlegte Frau Matter es sich nicht anders und bestand darauf, sie heimzubegleiten, wo sie doch so sehnlich wünschte, allein zu sein! Sie wartete ja nur darauf, Lukas’ Geschwätz loszuwerden. Wie sollte sie nachdenken und die Sterne betrachten können, solange sie Frau Matter und Lukas höfliche Antworten geben musste?
Annette war nie zuvor bei Nacht allein draußen gewesen, und auch heute geschah es nur durch eine Art Zufall. Sie hätte mit Vater und Mutter auf dem Schlitten zur Kirche fahren sollen. Seit Wochen hatten sie davon gesprochen und sich darauf gefreut. An diesem Morgen aber war Mutter plötzlich erkrankt und Vater war mit dem Mittagszug in die Stadt hinuntergefahren, um einen Arzt zu holen. Dieser war etwa um vier Uhr gekommen, aber er hatte Mutter nicht rechtzeitig gesund machen können, um zur Kirche zu gehen, wie Annette gehofft hatte. So hatte sie zu ihrer großen Enttäuschung stattdessen mit Frau Matter gehen müssen, deren Chalet etwas weiter oben am Berg stand. Als sie dann aber die Kirche betreten hatten, war es dort so wunderschön gewesen, dass Annette alles Übrige vergessen hatte.
Noch hielt der Zauber dieses Abends an. Und als sie nun ganz allein im Schnee unter den Sternen stand, schien es ihr jammerschade, sogleich ins Haus zu gehen und den Zauber zu brechen. Am Fuß der Treppe, die zum Balkon und zur Wohnstube hinaufführte, blieb Annette stehen und schaute sich um. Gegenüber war der Kuhstall; sie konnte hören, wie die Tiere sich bewegten und Heu aus der Krippe fraßen. Da kam ihr ein großartiger Gedanke. Sie sprang über die Schlittenspuren hinweg und hob den Riegel der Stalltür. Ein heimeliger, warmer Geruch von Vieh, Milch und Heu umfing sie. Sie schlängelte sich an den Beinen einer braunen Kuh vorbei und kletterte auf die Krippe. Die Kuh war eifrig mit Fressen beschäftigt. Annette schlang die Arme um ihren Hals und ließ sie ruhig weiterkauen. Genauso musste es gewesen sein, als Maria mit ihrem neugeborenen Kindlein in den Armen bei den Tieren saß!
Annette schaute auf die Krippe hinab und ihrer angeregten Phantasie kam es vor, als läge das himmlische Kind auf dem Heu und die Kühe ständen still und andächtig rundherum. Durch eine Lücke im Dach konnte sie einen einzelnen funkelnden Stern erblicken und sie musste daran denken, wie der Stern über Bethlehem gestanden und die Weisen zur Stätte geführt hatte, wo das Jesuskind lag. Sie konnte sich gut vorstellen, wie die Weisen auf ihren schaukelnden Kamelen das Tal heraufgeritten kamen. Und jetzt würde wohl jeden Augenblick die Tür aufgehen und die Hirten kämen hereingeschlüpft, kleine Lämmer auf den Armen, und würden das Kind mit weichen Schaffellen zudecken wollen! Tiefes Mitgefühl ergriff Annette beim Gedanken an das heimatlose Kindlein, dem alle Türen verschlossen geblieben waren.
»In unserem Chalet wäre Platz genug gewesen«, murmelte sie. »Und doch: Hier ist’s wohl am allerschönsten. Das Heu ist sauber und weich und der Atem der Braunen warm und gut. Gott hat doch die beste Wiege für sein Kind gewählt! «
Wer weiß, ob Annette nicht in dieser Weise die halbe Nacht verträumt hätte, wäre nicht plötzlich der Schein einer Laterne durch die angelehnte Tür gedrungen, während gleichzeitig feste Schritte über den knirschenden Schnee kamen. Dann hörte Annette ihren Vater rufen. Sie glitt von der Krippe herunter, wich geschickt dem Schwanz der Braunen aus und lief mit ausgebreiteten Armen auf ihren Vater zu.
»Ich wollte den Kühen einen Weihnachtsbesuch machen«, lachte sie. »Hast du mich gesucht?«
»Ja«, erwiderte der Vater. Aber er lachte nicht. Sein Gesicht war bleich und ernst. Er fasste Annette bei der Hand und zog sie die Treppe hinauf. »Du hättest sofort heimkommen sollen, wo doch Mutter so krank ist«, sagte er. »Sie fragt seit einer halben Stunde beständig nach dir.«
Annettes Herz begann heftig zu schlagen. Wie hatte sie nur ihre geliebte Mutter vergessen können! Sie machte sich von der Hand ihres Vaters los und eilte schuldbewusst die hölzerne Treppe hinauf.
Weder der Arzt noch die Gemeindeschwester bemerkten sie, bis sie nahe am Bett der Kranken stand, denn sie war ein kleines, leichtfüßiges Ding, das sich lautlos wie ein Schatten bewegen konnte. Aber die Mutter erblickte sie sogleich und streckte mühsam die Arme nach ihr aus. Wortlos rannte Annette hinzu und legte das Gesicht an Mutters Schulter. Sie begann leise zu weinen, denn Mutters Gesicht erschreckte sie: Es war beinahe so weiß wie das Kissen. Wie leid tat es ihr nun, dass sie so lange weggeblieben war!
»Annette«, flüsterte die Mutter, »hör auf zu weinen. Ich habe ein Geschenk für dich.«
Annette war sofort still. Ein Geschenk? Natürlich, es war ja Weihnachten. Da gab ihr die Mutter immer ein Geschenk. Was mochte es wohl sein? Erwartungsvoll blickte sie um sich.
Die Mutter wandte sich an die Gemeindeschwester. »Geben Sie es ihr«, flüsterte sie.
Da schlug die Schwester die Decke zurück und zog ein Bündel hervor, das in ein weißes Wolltuch eingewickelt war. Sie trat zu Annette und hielt es ihr entgegen.
»Dein Brüderchen«, erklärte sie. »Komm, wir wollen es unten beim Feuer in die Wiege legen, dann darfst du es schaukeln. Wir müssen deine Mutter jetzt schlafen lassen. Sag ihr ›Gute Nacht‹.«
»Dein Brüderchen«, wiederholte Mutters matte Stimme.
»Es gehört zu dir, Annette. Zieh es auf und hab es lieb und sorge gut für es – an meiner Stelle. Ich vertraue es dir an.«
Die Stimme versagte ihr und sie schloss die Augen.
Annette war wie betäubt und folgte willenlos der Schwester. Sie setzte sich auf einen Schemel ans Herdfeuer, vor sich die Wiege, in der ihr Weihnachtsgeschenk lag.
Lange saß sie regungslos und schaute unverwandt auf das Bündel herab, das ihr Brüderchen sein sollte. Der Schnee warf ein seltsames Licht auf die Wände und der Widerschein der glühenden Holzstücke tanzte an der Zimmerdecke. Es war sehr still im Haus und dort, ja dort schien der Weihnachtsstern durchs Fenster herein! So hatte er im Stall von Bethlehem auf jenes andere Kind herabgeschienen. Und so wie sie, Annette, hier am Feuer saß und über ihren Bruder wachte, so hatte Maria dagesessen und über Gottes kleinen Sohn gewacht.
Mit ehrfürchtigen Fingern berührte Annette den samtigen kleinen Haarschopf. Dann legte sie mit einem müden Seufzer den Kopf auf die Decke und ließ ihre Gedanken wandern, wohin sie wollten: Sterne, Herden, neugeborene Kindlein, verschlossene Türen, weise Männer und Lebkuchenbären – hinter ihrer Stirn gerieten sie alle durcheinander, und sie selbst glitt allmählich zu Boden.
Hier fand sie ihr Vater eine Stunde später, friedlich schlafend wie ihr Brüderlein, den blonden Kopf an die Wiege gelehnt.
»Arme mutterlose Kinder«, klagte er, während er sich bückte und seine kleine Tochter in die Arme nahm, »wie soll ich euch bloß aufziehen ohne sie?«
Denn Gott hatte Annettes Mutter zu sich gerufen; sie durfte Weihnachten mit den Engeln feiern.