Читать книгу Spuren im Schnee - Patricia St. John - Страница 8

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3. Kapitel

Fünf Jahre waren vergangen. Wieder schrieb man den 24. Dezember. Der Tag war bedeutungsvoll gewesen für Dani, der heute fünf Jahre alt geworden war, denn zum ersten Mal in seinem Leben hatte man ihn für groß genug gehalten, um mit Annette zur Kirche zu fahren und den Christbaum zu sehen.

Jetzt saß er in seinem Bett und löffelte ein Schüsselchen Kartoffelsuppe. Sein blonder Haarschopf reichte nur knapp über sein weißes Federbett hinaus, das fast ebenso hoch wie breit war. Annette saß neben ihm, einen glänzenden Lebkuchenbären in der Hand.

»Tut mir leid, Dani«, erklärte sie bestimmt, »aber du kannst ihn unmöglich bei dir im Bett behalten. Am Morgen hättest du bloß noch Krümel und keinen Bären mehr. Schau, ich stelle ihn hier auf den Schrank; so scheint der Mond darauf und du kannst ihn gut sehen!«

Dani öffnete den Mund zum Widerspruch, überlegte es sich dann aber anders und füllte ihn mit Kartoffelsuppe. Es war nicht nett von seiner Schwester, dass sie ihm nicht erlaubte, den Bären die ganze Nacht in den Armen zu halten. Aber schließlich gab es eine Menge anderer Dinge, über die er sich freuen konnte. Dani war immer glücklich; vom Augenblick an, da er morgens die Augen aufschlug, bis zum Augenblick, wo er sie abends schloss. Heute war er ganz besonders glücklich, weil er die Glocken gehört und den glitzernden Christbaum gesehen hatte und beim Licht der Sterne draußen im Schnee gewesen war. Er reichte Annette die leere Schale und schlüpfte mit Wohlbehagen unter seine warme Decke.

»Glaubst du«, fragte er vertraulich, »dass der Weihnachtsmann kommt, wenn ich einen Pantoffel aufs Fensterbrett lege?«

Annette schaute ihn überrascht an. Woher kamen ihm solche Gedanken? Sie hatte ihm nie vom Weihnachtsmann erzählt, den sie selbst nur aus Büchern kannte. In ihrem Bergtal hatte man diesen Brauch nicht. Doch Dani fuhr fort: »Sie sagen, dass er auf einem Schlitten kommt, den ein Rentier zieht, und dass er den braven Kindern Geschenke in die Pantoffeln steckt. Bin ich ein braves Kind, Annette?«

»Ja«, erwiderte Annette und küsste ihn, »das bist du. Aber du bekommst trotzdem kein Geschenk vom Weihnachtsmann. Der geht bloß zu reichen kleinen Jungen.«

»Bin ich kein reicher kleiner Junge?«, fragte Dani, dem es nicht so schien, als ob das Leben irgendetwas zu wünschen übrig ließe.

»Nein«, entgegnete Annette bestimmt, »das bist du nicht. Wir sind arm, Papa muss hart arbeiten und Großmutter und ich müssen deine Kleider immer und immer wieder flicken, weil wir keine neuen kaufen können.«

Dani kicherte. »Es ist mir egal, dass wir arm sind. Es gefällt mir. Und jetzt erzähl mir eine Geschichte, Annette. Erzähl mir von Weihnachten und vom Kindlein und den Kühen und dem großen, funkelnden Stern.«

Da erzählte Annette, und Dani hörte mit weit geöffneten Augen zu.

»Mir hätte es besser gefallen, im Heu zu schlafen als in der Herberge«, sagte er, als sie fertig war. »Ich möchte gern mit Bless schlafen. Das wäre doch lustig.«

Annette schüttelte den Kopf. »Nein, nein, das würde dir gar nicht gefallen, wenigstens nicht im Winter ohne Federbett. Du würdest frieren und unglücklich sein und dich nach deinem warmen Bett sehnen. Es war grausam von den Leuten, dass sie dem neugeborenen Kindlein keinen Platz geben wollten. Sie hätten bestimmt irgendwie Platz machen können.«

Die Kuckucksuhr im Treppenhaus schlug neunmal. Annette sprang auf.

»Jetzt musst du aber einschlafen, Dani, und ich muss hinunter und Kaffee kochen für Papa.«

Sie umarmte ihn, deckte ihn gut zu, machte das Licht aus und ließ ihn allein. Aber Dani schlief nicht ein. Er starrte in die Dunkelheit und dachte angestrengt nach.

Er war kein gieriger Junge, aber es schien ihm jammerschade, nicht bereit zu sein für den Fall, dass der Weihnachtsmann doch an ihrem Haus vorbeikäme. Wohl war er ein armes Kind, aber wer weiß? Vielleicht kam der Weihnachtsmann trotzdem? Und schließlich konnte es nicht schaden, einen kleinen Pantoffel hinzustellen, auch wenn am Morgen nichts drin wäre. Die Frage war, wohin! Er konnte ihn nicht aufs Fensterbrett legen, weil er die schweren Fensterläden nicht allein aufbekam. Er konnte ihn nicht vor die Haustür legen, weil die ganze Familie noch in der Wohnstube versammelt war. Die einzige Möglichkeit war, dass er ihn vor die Küchentür stellte, auf den schmalen Streifen Schnee, der die Küche vom Heuschober trennte. Es war allerdings fraglich, ob der Weihnachtsmann den Pantoffel dort sehen würde, aber man konnte es ja versuchen!

Dani kroch aus dem Bett und huschte auf den Zehenspitzen durchs Schlafzimmer und die Treppe hinunter. Er ging barfuß, damit ihn niemand hörte. In der Hand hielt er einen kleinen, roten, mit Hasenfell gefütterten Pantoffel. Vater hatte den Hasen geschossen und Annette hatte die Pantoffeln genäht. Dani hatte den Eindruck, der Pantoffel müsste dem Weihnachtsmann in die Augen stechen: Er war ganz anders als andere Pantoffeln!

Es war eine mühsame Arbeit, bis der schwere Holzriegel der Küchentür zur Seite geschoben war. Dani musste sich dazu auf einen Schemel stellen. Er hatte einen sekundenlangen Eindruck von Schnee- und Sterneflimmern, dann schlug ihm die winterkalte Nachtluft schneidend entgegen und nahm ihm fast den Atem. Er warf den Pantoffel vor die Tür und schloss sie, so schnell er konnte.

Leichten Herzens trippelte Dani zu seinem Bett zurück, rollte sich zu einem Ball zusammen und grub die Nase ins Kissen. Er hatte sein Abendgebet schon vorher mit Annette gesprochen, aber jetzt hatte er ein Extrastück hinzuzufügen.

»Lieber Gott«, flüsterte er, »bitte mach, dass der Weihnachtsmann mit seinem Rentier hier durchkommt. Und mach, dass er meinen Pantoffel sieht. Und mach, dass er ein kleines Geschenk hineintut, wenn ich auch nur ein armer kleiner Junge bin.«

Und dann rollte die Kugel, die Dani hieß, auf die Seite, schlief ein und träumte, wie tausend andere Kinder auf der ganzen Welt, von dem alten Herrn im roten Mantel, der beim Gebimmel der Rentierglöckchen über den Schnee gleitet.

Dani erwachte sehr früh, weil Kinder am Weihnachtsmorgen immer früh erwachen, und natürlich galt sein erster Gedanke dem roten Pantoffel. Das war solch ein aufregender Gedanke, dass sein Herz heftig zu pochen begann und er über seinen Federbettberg hinüberguckte, um zu sehen, ob Annette schon wach sei.

Aber Annette schlief noch fest, die langen, blonden Haare übers Kopfkissen gebreitet. War es wohl noch mitten in der Nacht? Fast glaubte Dani es; da hörte er, wie sein Vater in der Küche unten mit den Milcheimern rasselte.

Also war es doch Weihnachtsmorgen und Dani musste schnell, schnell hinunter, damit sein Vater nicht die Tür öffnete und sein Geschenk vor ihm entdeckte. Irgendwie war Dani jetzt überzeugt, dass ein Geschenk da sein müsse. Über Nacht waren ihm alle seine Zweifel vergangen.

Sachte, ohne Annette zu wecken, schlich er aus dem Zimmer und in die Küche hinunter, wo der Vater dabei war, die Milcheimer auszuwaschen. Der Vater bemerkte ihn nicht, bis er sich plötzlich von zwei kräftigen kleinen Armen an den Beinen gepackt fühlte. Rotbäckig und zerzaust stand sein kleiner Sohn neben ihm und blickte erwartungsvoll zu ihm auf.

»Ist der Weihnachtsmann da gewesen?« Sicher hatte der Vater, der so lange aufblieb und so früh aufstand, das Glöckchengeläut und das Knirschen der Hufe im Schnee gehört!

»Der Weihnachtsmann?«, wiederholte der Vater erstaunt. »Nein, warum? Er ist nicht hierhergekommen. Wir wohnen zu weit oben am Berg.«

Doch Dani schüttelte den Kopf. »Wir wohnen nicht zu weit oben. Sein Rentier kann überallhin. Du hast wahrscheinlich bloß geschlafen und ihn nicht gehört. Mach mir die Tür auf, lieber Papa. Vielleicht hat er mir doch ein Geschenk mitgebracht.«

›Wenn ich das nur früher gewusst hätte‹, dachte der Vater, ›dann hätte ich ihm eine Tafel Schokolade vor die Tür legen können.‹ Es tat ihm schrecklich leid, seinen Jungen zu enttäuschen. Immerhin, die Tür musste er auf jeden Fall öffnen, schon um die Milcheimer zum Stall hinüberzurollen. Er schob den Riegel zur Seite und im selben Augenblick schoss Dani wie ein Wiesel zwischen seinen Beinen durch und kniete auch schon neben seinem Pantoffel im Schnee.

Und jetzt stieß er einen aufgeregten, lauten Schrei aus und stürzte in die Küche zurück, den Pantoffel im Arm.

Es war ein Wunder geschehen: Der Weihnachtsmann war da gewesen und hatte ein Geschenk hinterlassen. In all seinen fünf glücklichen Jahren hatte Dani noch nie solch ein wunderbares Geschenk erhalten.

Im Pelzfutter seines roten Pantoffels lag eng zusammengerollt ein winziges, weißes Kätzchen mit blauen Augen und einem schwarzen Flecken auf der Nase. Es war ein schwaches, mageres Kätzchen, halb tot vor Kälte und Hunger, und ohne die Wärme des Hasenfells wäre es bestimmt ganz tot gewesen. Danis Vater vergaß seine Milcheimer, kniete neben seinem Sohn auf den Küchenboden nieder und machte sich daran, das kleine Tier zu beleben.

Zuerst wickelte er es in ein weiches Tuch und legte es gegen die warme Ofenwand. Dann wärmte er etwas Milch auf und gab sie ihm mit einem kleinen Löffel, denn es war viel zu schwach, um selbst zu trinken. Am Anfang spritzte und geiferte es nur, aber nach einem Weilchen streckte es sein winziges, rosenrotes Zünglein heraus und die schönen blauen Augen fingen an, wach und teilnehmend in die Welt zu gucken. Nach weiteren fünf Minuten zuckte es mit dem Schwanz und streckte sich. Als es schließlich ganz satt war, rollte es sich zu einem Ball zusammen und begann leise und behaglich zu schnurren.

Die ganze Zeit über waren der Vater und Dani so völlig mit dem Kätzchen beschäftigt gewesen, dass sie kein Wort miteinander gewechselt hatten. Nun, da ihr Werk fürs Erste erfolgreich beendet war, setzten sie sich und sahen einander an. Danis Wangen glichen roten Mohnblumen und seine Augen funkelten wie zwei Sterne.

»Ich hab’s ja gewusst, dass er kommen würde«, flüsterte er. »Aber ich hätte nie gedacht, dass er mir etwas so Wunderbares mitbringt. Es ist das schönste Geschenk, das ich in meinem ganzen Leben bekommen habe. Wie soll ich es nennen, Papa?«

»Vielleicht Schneeweißchen, weil es weiß ist wie der Schnee«, meinte der Vater und betrachtete seinen Sohn beinahe mit Achtung. Es war wirklich alles fast zu wunderbar!

Er ließ das schlafende Kätzchen in Danis Obhut und ging zum Stall hinüber. Und während er im trüben Schein der Stalllaterne den Kopf an die Flanken seiner Kühe lehnte und die Milch in die Eimer schäumen ließ, suchte er nach einer Erklärung für das Wunder. Natürlich hatte sich das Kätzchen aus irgendeinem Stall hierher verirrt. Aber es kam dem Vater doch sonderbar vor, dass es ausgerechnet Danis Pantoffel gefunden und dort auf ihn gewartet hatte. Aber war es wirklich zum Verwundern? War es nicht natürlich, dass am Weihnachtsabend der Vater im Himmel beim Gedanken an seinen eigenen Sohn ein mutterloses Kind auf Erden nicht enttäuschen wollte? Hatte nicht er, um des Kindleins von Bethlehem willen, die Schritte des weißen Kätzchens gelenkt? Danis Vater hielt einen Augenblick mit Melken inne und dankte Gott für seine Güte gegenüber seinem kleinen Jungen.

Kurz darauf erschien Annette in der Küche, um das Frühstück zu bereiten. Sie blieb wie angewurzelt stehen, als sie Dani in seinem Nachthemd erblickte, wie er sich über ein Kätzchen beugte. Sie wollte Fragen stellen, doch Dani legte den Zeigefinger an die Lippen und bat sie, sich still zu verhalten, denn er fürchtete, das Tier könnte aufwachen. Dann lief er auf den Zehenspitzen zu ihr hin, zog sie zu einem Stuhl, kletterte auf ihre Knie und flüsterte ihr die ganze seltsame Geschichte ins Ohr.

Annette konnte sich alles ohne Weiteres erklären. Mit ihren zwölf Jahren glaubte sie nicht mehr an den Weihnachtsmann. Sie glaubte aber an Weihnachtsengel! Und da bestand kein Zweifel: Solch ein schneeweißes Kätzchen musste geradewegs vom Himmel heruntergefallen sein. Sie kauerte sich auf den Fußboden nieder und nahm Dani samt der Katze auf ihren Schoß. So fand sie die Großmutter eine halbe Stunde später, als sie die Tür öffnete und erwartete, einen dampfenden Frühstückskaffee auf dem Tisch zu finden.

Spuren im Schnee

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