Читать книгу Spuren im Schnee - Patricia St. John - Страница 7
Оглавление2. Kapitel
So kam es, dass der kleine Daniel Brunner schon drei Stunden nach seiner Geburt nicht wie andere Kinder eine erwachsene Frau zur Mutter hatte, sondern seine siebenjährige Schwester Annette. Zwar blieb die freundliche Gemeindeschwester noch eine Zeit lang im Haus, um den Kleinen zu versorgen, und als sie ging, stellte der Vater eine Frau aus dem Dorf an, um ihn zu pflegen. Aber er gehörte zu Annette und niemand nannte ihn je anders als »Annettes Kleiner«.
Als nämlich der erste große Schmerz vorüber war, holte Annette aus der Tiefe ihres einsamen, traurigen Herzens den ganzen Reichtum ihrer Liebe herauf und schüttete ihn über ihren kleinen Bruder aus. Sie hielt ihm das Fläschchen, wenn er trank, und saß stundenlang neben seiner Wiege, für den Fall, dass er aufwachen und nach ihr verlangen möchte. Sie war es, die nachts zu ihm lief, wenn er aufwachte oder im Schlaf wimmerte. Sie war es, die ihn um die Mittagszeit auf den Balkon hinaustrug. Und in dieser Atmosphäre sonniger Liebe gedieh der Kleine, sodass bald im ganzen Tal kein fröhlicheres, kräftigeres Kind zu finden war. Er schlief und erwachte und lachte und aß und strampelte und schlief wieder ein. Er verursachte nie auch nur einen Augenblick der Sorge.
»Er ist unter einem guten Stern geboren«, behauptete die Frau vom Dorf und betrachtete ihn gedankenvoll.
»Er ist unter einem Weihnachtsstern geboren«, erwiderte Annette ernsthaft. »Ich glaube, er wird immer zufrieden und glücklich sein.«
Und wie er wuchs! Als die Sonne die Schneemassen zu schmelzen begann und in den gelblichen Wiesen die Krokusse ans Licht lockte, musste er größere Kleider haben. Und gleich, nachdem die Kühe zur Alm hinaufgezogen waren, brach sein erstes Zähnchen durch. Da Annette nichts von ersten Zähnen wusste und keine Beschwerden erwartete, vergaß der Kleine selbst, dass es eine beschwerliche Sache sein sollte. Anstatt zu jammern und zu schreien, kicherte und lachte er und lutschte an seiner Faust.
Als dann die Buchenblätter wie goldene Fackeln unter den dunklen Tannen leuchteten und die ersten Herbststürme über die Berge fegten, wurde die Wiege zu klein für Dani, der nun auf dem Boden herumzurutschen begann. Vom Ofen bis zur Balkontreppe wollte er alles erforschen, sodass Annette einige aufregende Wochen erlebte und ihn aus allen möglichen Gefahren erretten musste. Schließlich fand sie, sie könne die Spannung nicht länger ertragen, und band ihm den einen rosigen Fuß am Küchentisch fest. Nun konnte er im Kreis herum Entdeckungsreisen unternehmen und das Leben wurde wieder ruhiger.
Eines Abends, nachdem sie Dani zu Bett gebracht hatte, kam Annette in die Wohnstube herunter und fand ihren Vater beim Ofen sitzen, den Kopf in die Hände gestützt. Er sah alt und müde aus. Das war zwar öfter der Fall, seit Mutter gestorben war; aber heute sah er noch schlechter aus als sonst. Annette, die sich alle Mühe gab, die Lücke auszufüllen, die ihre Mutter hinterlassen hatte, kletterte auf seine Knie und legte ihre weiche Wange an die knochige, braune ihres Vaters.
»Was ist los, Papa?«, fragte sie. »Bist du heute besonders müde? Soll ich dir eine Tasse Kaffee kochen?«
Forschend blickte der Vater auf seine Tochter herab. Sie sah so klein und zierlich aus wie eine Elfe mit goldenem Haar. Und dabei war sie so vernünftig und mütterlich! Er wusste nicht, wie es gekommen war, aber im vergangenen Jahr hatte er es sich angewöhnt, seine Schwierigkeiten mit ihr zu teilen und sich sogar ihre ernsthaften Ratschläge anzuhören. So drückte er jetzt ihren Kopf an seine Schulter und erzählte ihr alles.
»Wir werden eine Kuh verkaufen müssen, Annette«, erklärte er traurig. »Wir müssen mehr Geld haben, sonst gibt’s keine Winterschuhe für dich.«
Annette hob den Kopf und starrte ihn entsetzt an. Sie hatten bloß sechs Kühe und an jeder einzelnen hingen sie wie an einem persönlichen Freund. Welche auch gehen müsste, sie würde ihnen schrecklich fehlen. Nein, sie musste einen besseren Weg ausfindig machen, um Geld zu verdienen!
»Schau«, fuhr der Vater fort, »in anderen Familien ist eine Mutter da, um für die Kinder zu sorgen; ich aber muss eine Hilfe bezahlen, um Dani zu pflegen. Das ist teuer. Und doch muss jemand ihn versorgen, den armen kleinen Kerl.«
Da richtete sich Annette sehr gerade auf und warf energisch die Zöpfe zurück. Sie sah ihren Weg ganz klar vor sich. Nun musste sie nur ihren Vater dazu bringen, ihn auch zu sehen.
»Papa«, sagte sie langsam und deutlich, »du brauchst Frau Hauser nicht mehr. Ich bin jetzt achteinhalb und ich kann Dani ebenso gut versorgen wie irgendwer. Mir brauchst du keinen Rappen zu zahlen und dann können wir die Kühe behalten. Denk doch, Papa, wie traurig sie wären, wenn sie von uns wegmüssten! Ich glaube wahrhaftig, Bless würde weinen.«
»Aber du musst doch zur Schule«, widersprach der Vater. »Es wäre nicht recht, dich zu Hause zu behalten. Und überhaupt, es ist gegen das Gesetz. Der Lehrer würde fragen, warum du nicht kommst, er müsste es der Schulbehörde melden, und was dann?«
»Es ist aber viel wichtiger, für Dani zu sorgen«, entgegnete Annette und runzelte die Stirn. »Wenn du es dem Lehrer erklärst, begreift er das sicher. Er ist ein freundlicher Mann und sogar ein Schulfreund von dir. Wir wollen es doch versuchen und sehen, wie’s geht. Weißt du, Papa, ich mache dann jeden Morgen Schularbeiten und Dani kann währenddessen am Boden spielen. Es ist ja bloß für vier Jahre! Wenn Dani fünf ist, kann er in den Kindergarten; dann nehme ich ihn mit ins Dorf hinunter und gehe selber wieder zur Schule.«
Der Vater schaute sie immer noch gedankenvoll an. Es war schon so: Sie verstand es ebenso gut wie eine Frau, mit dem Kind umzugehen, und im Haushalt war sie wunderbar geschickt. Aber sie konnte trotzdem noch nicht kochen und Strümpfe stricken oder schwere Arbeiten verrichten und außerdem sollte sie doch einigermaßen unterrichtet werden. Ganze fünf Minuten saß der Vater schweigend da. Dann kam ihm ein rettender Einfall.
»Ich frage mich, ob Großmutter wohl zu uns käme?«, sagte er. »Sie ist alt und leidet an Rheuma, auch sieht sie nicht mehr gut. Aber sie könnte vielleicht das Kochen und Flicken übernehmen und dir am Abend bei den Schularbeiten helfen. Sie würde dir auch Gesellschaft leisten, wenn ich auf der Alm bin. Du bist zu jung, um den ganzen Tag allein zu bleiben. Vielleicht behält der Lehrer die Sache für sich, wenn ich ihm schreibe, dass die Großmutter dich unterrichtet, so gut sie kann. Vielleicht kannst du auch ein Jahr oder zwei eher wieder zur Schule, wenn die Großmutter hier ist. Dani wird doch mit der Zeit auch vernünftiger!«
Behände rutschte Annette von den Knien ihres Vaters herunter und holte zwei Bogen Schreibpapier, Feder und Tinte aus dem Schrank.
»Schreib den beiden gleich!«, bat sie. »Ich werfe die Briefe morgen früh ein, wenn ich Brot holen gehe. Dann haben wir die Antwort ganz schnell.«
Annette sollte recht behalten: Schon in den nächsten Tagen erhielten sie Antwort auf beide Briefe. Die erste Antwort kam in Gestalt der Großmutter, die mit der Eisenbahn anreiste, begleitet von einer hölzernen Truhe, die zur Sicherheit fest mit einem Strick umwickelt war. Da sie einen Tag vorher ihre Ankunft angekündigt hatte, ging Annette zum Bahnhof, um sie abzuholen. Sie sah zu, wie die kleine elektrische Bahn zwischen den Heuwiesen das Tal heraufkroch. Der Zug hatte ziemlich Verspätung und der Zugführer erklärte ärgerlich, eine Kuh sei daran schuld, denn sie habe sich aufs Gleis verlaufen. Deshalb fuhr er nun so schnell wieder ab, dass die arme Großmutter, gebeugt und verkrüppelt, wie sie war, kaum Zeit hatte auszusteigen. Ihre Truhe wurde unsanft auf den Bahnsteig gestellt, als der Zug schon wieder in Bewegung war.
Großmutter jedoch regte sich nicht auf. Sie lehnte sich schwer auf ihren Stock. Wie sollte sie auf den Berg hinaufkommen? Annette, die nichts von Rheuma wusste, schlug vor, dass sie gehen sollten. Aber die Großmutter sagte bloß: »Unsinn, Kind!«
Schließlich nahm ein Fuhrwerk sie mit. Der Fuhrmann hatte Käse zur Bahn gebracht und fuhr nun wieder bergauf. Die Straße war holperig, die Räder aus Holz, und das Maultier hatte einen unregelmäßigen Gang. Es war deshalb kein Wunder, dass die Großmutter die Fahrt viel weniger genoss als ihre Enkelin. Aber die alte Frau biss die Zähne zusammen und ließ keine Klage laut werden. Erst als sie sicher in der Sofaecke beim Ofen saß, ein Kissen im schmerzenden Rücken, und Annette geschäftig umherlief, um ihr eine Tasse Kaffee zuzubereiten, da stieß die gute Großmutter einen einzigen, langen Seufzer der Erleichterung aus.
Unter dem Tisch hervor guckte Dani, der wie immer auf dem Boden herumrutschte. Er streckte zwei Finger in den Mund und strahlte die Großmutter an, die ihre Brille aufsetzte, um ihn besser betrachten zu können. Ein paar Augenblicke lang musterten sie sich gegenseitig, die trüben alten Augen und die vergissmeinnichtblauen, dann warf Dani den Kopf zurück und lachte.
»Das Kind scheuert seinen Hosenboden durch«, stellte die Großmutter fest und nahm sich Brot, Butter und Kirschenmarmelade. »Es sollte krabbeln lernen.«
Sie sagte nichts mehr, bis sie ihre Mahlzeit beendet hatte. Dann schüttelte sie die Krümel von ihrem schwarzen Kleid und erhob sich, indem sie sich mühsam auf ihren Stock stützte.
»So«, sprach sie, »da wäre ich also. Was ich tun kann, das will ich tun. Was ich nicht schaffe, musst du tun, Annette. Komm, dreh den Kleinen auf die richtige Seite und zeig mir die Küche.«
Von diesem Augenblick an tat Großmutter, was sie konnte, Annette tat das Übrige, und alles lief wie am Schnürchen. Nur Dani kümmerte sich nicht um Großmutters Ansicht: Er rutschte quietschvergnügt weiter auf seinem Hosenboden rings um das Tischbein herum. Nach ein paar Tagen musste Annette deshalb zum Krämerladen laufen und einen halben Meter dicken schwarzen Filz kaufen. Davon setzte Großmutter große runde Flicken auf Danis sämtliche Hosen. Es sah ein bisschen ungewöhnlich aus, aber der Zweck war erfüllt. Schließlich waren ja die Hosenböden nicht oft sichtbar, denn sie waren meistens unten.
Die zweite Antwort kam in Gestalt des Dorfschullehrers, der sich an einem Samstagnachmittag vom Tal heraufbemühte, um mit Vater Brunner zu sprechen. Dieser war eben mit Melken beschäftigt, als er durchs Stallfenster den Lehrer kommen sah. Er eilte unverzüglich zur Hintertür hinaus und versteckte sich auf dem Heuboden. Er war kein redegewandter Mann und fürchtete, bei der unvermeidlichen Auseinandersetzung den Kürzeren zu ziehen. Annette, die gerade in diesem Augenblick zum Stubenfenster hinausschaute, sah die Beine ihres Vaters oben auf der Leiter verschwinden, als der Lehrer um die Ecke bog. Da wusste sie genau, was man von ihr erwartete.
Sie öffnete die Tür, bat den Lehrer einzutreten und bot ihm höflich den besten Stuhl an. Der Lehrer mochte Annette sehr gern und sie ihn, aber heute waren sie beide ein wenig scheu voreinander. Großmutter faltete die Hände und richtete sich auf wie ein altes Schlachtross, das den Kampf wittert.
»Ich bin gekommen, um mit deinem Vater zu sprechen«, begann der Lehrer und hustete nervös. »Es ist wegen des Briefes über dein Wegbleiben von der Schule. Ich muss sagen, ich finde es nicht richtig für ein Kind in deinem Alter. Und überhaupt, es ist gegen das Gesetz!«
»Die Hüter des Gesetzes werden nichts über Annette hören, wenn Sie es ihnen nicht zu Ohren bringen«, unterbrach die Großmutter. »Außerdem werde ich das Kind selbst unterrichten. Es darf doch nicht sein, dass ein kleines Kind in Danis Alter ohne die Aufsicht seiner Schwester bleibt!«
»Können Sie denn nicht nach ihm sehen?«, schlug der Lehrer freundlich vor.
»Nein, wahrhaftig nicht! Meine Augen sind so schlecht, dass ich nicht sehe, wo er hingeht, und meine Arme so rheumatisch, dass ich ihn nicht aufheben kann, wenn er umfällt. Und übrigens: Er saust ja drauflos wie ein Eilzug, ich aber bin fast achtzig Jahre alt. Sie wissen nicht, was Sie sagen!«
Der Lehrer schaute nachdenklich auf Dani herab, der mit dem Gesicht nach unten im Holzstoß lag und Holzspäne knabberte. Außer den schwarzen Filzflicken und zwei rundlichen braunen Beinen war nicht viel von ihm zu sehen.
Der arme Lehrer befand sich in ziemlicher Verlegenheit. Ob sein alter Freund vernünftiger wäre? Er wandte sich an Annette und fragte: »Wann wird dein Vater zurück sein?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Annette. »Er kommt wahrscheinlich eine ganze Weile nicht zurück. Es lohnt sich bestimmt nicht zu warten, Herr Lehrer.« Sie wusste wohl: Ihr Vater würde sich erst im Haus zeigen, wenn der Schulmeister um die Wegbiegung verschwunden war.
Nachdenklich saß der Lehrer da. Er war ein guter Mensch, der sich aufrichtig um Annette und seine Pflichten ihr gegenüber kümmerte. Aber er wollte seinen alten Freund gern davor bewahren, mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten, zumal das Kind ganz offensichtlich zu Hause nötig war. Endlich fiel ihm eine Lösung ein. Es war zwar keine besonders gute, aber sie war besser als gar keine.
»Ich will die Sache auf sich beruhen lassen«, sagte er, »jedoch unter einer Bedingung: Jeden Samstagnachmittag, wenn Annette ins Dorf herunterkommt, um einzukaufen, soll sie mich zu Hause aufsuchen und ich werde sie prüfen. Finde ich, dass sie Fortschritte macht, so will ich schweigen, stelle ich aber fest, dass sie nichts lernt, so muss ich darauf bestehen, dass sie zur Schule kommt wie alle übrigen Kinder.«
Er gab sich Mühe, streng aufzutreten. Aber Annette strahlte ihn an und Dani, der wohl spürte, dass ein Familiensieg in der Luft lag, richtete sich plötzlich in die Höhe und krähte wie ein Hahn. Der Lehrer betrachtete die beiden mutterlosen Kinder, lächelte liebevoll und verabschiedete sich. Und kaum war er außer Sehweite, rannte Annette zur Tür und rief ihren Vater vom Heuboden herab, damit er die allgemeine Freude teilen könnte.
So kam es, dass Annette jeden Samstag an die Tür des großen weißen Hauses klopfte, in dem der Lehrer wohnte. Auf dem Rücken trug sie den großen Tragkorb und in der Hand ein altes Schulbuch und immer empfing sie der Lehrer mit großer Freundlichkeit. Im Winter saßen sie am warmen Ofen und verspeisten Apfelkuchen mit heißer Schokolade und im Sommer setzten sie sich auf den Balkon und aßen Kirschen oder tranken süßen Saft. Danach begann die Prüfung.
Zuerst kam stets das Rechnen an die Reihe. Aber Annette war in diesem Fach nicht besonders gut, und weil sie nur selten die Antworten wusste, fand der Lehrer jedes Mal nach einigen Minuten, dass es bloß Zeitverschwendung sei, weiterzufragen, und sie gingen zur Geschichte über. Da brauchte Annette nicht ausgefragt zu werden! Sie beugte sich vor, faltete die Hände um ihre Knie und erzählte: wie Wilhelm Tell für die Freiheit der Schweiz gekämpft hatte und wie sein mutiger kleiner Junge ruhig dastand, als der Apfel auf seinem Kopf von dem sausenden Pfeil getroffen wurde. Sie berichtete von dem tapferen Gefangenen in Schloss Chillon am See unten, der so lange in seinem Verlies auf- und abgegangen war, dass die harten Pflastersteine des Fußbodens von seinen Schritten abgenutzt wurden. Auch von den Kämpfen der Kantone wusste sie zu berichten.
Und dann erzählte sie die Legende von der lieblichen Lucy, die ihre Kühe auf die Weide getrieben hatte und vom Schlossherrn von Gruyere entführt wurde. In ihrem steinernen Kerker verzehrte sie sich in Sehnsucht nach den Wäldern, Weiden und Bergen ihrer Heimat, bis sie schließlich an einem gebrochenen Herzen starb.
Darauf wiederholten sie die Geschichte der Waldenser Märtyrer, die um ihres Glaubens willen verfolgt wurden und Psalmen singend in den Tod gingen. Ihre Körper wurden in den Abgrund hinabgestürzt, aber ihr Glaube und ihre Liebe lebten weiter und ihr Geist entfloh zu ihrem Gott. Annette und ihr Lehrer blickten sich jeweils mit leuchtenden Augen an, denn sie hielten beide große Stücke auf Mut und Beherztheit. Und schließlich gingen sie zur biblischen Geschichte über. Annette hatte die Bibel schon recht gut kennengelernt, seit sie der Großmutter jeden Abend daraus vorlesen musste.
Wenn sie so weit gekommen waren, hatte der Lehrer regelmäßig vergessen, dass er Annette für ihren Mangel an Eifer im Rechnen tadeln wollte. Stattdessen gab er ihr neue Bücher zu lesen und steckte ihr heimlich allerlei Backwerk in den Korb. Dann nahmen sie sehr herzlich Abschied voneinander und er blieb an der Haustür stehen und sah ihr nach, bis sie den Waldrand erreichte. Dort drehte sie sich nämlich jedes Mal um und winkte nochmals zurück.
Vor Jahren hatte dieser Lehrer eine blonde junge Frau lieb gehabt, die hoch oben am Berg wohnte. Für sie hatte er sein weißes Haus gekauft und es wohnlich eingerichtet. Aber sie war Blumen pflücken gegangen und eine unerwartete, späte Lawine hatte sie mit in die Tiefe gerissen. Seitdem war der Lehrer einsam geblieben. In seinen Träumen aber war »sie« immer bei ihm und auch ein Töchterchen mit weizengelben Flechten und enzianblauen Augen, das auf einem Schemel zu seinen Füßen saß. Dieser Teil seines Traumes wurde nun an den Samstagnachmittagen Wirklichkeit.