Читать книгу Spuren im Schnee - Patricia St. John - Страница 11

Оглавление

6. Kapitel

Die Großmutter hatte die Löwenzahnblätter fertig geputzt. Schwer stützte sie sich auf ihren Stock und trat ins Haus, wo sie sich auf einen Stuhl niederfallen ließ: Sie war sehr, sehr müde. Bald sank ihr der Kopf auf die Brust und sie schlief ein.

Die alte Frau war leidender denn je und sah immer weniger gut. Dazu fühlte sie sich meist entsetzlich müde. Aber sie liebte ihre beiden Enkel aus tiefstem Herzen, und für sie wollte sie arbeiten, bis sie umfiel. Deshalb fuhr sie fort, sich mit verkrümmten Fingern um die Küche zu kümmern und mit schmerzenden Augen die Kinderwäsche zu flicken. Und Annette hatte keine Ahnung, wie schlimm es mit ihr stand, denn sie war erst zwölf Jahre alt, und die Großmutter klagte nie. Wer aus Liebe arbeitet, dem werden die schwersten Lasten leicht.

Heute dauerte Großmutters Schläfchen länger als sonst. Annette war ins Dorf hinuntergegangen, um Besorgungen zu machen; der Vater war im Wald und schichtete Holzklötze auf. Sie hatte sich vorgenommen, die Fersen von Danis weißen Sonntagsstrümpfen zu stopfen und Flicken auf die Ellbogen seiner blauen, leinenen Jacke zu setzen. Aber sie war viel zu müde dazu. Sie faltete die knotigen alten Hände in ihrem Schoß und schlief weiter. Nicht einmal der Kuckuck, der aus seinem Häuschen hüpfte und dreimal anschlug, vermochte sie zu wecken.

Es war beinahe vier Uhr, als die Großmutter die Augen aufschlug und auf die Uhr schaute. Ein Ausruf der Bestürzung entfuhr ihr. Dani war um halb zwei weggegangen und noch nicht zurückgekehrt. Wo mochte er so lange bleiben?

»Dani!«, rief sie streng, denn vielleicht versteckte er sich irgendwo. Es war gut möglich, dass er im nächsten Augenblick übermütig lachend aus irgendeinem Schrank purzelte.

Doch diesmal erhielt die Großmutter keine Antwort. Sie humpelte auf den Balkon hinaus und beschattete die Augen mit der Hand. Vielleicht konnte sie Dani erblicken, wie er dahergestapft kam? Wie wollte sie ihn schimpfen, dass er so spät kam!

Jemand bog um die Ecke des Kuhstalls, aber es war nicht Dani. Es war Annette mit dem Tragkorb auf dem Rücken, in dem ein langes, glänzend braunes Brot steckte. Sie winkte der Großmutter und kam die Treppe heraufgerannt.

»Annette«, sagte die Großmutter, »stell den Korb ab und geh Dani suchen! Er ist vor beinahe zweieinhalb Stunden weggegangen, um Blumen zu suchen, und noch immer nicht zurückgekehrt.«

Plumps! stand der Korb auf dem Boden. Im Stillen fand Annette, die Großmutter mache zu viel Aufhebens wegen Dani. Was konnte ihm denn zustoßen, wenn er durch die Wiesen bummelte, wo doch jeder, der ihn antraf, ihn kannte und gernhatte?

»Er wird wohl bei Papa im Wald oben sein«, erwiderte sie. »Ich geh in ein paar Augenblicken hinauf. Zuerst möchte ich ein Butterbrot haben. Ich habe solchen Hunger!«

Sie schnitt sich ein dickes Stück Brot ab und strich Butter und Marmelade darauf. Die Großmutter stand schon wieder auf dem Balkon und spähte den Fußweg entlang. Noch während Annette aß, ertönten feste Schritte, und der Vater kam herein.

»Wo ist Dani?«, rief die Großmutter. »Ist er nicht bei dir? Hast du ihn nicht am Berg oben getroffen?«

»Dani?«, wiederholte der Vater erstaunt. »Er ist nicht in meine Nähe gekommen. Wann ist er von dir weggegangen, Mutter?«

Die Großmutter gab es auf, ihre Unruhe verbergen zu wollen, und rang die Hände. »Er ist vor zweieinhalb Stunden weggegangen«, rief sie. »Er und das Kätzchen. Er wollte auf der oberen Wiese Krokusse suchen. Es muss ihm etwas zugestoßen sein!«

Vater und Annette wechselten einen besorgten Blick, denn der Weg vom Wald her führte durch die Krokuswiese, und doch hatte der Vater auf dem Heimweg keine Spur von Dani gesehen. Annette schob ihre Hand in die Hand ihres Vaters.

»Vielleicht ist er zum Wald hinaufspaziert, um dich zu suchen«, sagte sie beruhigend. »Komm, wir gehen und holen ihn heim! Schneeweißchen steckt sicher irgendwo dort oben, sodass wir sehen können, in welche Richtung Dani gegangen ist. Das Kätzchen hasst ja lange Spaziergänge.«

Miteinander stiegen sie bergauf in Richtung des Waldes. Sie gingen schweigend, denn der Vater mochte seine Gedanken nicht laut werden lassen. Der Frühling ist in den Bergen nicht ohne Gefahr: schwellende Bäche, Schneerutsche und Lawinen können einen einsamen Wanderer bedrohen. Und Dani war noch so klein!

Die Großmutter ging ins Haus zurück und betete. Und während sie betete, stand ein Bild vor ihr. Denn je schlechter die Großmutter mit ihren äußeren Augen sah, desto besser sah sie mit ihren inneren Augen. Ein finsterer Wald schien sich vor ihr zu erheben, von tiefen, gurgelnden Gewässern durchschnitten, ein Wald mit rauen, von Lawinen und Geröll unterbrochenen Wegen. Auf einem solchen Weg lief Dani dahin, die Hände voller Krokusse. Neben ihm schritt ein Engel mit weißen Flügeln, und im Schatten dieser Flügel war Schutz und Wärme und Sicherheit.

»Ihre Engel im Himmel sehen allezeit das Angesicht meines Vaters«, flüsterte Großmutter. Ganz friedevoll war ihr zumute, als sie sich erhob und das Abendessen vorbereitete.

Auf den Wiesen war nichts von Dani oder Schneeweißchen zu sehen, auch am Rand des Tannenwaldes nicht. Kreuz und quer suchten die beiden und riefen nach ihm, aber niemand antwortete ihnen außer ihr eigenes Echo und das Rauschen des Wildbachs. Allmählich sank die Sonne den Gipfeln entgegen und die Schatten auf den Wiesen wurden länger.

Plötzlich sagte Annette: »Papa, ich frage mich, ob er wohl zu Lukas gegangen ist. Ich habe die beiden in den letzten Tagen mehrmals beieinander stehen sehen. Ich will schnell zum Chalet hinunterlaufen und fragen.«

Und weg sprang sie über die Gräben und Grasbüschel und erreichte Frau Matters Haus in weniger als fünf Minuten. Ganz außer Atem hielt Annette an und rief laut:

»Frau Matter! Lukas! Wo seid ihr? Habt ihr Dani nirgends gesehen?«

Das Haus war still und verlassen. Die Bewohner konnten aber kaum weit weg sein, denn die Tür stand offen. Eben wollte Annette zum Kuhstall hinübergehen, als sie Frau Matters breite Gestalt den Fußweg von ihrem eigenen Chalet heraufkeuchen sah. Annette rannte ihr entgegen.

»Frau Matter«, rief sie lebhaft und ergriff sie bei der Hand, »wissen Sie nicht, wo unser kleiner Dani ist? Er ist weggelaufen und wir haben ihn seit über drei Stunden nicht gesehen. Meinen Sie, dass er bei Lukas ist? Und wo ist Lukas?«

»Schon möglich«, entgegnete Frau Matter nicht besonders freundlich. »Ich bin soeben bei euch unten gewesen, um zu fragen, ob ihr etwas von Lukas wisst. Der faule Bursche sollte längst daheim sein. Die Kühe schreien schon und wollen gemolken werden. Ich werde es wieder selber machen müssen, wenn er nicht angekommen ist, während ich weggewesen bin. Komm, wir wollen nachsehen!«

Sie gingen zum Stall hinüber und schoben die schwere Holztür auf. Die rotbraune Kuh stampfte und schlug mit dem Schwanz um sich. Aber kein Lukas war zu sehen. Frau Matter wandte sich mit einem ärgerlichen Ausruf ab und wollte eben die Tür schließen, als Annette sie am Ärmel fasste und den Zeigefinger an den Mund legte.

»Hören Sie?«, flüsterte sie. »Was ist das für ein Geräusch im Stroh oben?«

Eine Weile lauschten sie beide mit angehaltenem Atem. Aus dem Strohhaufen über ihnen klang es unmissverständlich nach ersticktem Schluchzen.

Wie eine wilde Katze schoss Annette die Leiter hinauf und Frau Matter folgte ihr mühsam. Beide ahnten: Es war etwas ganz Schlimmes geschehen; aber Annette dachte nur an Dani und Frau Matter nur an Lukas.

»Lukas, mein armes Kind«, rief sie, »was ist geschehen? Wo tut’s dir weh?«

»Dani«, fauchte Annette, packte Lukas am Arm und schüttelte ihn. »Wo ist er? Was hast du ihm angetan? Gib ihn sofort her!«

Lukas presste sich tiefer ins Stroh und schüttelte leidenschaftlich den Kopf. Er war völlig außer sich.

»Ich – weiß – nicht –, wo – er – ist!«, schrie er. »Es ist nicht meine Schuld.«

»Was ist nicht deine Schuld?«, schrie Annette zurück und schüttelte ihn noch mehr. »Wo ist er? Du weißt es! Und du lügst! Frau Matter, machen Sie, dass er die Wahrheit sagt!«

Frau Matter schob Annette beiseite und kniete neben Lukas nieder. Ihr Gesicht war totenbleich, denn sie hatte erraten, dass Dani etwas zugestoßen sein musste und dass Lukas davon wusste. Sie hob sein Gesicht aus dem Stroh und drehte es zu sich hin.

»Lukas«, befahl sie und versuchte, ruhig zu sprechen. »Sag es mir sofort: Wo ist Dani?«

Lukas starrte sie verzweifelt an und begriff, dass es unmöglich war auszuweichen.

»Er ist tot«, stieß er hervor, grub das Gesicht aufs Neue ins Stroh und schluchzte drauflos.

Annette hatte es gehört, aber sie regte sich nicht. Sekundenlang war sie unfähig, sich zu bewegen. Im Dämmerlicht schien ihr Gesicht aschfahl, sodass Frau Matter fürchtete, sie würde gleich ohnmächtig hinfallen, und versuchte, den Arm um sie zu legen. Aber Annette sprang zur Seite. Dann sprach sie mit einer heiseren Stimme, die gar nicht ihr zu gehören schien:

»Du musst kommen und uns zeigen, wo er ist. Dann kann ihn mein Vater wenigstens heimtragen. Und später«, fügte sie halblaut hinzu, »später bringe ich dich um.«

Frau Matter überhörte das Letztere, aber das, was Annette zuvor gesagt hatte, kam ihr vernünftig vor. Sie ergriff ihren Jungen am Arm, stellte ihn auf seine Füße und schleppte ihn die Leiter hinunter. Unten angekommen, drang sie nochmals in ihn:

»Komm, Lukas, du musst uns zeigen, wo Dani ist, und zwar schnell, sonst kommt Herr Brunner mit der Polizei, um dir Beine zu machen.«

Diese Drohung brachte ein bisschen Vernunft in Lukas’ wirre Gedanken, und er stapfte bergauf, so schnell er konnte. Er schluchzte unaufhörlich und beteuerte, dass er nicht schuld sei. Frau Matter schluchzte ebenfalls, aber Annette vermochte keine Träne zu vergießen. Ihre Tränen waren vor Elend und verhaltener Wut wie festgefroren.

In kürzester Zeit hatten sie das Mäuerchen erreicht, und Lukas zeigte in die finstere Schlucht hinunter.

»Da unten ist er, im Bach ertrunken«, wimmerte er. Dann warf er sich zu Boden und drückte das Gesicht ins Gras. In diesem Augenblick erschien Herr Brunner am Waldrand und eilte auf die Gruppe zu.

Er beachtete Lukas nicht. Er warf einen Blick auf seine Tochter und einen zweiten auf die Felsen, und bei diesem flüchtigen Blick sah er etwas, das keiner der anderen bemerkt hatte: ein zitterndes weißes Kätzchen, auf einem Felsvorsprung kauernd, am äußersten Rand eines überhängenden Felsblocks. Nun wusste er, was er zu tun hatte. »Ich muss ein Seil holen«, sagte er bloß und rannte den Abhang hinunter wie ein von wilden Tieren Verfolgter.

Großmutter stand an der Tür und auch sie las in seinen Zügen alles, was sie vorläufig zu wissen brauchte. Wortlos sah sie ihm zu, wie er sein Bergseil von der Wand nahm und damit in die anbrechende Dunkelheit hinauseilte.

»In der Schlucht«, rief er ihr noch zu und verschwand.

Da setzte Großmutter Wasser aufs Feuer, suchte altes Bettzeug heraus und füllte eine große metallene Wärmflasche, um für alle Fälle gerüstet zu sein. Dann setzte sie sich, schloss die Augen und faltete die Hände. Wieder sah sie Dani vor sich, diesmal von den kalten Wassern der Schlucht ergriffen; aber die weißen Flügel des Engels stemmten sich gegen die Strömung und Dani wurde von seinen starken Armen aufgehoben.

»Er wird seinen Engeln befehlen über dir«, flüsterte Großmutter. Dann stieg sie die Treppe hinauf, um Danis Bett zu wärmen.

Der Vater war in erstaunlich kurzer Zeit wieder am Berg oben, aber den Wartenden kam es trotzdem wie Stunden vor. Niemand sprach, als er das Seil an einem Baumstamm sicherte und es sich um den Leib legte. Dann kletterte er über die schlüpfrigen Felsen und ließ sich über den Rand hinunter. Über dem Abgrund hängend, wagte er es, in die tobenden Fluten zu blicken, die sein Kind weggetragen haben mussten. Doch was er sah, trieb eine Welle der Hoffnung in sein Herz und einen Schrei auf seine Lippen.

Denn Großmutter hatte richtig gesehen. Die Engel hatten über Dani gewacht, als er gestürzt war, sodass er gar nicht bis zum Wasser hinuntergelangt war. Er war auf einen herausragenden Felsvorsprung gefallen, und da lag er flach auf dem Rücken, das eine Bein unter sich umgebogen, und wartete schluchzend, dass jemand käme und ihn heraufholte. Die Zeit war ihm lang vorgekommen, und Dani meinte später, er werde wohl ein Weilchen geschlafen haben, denn er wusste nicht viel über jene zwei Stunden. Die klare Erinnerung setzte erst da ein, wo sein Vater wie ein mächtiger Vogel über ihm schwebte, dann bei ihm Fuß fasste und neben ihm niederkniete.

»Papa«, murmelte Dani mit zitternder Stimme, »wo ist Schneeweißchen?«

»Genau über dir«, erwiderte sein Vater, voller Erleichterung in das kleine, blasse Gesicht blickend. »Wir nehmen es auf dem Rückweg gleich mit.«

»Papa, mein Bein tut so weh und ich kann’s gar nicht bewegen. Wirst du mich heimtragen?«

»Selbstverständlich. Deshalb bin ich doch gekommen. Ich will dich sogleich heimtragen.« Und er legte die Arme um seinen kleinen Sohn.

»Aber Papa«, setzte die ängstliche, schwache Stimme wieder ein, »kannst du uns beide tragen, Schneeweißchen und mich miteinander? Du lässt doch das Kätzchen nicht da, oder? Es ist Zeit, dass es seine Milch bekommt, es hat sicher Durst.«

»Schneeweißchen kommt in meine Tasche«, versprach der Vater und hob das Kind sehr, sehr sorgfältig vom Boden auf. Dani stöhnte, denn sein Bein schmerzte schrecklich, sobald er es bewegte. Aber er hielt die Augen auf das Gesicht seines Vaters geheftet und war so tapfer, wie man es mit fünf Jahren überhaupt sein kann.

Es wurde ein langer, mühsamer Rückweg. Danis Vater konnte mit dem Kleinen im Arm nicht die Felsen hinaufklettern; er musste sich bis zum Ufer des Wildbachs hinunterlassen und einen Weg am Bach entlang suchen, bis dorthin, wo die Wand weniger steil abfiel. Dani versank in eine Art Betäubung und schien nichts mehr mitzubekommen, bis sein Vater ihn neben Annette ins Gras niederlegte. Da schlug er die Augen auf und fragte: »Hast du Schneeweißchen in der Tasche, Papa?«

»Ich hole es jetzt«, erwiderte der Vater. Sich am Seil festhaltend, rutschte er nochmals zum Rand des Abgrunds hinaus, ergriff das weiße Kätzchen und brachte es zu Dani. Dieser streckte die Arme aus und Schneeweißchen schmiegte sich an seine Brust und schnurrte. Da, zum ersten Mal an diesem aufregenden Abend, brach Annette in Tränen aus.

Sie legte den Kleinen auf Frau Matters Mantel und Herr Brunner trug die kostbare Last langsam, behutsam den Abhang hinunter, nach Hause, während Annette mit Schneeweißchen auf dem Arm folgte. Ein trauriger kleiner Zug! Und doch waren ihre Herzen voller Dankbarkeit: Dani war am Leben und hatte gesprochen. Das war vorläufig genug.

Doch niemand, nicht einmal seine Mutter, hatte einen Gedanken übrig für Lukas, der noch immer zusammengekauert am Fuße der Mauer lag. Als er den Kopf hob und merkte, dass man ihn allein gelassen hatte, allein in der Nacht, da fühlte er sich von der ganzen Welt verstoßen und vergessen. Er richtete sich auf, schlich in der Dunkelheit nach Hause und kroch schlotternd in sein Bett, so einsam und elend, wie nur je ein Junge auf diesem Erdenrund gewesen war.

Spuren im Schnee

Подняться наверх