Читать книгу Dr. Norden Bestseller Paket 1 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 13

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Dr. Daniel Norden war mit einigen Untersuchungsbefunden beschäftigt, die ihm einiges Kopfzerbrechen bereiteten, als Helga Moll, seine Sprechstundenhilfe, an seinen Schreibtisch trat.

»Ist noch etwas, Molly?«, fragte er freundlich.

»Frau Hollenberg ist eben gekommen. Sie möchte nur ein Rezept. Sie sieht sehr elend aus.«

Dr. Norden sah Helga Moll geistesabwesend an. Die Untersuchungsbefunde, mit denen er sich gerade befasst hatte, bezogen sich auf eben diese Frau Hollenberg.

Er fuhr sich mit der Hand über die Augen, als wolle er düstere Bilder wegwischen.

»Einen Augenblick noch«, sagte er heiser.

Was hat er nur? dachte Helga Moll. Was mag ihn so sehr beschäftigen, dass er so geistesabwesend ist?

Dr. Daniel Norden betrachtete die beiden Karten, die vor ihm lagen. Astrid Hollenberg, zweiundvierzig Jahre alt, Ehefrau des Bankdirektors Matthias Hollenberg, Mutter eines zweiundzwanzigjährigen Sohnes und einer zwanzigjährigenTochter, war noch nicht lange seine Patientin. Doch waren schon zwei Karten mit vielerlei Bemerkungen gefüllt.

Vor vier Monaten hatte man ihn zum ersten Mal in das Haus des Bankdirektors gerufen, einem der schönsten Häuser weit und breit, da hatte Astrid Hollenberg eine schwere Grippe gehabt.

Nein, jetzt hatte er keine Zeit mehr, dies alles zu überdenken. Schnell steckte er die Karten weg, damit Frau Hollenberg sie nicht zufällig sah. Gleich darauf betrat sie das Sprechzimmer.

Vor vier Monaten war sie, trotz der Grippe, eine auffallend schöne Frau gewesen, jetzt war sie nur noch ein Schatten ihrer selbst, eher mager als schlank zu nennen, durchsichtig blass, die Augen tief umschattet.

Daniel Norden war aufgestanden und schob ihr schnell einen Stuhl hin. Er sah, dass ihre Hände zitterten und sich Schweißtropfen auf ihrer Stirn bildeten. Sprechen konnte sie momentan gar nicht.

»Es geht Ihnen nicht gut«, stellte er fest. »Warum haben Sie mich nicht rufen lassen?«

»Es braucht niemand zu wissen, dass ich mich nicht wohl fühle«, erwiderte sie bebend. »Übermorgen wollen wir die Verlobung meiner Tochter feiern, da muss ich wohlauf sein. Bitte, verschreiben Sie mir ein Medikament, das mir wenigstens über die paar Tage hinweghilft.« Müde und kraftlos klang ihre Stimme.

Sie gehört ins Bett, dachte Daniel Norden, besser noch gleich in eine Klinik. Er konnte die Befunde nicht vergessen. Es musste etwas geschehen. Das konnte und durfte er ihr nicht verheimlichen.

Und er wusste doch nicht, wie er anfangen sollte, als die schönen kummervollen Augen ihn anblickten.

»Bitte, Herr Doktor«, sagte sie leise. »Es muss doch etwas geben, das mich von diesen grässlichen Schmerzen befreit.«

»Vorübergehend ja«, erwiderte er. »Aber wie lange ein solches Mittel wirkt, ist von Fall zu Fall verschieden. Ist Ihre Gesundheit nicht wichtiger als die Verlobungsfeier? Ihre Tochter würde das doch sicher einsehen.«

»Trixi schon, aber soll ich ihr denn alles verderben? Sie ist jung, sie freut sich so sehr. Sie ist glücklich. Und auch mein Mann hat an unserem zukünftigen Schwiegersohn nichts auszusetzen. Er würde denken –«, sie unterbrach sich und blickte auf ihre Hände, die sich fest ineinander verschlungen hatten.

»Was würde er denken?«, fragte Dr. Norden behutsam.

»Dass ich diese Verlobung hintertreiben will. Ich bin nicht so ganz damit einverstanden damit wie er«, flüsterte sie.

Das allerdings waren nun sehr private Dinge, in die er sich nicht einmischen konnte und wollte, aber Astrid Hollenberg war seine Patientin. Er trug die Verantwortung für sie.

»Ich werde Ihnen jetzt eine Injektion machen, die Ihnen helfen wird«, sagte er. »Aber dann müssen wir uns doch noch unterhalten, gnädige Frau.«

Sie nickte automatisch. Schnell hatte Daniel die Injektion aufgezogen und ebenso schnell gespritzt.

»Bleiben Sie liegen«, sagte er, »ruhen Sie sich ein bisschen aus, bis die Wirkung eintritt.«

Sie nickte wieder.

Er lehnte sich in seinen Sessel zurück.

»Ich halte eine klinische Untersuchung für dringend erforderlich«, sagte er. »Bitte, erschrecken Sie nicht, es ist eine Vorsichtsmaßnahme. Meine Mittel reichen nicht aus, um die Ursache Ihrer Schmerzen festzustellen. Es ist meine Pflicht, Sie darauf aufmerksam zu machen, dass die Blutsenkung und das Blutbild zu äußerster Vorsicht mahnen.«

Er beobachtete sie, während er dies sagte. Die tiefe Resignation, die ihr Gesicht anfangs so schmerzzerrissen erscheinen ließ, schwand mehr und mehr. Ihre Augen bekamen wieder Glanz.

»Es geht mir schon viel besser«, sagte sie. »Warum haben Sie mir dieses Mittel nicht schon längst gespritzt? Es hilft doch. Ja, es hilft!«

Ihre Stimme war lauter und kräftiger geworden, auch freudiger, obgleich doch ein leiser Vorwurf in ihr schwang.

»Es ist ein Betäubungsmittel, das unter Umständen Süchtigkeit nach sich ziehen kann«, erklärte Dr. Norden, »ich habe es Ihnen nicht gegeben, damit Sie die Verlobung gut überstehen, sondern von den quälenden Schmerzen befreit werden. Aber ich denke, dass Sie sich nicht nur betäuben, sondern gesund werden wollen. Deshalb möchte ich Sie nochmals eindringlich ermahnen, auf meinen Rat zu hören und sich einem Facharzt anzuvertrauen.«

»Welchem?«, fragte sie.

Daniel zögerte. »Dr. Gordon«, sagte er.

»Was ist das für ein Arzt?«

Die Frage hatte er gefürchtet, da ihr der Name nicht bekannt war.

»Ein Neurochirurg.«

Ihre Augen weiteten sich. Sie wirkten riesengroß in dem schmalen Gesicht.

»Ich bin doch nicht nervenkrank«, sagte sie bebend. »Ich bilde mir diese Schmerzen nicht ein.«

»Das soll damit nicht gesagt sein. Ich nehme an, dass ein Gliom diese Schmerzen bewirkt. Es kann durchaus ein gutartiges Gliom sein, das auf das Nervensystem drückt, aber wenn Sie nicht davon befreit werden, werden die Schmerzen immer schlimmer.«

»Immer schlimmer«, wiederholte sie schleppend. »Noch schlimmer? Aber jetzt geht es mir doch gut. Ich spüre gar nichts mehr.« Sie lachte auf. »Kommen Sie zu der Verlobungsparty«, fuhr sie heiter fort. »Überzeugen Sie sich, wie gut es mir geht.«

Ihr Gesicht hatte wieder Farbe bekommen, ihre Augen glänzten. Sie glänzten unnatürlich, aber das würde wohl nur ein Arzt bemerken. Doch aller Charme, der sie in gesunden Tagen so begehrenswert machte, zeigte sich auch jetzt. »Und meinetwegen bringen Sie auch Ihren Neurologen mit, wenn Sie ihn so gut kennen. Ja, es würde mich freuen, Sie bei uns begrüßen zu können.«

Sie kramte in ihrer Handtasche, nahm eine Büttenkarte heraus und sagte nahezu euphorisch: »Bitte, da ist die Einladung.«

Sie sprach phantastisch auf dieses Medikament an, aber Dr. Daniel Norden wusste nur zu gut, dass seine Wirkung nicht länger als vierundzwanzig Stunden anhalten würde. Er ließ sich nicht so täuschen von ihren beschwingten Schritten wie Molly.

»Nanuchen?«, fragte sie verdutzt, »sind Sie unter die Wunderheiler gegangen? Vorhin konnte sich Frau Hollenberg doch kaum aufrecht halten.«

Er sagte einen Namen, und da wurde die gute Molly blass.

»Guter Gott«, seufzte sie, »und was kommt danach?«

»Meiner Meinung nach nur eine Operation, und dann können wir nur hoffen, dass sie gelingt.«

»Dann waren es ihre Befunde, über denen Sie so gebrütet haben?«, kombinierte sie.

»Ja, Molly, und jetzt ist mir mies. Sie wollen übermorgen die Verlobung ihrer Tochter feiern, und dazu hat sie mich auch noch eingeladen.«

»Was werden Sie tun?«

Er überlegte ein paar Sekunden. »Hingehen, um eventuell das Schlimmste zu verhindern. Und jetzt werde ich gleich mal Michael Gordon anrufen und ihn fragen, ob er nicht mit von der Partie sein will.«

*

Dr. Michael Gordon war seit vier Monaten Chefarzt an der Neurochirurgischen Klinik. Vom gleichen Jahrgang wie Dr. Norden, hatte er bereits eine steile Karriere gemacht, die er allerdings keiner Protektion, sondern seinen besonderen Fähigkeiten verdankte. Dazu war er ein sehr interessanter Mann, bei dessen Erscheinen in dieser Klinik sogleich die Herzen aller Schwestern höher geschlagen hatten, auch das Herz der Narkoseärztin Cornelia Kuhlmann, deren Herz allerdings leicht entflammbar war.

In diesen vier Monaten war es allerdings keiner gelungen, diesem ernsten Männergesicht auch nur ein einziges Lächeln zu entlocken.

Das gelang nur kranken Kindern, die ihm anvertraut waren. Wenn Dr. Gordon mit ihnen allein war, entfaltete sich der ganze Gefühlsreichtum dieses Mannes, der sich diesem Beruf verschrieben hatte, weil er hatte miterleben müssen, wie seine jüngere, über alles geliebte Schwester an einem inoperablen Gehirntumor gestorben war.

Mit aller Leidenschaft und innerer Beteiligung wollte er solchen Leiden Einhalt gebieten, helfen und heilen, wo andere schon aufgegeben hatten. Aber immer und immer wieder musste er die deprimierende Erkenntnis gewinnen, dass auch noch so heißes Helfenwollen seine Grenzen hatte. Das hatte ihn über seine Lebensjahre hinaus ernst und reif gemacht. Ein Privatleben kannte er kaum. Ab und zu traf er sich mit Daniel Norden, aber als dieser ihn anrief, um ihn zu einer Party einzuladen, war er doch verwundert.

»Was soll ich da, Daniel?«, fragte er.

»Das erkläre ich dir. Es hat seinen guten Grund. Es geht um eine Patientin. Ich brauche deine Hilfe. Michael.«

Seine Hilfe versagte er niemandem, und er wusste mittlerweile auch, dass Daniel genauso wenig an Partys gelegen war wie ihm. Daniel war schließlich verlobt, und ihm stand der Sinn nicht nach Amüsements.

»Komm vorher noch auf einen Drink zu mir, dann erkläre ich dir das Wichtigste«, hatte Daniel gesagt. »Wir fahren gemeinsam hin.«

Der Freitagabend war herangekommen. Michael Gordon war recht müde von einem anstrengenden Arbeitstag, einer schweren Operation, die allerdings so günstig verlaufen war, dass er einen zufriedenen Eindruck machte.

Daniel servierte ihm dann noch seinen Wundercocktail, der kolossal belebend wirkte. In seiner Gesellschaft war Michael auch lebhafter als sonst.

»Willst du mir jetzt nicht erklären, warum du mich unbedingt auf dieses Fest schleppen willst?«, fragte er. »Wohin geht es eigentlich?«

»Zu Bankdirektor Hollenberg. Seine Tochter verlobt sich heute.«

Der Name sagte Michael nichts. Sein schmaler gutgeschnittener Mund verzog sich zu einem spöttischen Lächeln.

»Braucht sie dafür ärztlichen Beistand?«, fragte er.

»Nein, es handelt sich um ihre Mutter. Die sollst du dir genau anschauen. Ich will vorher nichts sagen. Du sollst ganz unbefangen sein. Ich kann mich schließlich auch täuschen.«

»Du hast aber schon eine Diagnose gestellt«, sagte Dr. Gordon nachdenklich.

»Über die reden wir später.«

Während sie sich auf den Weg machten, trafen im Hause Hollenberg schon die ersten Gäste ein. Einige wollten sich gar nichts entgehen lassen von diesem gesellschaftlichen Ereignis.

Gemunkelt wurde genug über die Hollenbergs in letzter Zeit. In der Ehe sollte es kriseln, der Sohn sollte sich zu einem Playboy entwickeln, und die Tochter Beatrice wurde häufig mit dem einzigen Sohn des steinreichen Industriellen Brugger gesehen.

Vor allem die jungen Damen unter den Geladenen wollten es ganz genau wissen, ob es ernst wurde zwischen den beiden, denn manch eine war unter ihnen, mit der Rolf Brugger auch schon einen heißen Flirt gehabt hatte.

So waren Neugierde, Neid und Missgunst die hauptsächlichen Gefühle bei den Damen, verdeckt von scheinfreundlichen Mienen.

Beatrice Hollenberg, meist nur Trixi genannt, war ein bezauberndes Geschöpf. Sie war viel zu natürlich und unverdorben, um auch nur entfernt zu ahnen, von welchen Empfindungen die Gäste bewegt waren. Sie machte allerdings nicht den strahlend glücklichen Eindruck, den zumindest ihr Vater erwartet hatte.

Immer wieder irrten ihre Blicke zu ihrer Mutter, die in einem sehr dezenten, schwarzweiß gemusterten Abendkleid zerbrechlich zart wirkte.

»Mama scheint heute wieder ihre schmerzhafte Migräne zu haben«, raunte Trixi ihrem Zukünftigen zu.

»Launen«, sagte Rolf wegwerfend. »Sie scheint jetzt schon in die Wechseljahre zu kommen. Verdirb mir nicht vollends die Laune mit so was«, sagte er. »Es langt mir schon, dass dein Bruder meine Eltern mit seinem Aufzug schockiert hat.«

Bei Jörg hatte alles Bitten und Zureden nichts genützt. Er lasse sich nicht in solchen Affenfrack zwängen, hatte er aggressiv erklärt.

Wie man auf den Gedanken kommen konnte, Jörg Hollenberg als Playboy zu bezeichnen, war wahrhaft nicht zu ergründen. Dass er zur grauen Hose ein dunkelblaues Samtjackett angezogen hatte, war das äußerste Zugeständnis, das er seiner Mutter gemacht hatte. Am liebsten wäre er der Party überhaupt ferngeblieben. Die feindseligen Blicke, die er seinem zukünftigen Schwager zuwarf, ließen deutlich darauf schlie­ßen, dass dieser ihm als Familienmitglied mehr als unwillkommen war.

Ja, Rolf Brugger konnte man schon eher als Playboy bezeichnen. Natürlich trug er den extravagantesten Abendanzug, der überhaupt aufzutreiben gewesen war.

Astrid Hollenberg hielt sich an der Seite ihres hochgewachsenen, sehr imponierend wirkenden Mannes mühsam aufrecht. Bis vor einer Stunde hatte sie sich noch so wohl gefühlt, dass sie Dr. Nordens Prognose Lüge gestraft hätte, aber schlagartig machte sich bei ihr nun ziemlich schnell fortschreitende Erschöpfung bemerkbar, die auch ihrem Mann nicht entgehen konnte, obgleich er damit beschäftigt war, Hände zu schütteln und den Damen Komplimente zu machen.

Er war schon immer ein blendender Gastgeber gewesen, und bis vor einigen Monaten hatte man ihn und seine Frau als »das« Paar bezeichnet. Jetzt aber wurde wieder getuschelt.

Dr. Norden und Dr. Gordon kamen zuletzt. Astrid zuckte leicht zusammen, als sie eintraten. Daniel hatte es bemerkt.

Ob sie vergessen hat, dass sie uns eingeladen hat? ging es ihm durch den Sinn. Er sah Michael an, aber dessen Blick war nicht erreichbar. Er ruhte auf Beatrices Gesicht. Sie stand mitten im Raum, an der Seite ihres Verlobten, denn so konnte man ihn jetzt wohl doch schon bezeichnen, aber jetzt schien sie wie erstarrt.

Als die beiden Männer eingetreten waren, hatte sie zufällig zur Tür geblickt, und dann hatte sich ihr Blick in dem von Michael Gordon verfangen. Sie stand da, in ihrem zartgelben Chiffonkleid, blauschwarzes Haar umgab ihr elfenbeinzartes Gesicht. Sie verkörperte alles in sich: Anmut, Jugend und trotz dieser schon Persönlichkeit.

Es war unmöglich, sie zu vergessen, wenn man sie einmal gesehen hatte. So jedenfalls dachte Michael Gordon, denn er sah sie heute nicht zum ersten Mal. Er hatte nur nicht daran geglaubt, dieses Mädchen noch einmal zu sehen, dem er vor mehr als einem Jahr auf dem Champs Elysees in Paris begegnet war.

»Ich möchte dich jetzt den Hollenbergs vorstellen, Michael«, sagte Daniel, doch der Arzt hörte es nur im Unterbewusstsein.

»Wer ist das? Warum starrt dich dieser Mann so an?«, zischte Rolf Brugger indessen Trixi zu.

»Dr. Norden hat einen Freund mitgebracht«, erwiderte das Mädchen tonlos. »Ich weiß seinen Namen nicht.«

Aber auch sie wusste, wo sie ihn gesehen hatte. Sofort hatte sie es gewusst. Blitzartig hatte sich das Bild vor ihre Augen geschoben. Jener Frühlingstag in Paris. Allein war sie durch die Stadt gebummelt, an der Seine entlang und dann auf dem Champs Elysees hatte sie diesen Mann getroffen. Traumverloren, erfüllt von all dem Schönen, was sie in diesen Tagen gesehen hatte, war sie mit ihm zusammengestoßen. Ein paar Sekunden lang hatte sie an seiner Brust gelegen, seine Hände hatten ihre Arme umschlossen, der Blick aus dunklen Männeraugen hatte sie in tiefste Verwirrung gestürzt. Und dann, plötzlich, hatte die Stimme ihres Vaters ihren Namen gerufen. Hastig hatte sie sich von diesem Mann gelöst und war weggelaufen, um es später lange zu bereuen.

Und nun war er hier, hatte sie angesehen mit dem gleichen Blick wie damals, und nun neigte er sich über die Hand ihrer Mutter.

»Entschuldige«, sagte sie gedankenlos zu Rolf. »Ich muss mich um Mami kümmern.«

»Ein schönes Fest«, sagte er ironisch. »Kümmere dich, aber vergiss nicht, dass heute unsere Verlobung bekanntgegeben werden soll.«

Trixi gelangte in dem Augenblick zu ihrer Mutter, als diese flehend sagte: »Bitte, geben Sie mir noch einmal eine solche Injektion, Herr Doktor. Nur noch eine.«

Und dann sah sie, wie ihre Mutter schwankte, wie Dr. Norden sie auffing. Sie dachte jetzt nicht mehr an jenen Fremden. Sie dachte nur noch an ihre geliebte Mami. Und da war auch schon Jörg zur Stelle.

»Mami«, stieß er heiser hervor.

Dr. Norden und Dr. Gordon stützten Astrid Hollenberg. Fast unbemerkt konnten sie sie zu ihrem Zimmer bringen, dessen Tür Trixi bereits geöffnet hatte.

Daniel trug die Halbohnmächtige zum Bett. Trixi stand mit tränenerfüllten Augen an der Tür. Verschwommen sah sie jetzt Michaels Gesicht.

»Was fehlt Mami?«, fragte sie ent­setzt.

»Ihre Mutter ist sehr krank«, erwiderte Dr. Gordon, und in diesem Augenblick schob er die Erinnerung an jenen Augenblick, der bis zum heutigen Tag seinen Zauber für ihn nicht verloren hatte, beiseite.

»Bitte, lassen Sie uns jetzt mit Ihrer Mutter allein«, sagte er leise.

*

Es wurde nichts mit der Verlobung. Matthias Hollenberg war wie vor den Kopf gestoßen, als Jörg ihn von der Gesellschaft wegholte.

»Krank? Astrid ist krank?«, fragte er.

»Du hast ja ein Brett vor dem Kopf«, sagte Jörg erbittert. Er bekam aber keinen Verweis für diese Bemerkung.

Sein Vater machte sich Vorwürfe in mancherlei Hinsicht. Er wurde kalkweiß, als Dr. Norden ihm eröffnete, dass seine Frau sofort in die Klinik gebracht werden müsse.

»Ich dachte doch, dass es nur Migräne sei«, stotterte der sonst so selbstsichere Mann.

Was es nun wirklich war, ließ sich nicht mit ein paar Worten erklären. Matthias Hollenberg hätte es auch gar nicht begriffen. Er hielt die Hand seiner Frau und flüsterte: »Es wird schon alles gut werden, Astrid.« Aber sie hörte es nicht mehr.

»Schmeiß doch diese Gesellschaft hinaus«, stieß Jörg erbittert hervor.

»Was soll ich denn sagen?«, fragte Matthias Hollenberg heiser.

»Die Wahrheit, Vater, nichts als die Wahrheit. Dass deine Frau sich mühsam auf den Beinen gehalten hat, um dieses makabre Schauspiel nicht zu gefähr­den.«

Makaber, dachte Dr. Gordon, aber rasch wandte er seine Aufmerksamkeit wieder der Kranken zu, Trixi saß zusammengekauert auf dem Teppich. Sie zuckte zusammen, als eine laute Stimme ertönte, die nicht zu überhören war.

»Was ist nun eigentlich los?«, tönte Rolf Bruggers Stimme empört durch die Tür. »Hat sich die Familie zur Beratung zurückgezogen?«

Jörg stieß ihn zurück, als er in derTür erschien. »Die Gesellschaft ist aus«, sagte er rau. »Unsere Mutter ist in der Klinik.«

Rolf besann sich auf die Formen. »Verzeihung«, sagte er, »warum werde ich nicht informiert?«

»Weil dazu noch keine Zeit war. Ich werde es hochoffiziell besorgen«, erklärte Jörg.

Er nahm alle Kraft zusammen, aber die Beherrschung verließ ihn dann doch wieder, als Rolf nach Trixi rief.

»Lass sie in Ruhe. Ihr ist nicht nach Verlobung zumute.«

»Ruhe«, stöhnte Matthias Hollenberg.

Jörg ging zu den Gästen. Und während er mit zitternder Stimme die Situation erklärte, hörte man draußen schon die Sirene des Krankenwagens.

*

So falsch die freundlichen Mienen der Gäste beim Erscheinen zum größten Teil gewesen waren, so gemischt waren sie beim Gehen. Es war schon ein gewaltiger Schock gewesen, dass die Gesellschaft unter solchen Umständen aufgelöst wurde. Auch das Mitgefühl mit Astrid war teilweise nicht echt, manche aber waren erschüttert. Der erwartete Höhepunkt des Abends aber, die Verkündigung der Verlobung, hatte nicht stattgefunden, darüber empfanden einige junge Damen Schadenfreude. Wenn man in alle hätte hineinsehen können, die nun die prächtige Villa verließen, hätte sich wohl auch Matthias Hollenberg gefragt, ob sein Geld keine bessere Verwendung finden könne, als das zu repräsentieren, was ihm so viel bedeutete.

Ansehen und Reichtum!

Dieser Abend machte ihm deutlich, dass es Wichtigeres gab. Schließlich war er seit dreiundzwanzig Jahren mit Astrid verheiratet. Überaus glücklich, wie er selbst immer gemeint hatte. Dass auch ihre Ehe zur täglichen Gewöhnung geworden war, musste ihm durch diesen Schicksalsschlag klargemacht werden.

Hatte er nicht auch so manches liebe Mal gedacht und auch gesagt, dass Astrid launenhaft sei, dass sie ihm die Freizeit verderbe mit ihren ewigen Kopfschmerzen? Hatte das nicht bewirkt, dass er öfter abends ausging als früher, dass er sich manchen kleinen Flirt gestattete?

Er war mit seinen siebenundvierzig Jahren noch immer ein attraktiver Mann. Er wollte jung bleiben, wollte das Leben genießen, nachdem er alles erreicht hatte, wonach er strebte.

Er hatte es Astrid verübelt, dass sie nicht mehr strahlender Mittelpunkt der Gesellschaft sein wollte, jene vielbewunderte Frau, auf die er stolz war. Und nun wurde es ihm klar, dass sie es nicht mehr sein konnte, dass sie maßlos gelitten hatte. Dass es sie alle Kraft kostete, dieses Leiden zu verbergen. Matthias Hollenberg war bis ins Innerste erschüttert.

»Ich fahre in die Klinik«, sagte er heiser. »In welche ist Astrid eigentlich gebracht worden?«

»In die Neurologische«, erwiderte Jörg in verächtlichem Tonfall.

Matthias starrte seinen Sohn aus trüben Augen an. »Machst du es mir zum Vorwurf?«

»Ja«, stieß Jörg hervor.

Da stand er vor seinem Vater, groß und schlank, in den hellgrauen Augen einen Ausdruck, der seinem Vater das Wort des Aufbegehrens auf den Lippen ersterben ließ. Matthias sah jetzt nicht das lange, immer ein wenig wirre Haar des jungen Mannes, an dem er so oft Anstoß genommen hatte, er begriff plötzlich, dass Jörg erwachsen war und seine eigenen Ansichten hatte.

»Wir kommen auch in die Klinik, wenn Trixi sich umgezogen hat«, sagte Jörg.

»Wieso waren eigentlich die Ärzte hier?«, fragte Matthias Hollenberg tonlos. »Waren sie denn eingeladen?«

»Vielleicht hat Mami gewusst, dass sie nicht durchhalten würde«, sagte Jörg. »Ich habe sie so gebeten – aber was soll ich reden. Du hast ja nicht mal bemerkt, wie schlecht es ihr geht.«

Abrupt drehte er sich um, und mit heißem Erschrecken wurde es seinem Vater bewusst, dass sich zwischen ihnen eine Kluft aufgetan hatte.

Mit schleppenden Schritten ging er in sein Zimmer, zog die Smokingjacke aus und nahm die Schleife ab. Er zog irgendeine Jacke, die er blindlings aus dem Schrank nahm, über und ging zur Garage.

Die Straße war leer. Die vielen Autos, die dort geparkt hatten, verschwunden. Auch der Rolls Royce von August Brugger und der Sportwagen seines Sohnes Rolf.

Matthias Hollenberg dachte nicht mehr an die verhinderte Verlobung. Er dachte an seine Frau und auch daran, was in seiner Familie nicht mehr in Ordnung gewesen war.

Trixi dachte nichts. Sie hatte ein einfaches dunkelblaues Kleid angezogen, in dem sie wie ein Schulmädchen aussah. Ihre Augen waren gerötet von heißen Tränen.

Liebevoll legte Jörg seinen Arm um ihre schmalen Schultern, als er sie hinausführte.

»In allem Unglück ist es ein Glück, dass es nicht zu der Verlobung kam«, sagte er heiser. »Mami hätte ja nicht gewagt, Einwände zu erheben.«

Trixi brauchte einige Zeit, um diese Bemerkung zu überdenken.

»Mami war nicht einverstanden?«, fragte sie schleppend. »Und was hast du gegen Rolf, Jörg?«

»Du hast etwas Besseres verdient«, murmelte er. »Aber heute ist nicht die Zeit, darüber zu diskutieren.«

Sie hätte es auch nicht gekonnt. Sie dachte ja nicht an Rolf, sondern an jenen fremden und doch so vertrauten Mann, dessen Namen sie gar nicht richtig verstanden hatte in der Erregung. Michael, hatte ihn Dr. Norden angesprochen. Es war seltsam, dass sie ihn an diesem Abend wiedersehen musste. Und noch wusste sie nicht, dass nun das Leben ihrer geliebten Mutter in seinen Händen lag.

*

»Deine Diagnose war richtig, Daniel«, sagte Dr. Gordon. »Es ist ein Gliom. Die Operation muss schnellstens durchgeführt werden.«

»Und das Risiko?«

»Du kennst es doch. Man darf nicht davor zurückschrecken.«

»Du brauchst Frau Hollenbergs Einwilligung.«

»Selbstverständlich. Auch die ihres Mannes. Mir ist rätselhaft, wie sie die Schmerzen so lange ertragen konnte.«

»Ich mache mir Vorwürfe, dass ich sie nicht früher gründlich untersuchte«, sagte Daniel.

»Wer kommt schon darauf, dass es sich um ein Gliom handeln kann, wenn man eine Grippe behandelt. Manchmal sind sich die Patienten selbst der größte Feind. Sie wollen über ihre Schmerzen hinwegtäuschen. Es ist nun mal so, dass diejenigen, die mit den kleinsten Wehwehchen zum Arzt laufen, am längsten leben. Zudem ist es so, dass viele Menschen Gliome haben, ohne etwas zu spüren, und sie werden uralt damit. Durch eine hormonelle Umwandlung im Körper können sie zu wachsen beginnen. Ich nehme an, dass Frau Hollenberg mit Östrogenen behandelt wurde, die das Wachstum dieses Glioms anregten.«

»Von mir nicht«, sagte Daniel. »Mit Östrogenen bin ich sehr vorsichtig. Ich überlasse die Behandlung lieber Gynäkologen. Sie hat mir nicht gesagt, dass sie bei einem in Behandlung gewesen wäre.«

»Sie hat anscheinend manches für sich behalten. Am liebsten würde ich gleich morgen operieren.«

»Sprich mit ihrem Mann. Er wartet draußen«, sagte Daniel. »Ich werde mich um die Tochter kümmern. Sie braucht auch ärztliche Hilfe.«

Mit keinem Wimpernzucken verriet Michael Gordon, was ihn bewegte, und Daniel war völlig ahnungslos, was dieser Abend für ihn bedeutete.

Matthias Hollenberg und seine Kinder saßen indessen im Warteraum und schwiegen sich an. Die Erregung in ihnen war auch zu groß, als dass sie zu einer Unterhaltung gefunden hätten.

Alle drei starrten sie Dr. Norden wie einen Geist an, als er in der Tür erschien.

»Dr. Gordon möchte gern mit Ihnen sprechen, Herr Hollenberg«, sagte Da­niel.

»Was ist mit Mami?«, flüsterte Trixi.

»Sie schläft jetzt«, erwiderte Daniel, während Matthias hinauswankte.

Daniel setzte sich auf seinen Stuhl. Er fühlte Jörgs forschenden Blick auf sich ruhen.

»Mami hatte Sie eingeladen«, sagte der junge Mann.

»Ja.«

»Sie wussten, wie krank sie ist?« Der Vorwurf in Jörgs Stimme war nicht zu überhören.

»Ja, ich ahnte es und warnte Ihre Mutter«, erklärte Daniel. »Aber sie wollte dieses Fest nicht gefährden.«

»Nicht gefährden«, wiederholte Jörg tonlos. »Diese Ansammlung scheinheiliger Partylöwen, sensationslüstern, eitel und oberflächlich. Aber unsere Mutter hat ja immer Rücksicht auf Vaters Ambitionen genommen. Die Krönung seines Lebens, die Verlobung seiner Tochter mit dem Brugger-Erben.«

»Jörg, bitte«, flüsterte Trixi, »das ist doch meine Schuld.«

»Wirklich? Bist du denn nicht darauf programmiert worden?«

»Muss das jetzt erörtert werden?«, fragte Trixi gequält. »Ich habe nicht darauf bestanden, dass das Fest stattfinden sollte, als ich merkte, dass es Mami nicht gutging.«

»Aber Vater hat darauf bestanden. Natürlich, die Einladungen waren ja schon lange verschickt worden. Er hatte sich gebührend auf diesen großen Tag vorbereitet.«

Trixi hob den Kopf. »Dr. Norden möchte uns erklären, was Mami fehlt«, sagte sie leise.

Eine menschliche Tragödie?, fragte sich Daniel. Hat Hollenberg es denn nötig, unbedingt einen reichen Schwie­gersohn an Land zu ziehen?

Es wäre interessant gewesen, das Gespräch mit anzuhören, das im Hause Brugger geführt wurde.

*

»Natürlich ist es unangenehm, dass das gerade heute passieren musste«, knurrte der Industrielle.

»Ich sage dir, sie hat es darauf ankommen lassen«, erklärte sein Sohn Rolf gereizt. »Sie war gegen die Verlobung. Glaubst du, das ist mir entgangen?«

»Wir wollen mal die Kirche im Dorf lassen«, sagte der alte Brugger. »Dass es ihr schlechtging, war wohl nicht zu übersehen, und du tust gut daran, dich zu beherrschen und nicht solche Worte laut werden zu lassen. Ich brauche Hollenberg. Es darf nicht publik werden, dass ich bei der Bankpleite Millionen eingebüßt habe. Die Abatzschwie­rig­keiten kommen hinzu. Es muss zu einer schnellen Heirat kommen, damit ich seiner Loyalität gewiss sein kann. Heirat, bevor unsere Situation bekannt wird.«

Noch galt er als der steinreiche Brugger, wenn es so übertrieben auch nie gewesen war, aber wie lange noch? Nicht von ungefähr hatte Rolf sich um Trixi bemüht. Sein Vater hatte ihm eindringlich ins Gewissen geredet.

Rolf liebte seine Freiheit viel zu sehr, als dass er sich gebunden hätte, wenn nicht der Zwang dahinterstünde. Hübsche Mädchen gab es genug, aber er hing auch an seinem luxuriösen Leben. Und zu verachten war die hübsche Trixi auch nicht, wenngleich sie ihm ein wenig zu spröde war.

»Du wirst dich also besonders liebevoll um sie kümmern«, sagte August Brugger. »Mach jetzt keinen Fehler, Junge.«

»Ich finde das geschmacklos«, mischte sich nun Hilda Brugger ein. »Ihr habt nicht das geringste Mitgefühl mit der armen Astrid. Ich habe dich immer gewarnt, dich in so waghalsige Spekulationen einzulassen, aber du konntest ja nicht genug bekommen.«

»Und du schweigst«, sagte Brugger barsch, um zu betonen, wer hier Herr im Hause war.

Wortlos verließ Hilda Brugger den Raum. Auch ihr wurde das ganze Elend ihres Lebens an diesem Abend bewusst. Sie saß in einem goldenen Köfig. Aber auch sie fragte sich: Wie lange noch?

Es war seltsam, aber jetzt wünschte sie diesem Käfig zu entfliehen, in dem sich keine Gefühle entfalten konnten. Sie mochte Trixi sehr. Sie hätte sich keine liebere Schwiegertochter wünschen können, wenn nur Rolf der richtige Mann dafür gewesen wäre. Die bittere Erkenntnis, dass sie ihrem Sohn nichts Gutes nachsagen konnte, bereitete ihr Seelenqualen. Sie fand in dieser Nacht ebensowenig Schlaf, wie Matthias Hollenberg, der mit der grausamen Wahrheit fertig werden musste, dass das Leben seiner Frau so oder so in höchster Gefahr war.

Er sah Astrid vor sich als junges Mädchen bezaubend, anmutig, so, wie Trixi heute war. Er war Angestellter in der Bank ihres Vaters gewesen, bis über beide Ohren verliebt in dieses schöne und reiche Mädchen, ohne hoffen zu können, dass er ihre Hand erringen könnte. Er war aus gutem Hause, aber eben doch nur Angestellter ihres Vaters. Und doch war ihm das Glück beschieden, dessen Jawort zu erhalten. Astrids Vater hatte gewusst, dass er in ihm einen verlässlichen Nachfolger finden würde, und er war nicht enttäuscht worden.

Nein, diesen Vorwurf brauchte sich Matthias Hollenberg wenigstens nicht zu machen. Er hatte die solide, gut fundierte Bank zu größter Blüte gebracht, und sie hatten eine überaus glückliche Ehe geführt.

War sein Ehrgeiz zu groß gewesen? Hatten die kritischen Mannesjahre eine Krise in seiner Ehe herbeigeführt?

Nein, das wies er von sich. Niemals hätte er sich von seiner Familie getrennt, wenngleich es in letzter Zeit auch öfter zu Differenzen zwischen ihm und Astrid gekommen war. Meistens war Jörg der Grund, der aus der Reihe tanzte, der nicht studieren wollte, wie sein Vater es wünschte, sondern auch das Bankwesen von der Pike auf lernen wollte.

Hatte er dabei seine Sache nicht gut gemacht? Hineingeredet hatte er ihm. Gewarnt hatte er ihn vor allem vor Brugger. Dieser grüne Junge wagte es, Kritik an Brugger zu üben, gegen eine Verbindung der beiden Familien zu rebellieren, auch gegen den Vater. Er hatte die Spannungen erzeugt auch innerhalb der Familie.

Aber jetzt, da Matthias Hollenberg am Bett seiner Frau saß und alles überdachte, sah er Jörg plötzlich mit anderen Augen. Der harte Vorwurf des Jungen hatte ihn tief getroffen.

»Nun gehörst du zu den ganz Großen, Vater«, hatte er gesagt, »aber was wärest du ohne Mama?«

»Ja, was wäre ich ohne dich, Astrid«, murmelte er und vergrub sein Gesicht in den Händen.

Dr. Norden hatte Trixi und Jörg heimbegleitet, denn der junge Mann war nicht mehr fähig, sich selbst ans Steuer zu setzen. Es war schwer gewesen, die beiden zu überreden, die Klinik zu verlassen. Dr. Gordon hatten sie nicht mehr getroffen.

»Meinen Sie nicht, dass dieser Dr. Gordon zu unerfahren ist, eine so schwierige Operation auszuführen?«, fragte Jörg deprimiert.

»Er ist ein sehr erfahrener Neurochirurg«, erwiderte Daniel. »Sie dürfen sich von seinen jungen Jahren nicht täuschen lassen.«

»Sie kennen ihn schon länger?«, fragte Trixi stockend.

»Wir sind ein Jahrgang.Wir haben ein paar Semester zu gleicher Zeit an der Sorbonne studiert. Dr. Gordon war bis vor einigen Monaten Arzt an einer Pariser Klinik. Ich hatte Ihrer Mutter empfohlen, sich von ihm untersuchen zu lassen.«

Trixi versank wieder in Schweigen. Sie dachte über den seltsamen Zufall nach, der ihr dieses Wiedersehen beschert hatte. Zufall – Schicksal? Ihr kam das Wort in den Sinn: Den Zufall schickt uns Gott. Zum Schicksal muss der Mensch ihn erst gestalten.

Aber sie konnte nicht mehr nachdenken. Auch ihr Kopf schmerzte, und sie stellte sich vor, was ihre Mutter erst für Schmerzen gelitten haben musste.

Sie wagte auch nicht daran zu denken, welche Folgen diese Operation haben könnte. Wenn ihre über alles geliebte Mami nun sterben musste – der Herzschlag stockte ihr bei diesem Gedanken, dann würde ihr Vater Michael Gordon wohl die Schuld geben!

Und er selbst, würde er sich freisprechen können von Schuld, weil er das Leiden seiner Frau als Launen belächelt hatte?

Eisige Schauer krochen über ihren Rücken, als sie nun allein in ihrem Zimmer war. Das gelbe Chiffonkleid lag am Boden. Es hatte ein Vermögen gekostet, und nun stieß sie es mit dem Fuß beiseite, hob es dann auf, weil sie es nicht mehr sehen konnte und warf es in den Wandschrank.

Weinend vergrub sie den Kopf in den Kissen, nichts als ein angsterfülltes Mädchen, das um das Leben der Mutter bangte.

*

Die Morgendämmerung kroch in das Krankenzimmer, als Astrid die Augen aufschlug. Sie fühlte keine Schmerzen. Die Spritze wirkte noch immer nach.

Der Kopf ihres Mannes ruhte auf ihrer Hand. Sie spürte seine trockenen Lippen. Leicht streichelte sie sein dichtes Haar.

»Matthias«, flüsterte sie. »Habe ich dich sehr erschreckt?«

Sie wähnte sich daheim in ihrem Bett. Erst, als sie nach dem Lichtschalter tastete, spürte sie, dass etwas anders war.

»Wo bin ich?«, fragte sie.

»In der Klinik, mein Liebes«, erwiderte er mit heiserer Stimme.

»Es tut mir leid«, murmelte sie.

»Mir muss es leid tun, Astrid, dass ich nicht merkte, wie elend du warst.«

»Ich fühlte mich doch wohl.«

Auch jetzt noch wollte sie ihn täuschen, aber er wusste nun die Wahrheit.

»Du warst zu tapfer und ich zu blind«, sagte er. »Sprich jetzt nicht, Liebes. Ich werde Dr. Gordon rufen.«

»Dr. Gordon. Dr. Norden hat ihn mitgebracht. Er sagte –«, sie unterbrach sich, presste die Lippen aufeinander.

»Er riet dir, in eine Klinik zu gehen«, sagte Matthias mit schwerer Stimme. »Ich weiß alles. Warum hast du mir nichts gesagt?«

Ja, warum nicht? Sie dachte darüber nach. Hatte sich nicht Angst gehabt, dass er sie auslachen würde? Nun hatte er Angst. Sie fühlte es.

»Muss ich hierbleiben?«, fragte sie leise.

Die Augen brannten ihm. Er schluckte ein paarmal, bevor er sagen konnte, dass sie operiert werden müsse.

»Wenn ich dadurch von diesen Schmerzen befreit werde, möglichst bald«, sagte sie tapfer. Ihm zerriss ihre Zuversicht fast das Herz, aber er wusste nicht, wie hoffnungslos sie im Innern war.

»Hoffentlich haben die Gäste nichts bemerkt«, fuhr sie fort. »Wie lange wart ihr zusammen?«

»Mein Gott, glaubst du, wie könnten feiern, wenn du nicht dabei bist«, kam es gequält über seine Lippen.

»Und dieVerlobung?«

»Wird aufgeschoben, bis du gesund bist.«

Er wollte seiner Stimme einen leichten Klang geben, aber es gelang ihm nicht.

»Meinst du, dass Rolf der richtige Mann für Trixi ist?«, fragte Astrid leise.

»Ich weiß jetzt nur, dass du dir keine Gedanken machen sollst. Nur du bist jetzt wichtig, Astrid.«

So nahe waren sie sich schon lange nicht mehr gewesen. Es wurde heller und heller im Zimmer, und sie konnte die Gesichtszüge ihres Mannes nun deutlich erkennen. Es war ein um Jahre gealtertes Gesicht mit tiefen Falten auf der Stirn und in den Augenwinkeln.

Alle Zweifel an ihm, die sich doch so tief in ihrer Seele eingenistet hatten, schwanden, als sie ihn lange betrachtete. Er war bei ihr, er gehörte zu ihr, und wenn es ihre letzten Stunden sein sollten, würde sie mit diesem Bewusstsein die Augen schließen. Astrid war ganz ruhig.

»Wann soll ich operiert werden?«, fragte sie.

»Morgen. Nein, heute. Der neue Tag ist ja schon da«, sagte er gequält.

»Und es wird immer einen neuen Tag geben, Matthias«, flüsterte Astrid.

*

Es war sechs Uhr, als Dr. Gordon Matthias Hollenberg zu sich holen ließ. Er hatte nur ein paar Stunden geschlafen, aber das sah man ihm nicht an. Er war ganz konzentriert.

»Es ist besser, wenn Sie jetzt heimfahren, Herr Hollenberg«, sagte Dr. Gordon. »Die Vorbereitung für die Operation wird gleich beginnen.«

Matthias sah ihn an. »Welche Chance hat meine Frau?«, fragte er.

»Alle – oder keine. Es wäre sinnlos, Ihnen dies zu verschweigen. Ich kenne das Risiko.«

»Aber eine Operation ist unvermeidlich. Sie verantworten das?«

»Ja, Ihre Frau würde qualvoll sterben, wenn sie nicht operiert würde. Ich fühle mich verpflichtet, den Angehörigen nichts zu verschweigen. Gerade in meinem Fach wäre das unverantwortlich. Glauben Sie mir bitte, dass es mir lieber wäre, wenn es Medikamente gäbe, die heilen könnten, aber die gibt es nicht. Parasiten müssen vernichtet werden.«

Matthias Hollenberg maß den jungen Arzt mit einem langen Blick. »Sie sprechen von Parasiten«, sagte er nachdenklich.

»Ich bezeichne solche Geschwülste so. Sie sind anscheinend harmlos und strecken doch tausend Fühler aus, um die Kraft eines Menschen aufzuzehren. Es ist schwer, sie frühzeitig zu erkennen.«

Genau wie die Parasiten in unserer menschlichen Gesellschaft, dachte er für sich weiter. Und seltsamerweise dachte Matthias Hollenberg das Gleiche.

Wie sie gestern alle getuschelt hatten, wie sensationslüstern sie alle schauten. Ihm rieselte es kalt den Rücken herunter.

»Ich würde Ihnen empfehlen, ein Taxi zu nehmen, Herr Hollenberg«, sagte Michael Gordon ruhig.

»Ja, das werde ich tun. Sie werden mich sofort benachrichtigen, wenn Sie die Operation beendet haben?«

»Ja, gewiss«, erwiderte Dr. Gordon geistesabwesend.

Wenig später stand er am Bett der Kranken.

»Ist es soweit?«, fragte Astrid.

Er nickte und dachte, dass dies die Mutter jenes bezaubernden Mädchens war, das er nie vergessen hatte, dessen Bild er nicht aus seiner Erinnerung verbannen konnte.

Sie streckte ihm ihre feine, zarte Hand entgegen, die er verwundert ergriff.

»Wenn ich nicht aufwachen sollte, sagen Sie meinem Mann und meinen Kindern, dass sie mir alles bedeuteten und ich nichts mehr wünsche, als dass sie glücklich sein sollen.«

Die Kehle wurde ihm eng. Er schluckte schwer. »Ich hoffe, dass Sie noch lange mit ihnen glücklich sein werden.«

»Was wissen wir schon, Dr. Gordon? Wir werden geboren und müssen sterben, nur das ist gewiss. Wann wir sterben müssen, liegt bei einer höheren Macht. Ich bin bereit.«

Zum Sterben, dachte er, und lehnte sich dagegen auf. Er würde um ihr Leben ringen, wie um jedes Leben, das ihm anvertraut wurde.

Er sah wieder in ihr schönes Gesicht. Ja, jetzt war es trotz der Leidenslinien wieder so schön wie früher. Einmal würde ihre Tochter wohl auch so aussehen.

»Wie lange wird es dauern?«, fragte Astrid, und er konnte sich nur noch wundern, wie ruhig ihre Stimme klang.

»Das lässt sich nicht voraussagen.«

Die Injektionsnadel glitt schon in ihre Armvene. Sie würde nichts spüren. Sie würde jetzt einschlafen. Sie spürte es schon. Und wenn es dann kein Erwachen gab, wie würde dann diesem Mann zumute sein, dessen Gesicht nun schon vor ihren Augen verschwamm?

Wie ihm zumute war, sah ihm niemand an, aber niemand wagte ihn anzusprechen, Dr. Cornelia Kuhlmann ausgenommen.

»Sie haben mir schon Arbeit abgenommen«, sagte sie. Ihre helle Stimme tat ihm weh.

»Sie werden alle Aufmerksamkeit benötigen«, erklärte er.

Größtmögliche Aufmerksamkeit wurde auch ihm abverlangt. Er stand am Operationstisch. Er vermeinte Trixis Stimme zu hören: »So helfen Sie doch!« Das hatte sie in der Nacht immer wieder gesagt.

Unzählige Male hatte er das Skalpell schon in der Hand gehalten, aber heute war es ihm, als ginge es um sein Leben. Nur diesem Mädchen nicht sagen müssen, dass ihre Mutter gestorben sei, nur das nicht!

Man ließ ihn nicht aus den Augen. Mit traumwandlerischer Sicherheit voll­führte er den ersten Schnitt, dann die anderen, notwendigen, wissend, dass der Bruchteil eines Millimeters schon den Tod bringen konnte, den er doch verbannen wollte.

Lautlose Stille war um ihn herum, nur ab und zu vernahm er einen schweren Atemzug.

Dr. Daniel Norden hatte am Samstag keine Sprechstunde. Er musste nur einige Krankenbesuche machen. Doch seine Gedanken waren in der Klinik. Er hatte dort angerufen und erfahren, dass Frau Hollenberg operiert wurde.

Michael hatte es also gewagt! Er bewunderte den Kollegen, dass er sich ohne zu zögern an dieses Wagnis machte.

Er fuhr von Patient zu Patient und hatte völlig vergessen, dass Fee heute kommen wollte. Seine geliebte, so sehr vermisste Fee!

Gegen elf Uhr kam er wieder heim. Und Fee war schon da.Verwirrt sah er sie an, als sie ihm die Tür öffnete.

»Na, du hast wohl ganz vergessen, dass ich komme?«, fragte sie mit leiser Eifersucht. »Oder war die Party so feucht, dass du noch gar nicht ganz da bist?«

Lenchen hatte natürlich geschwatzt. Sie konnte es doch nicht lassen. Übelnehmen konnte man es der guten Alten nicht, denn sie hatte eben ihre eigenen Moralbegriffe. Es gehörte sich eben nicht, dass er ohne Fee Partys besuchte. Damit fügte er ihr eine persönliche Kränkung zu.

»Eine feine Party«, sagte er. »Der Tod war zu Gast.«

Erschrocken sah ihn Fee an. »Mein Gott, das konnte ich nicht wissen. Lenchen hat nur so eine Andeutung gemacht.«

Daniel küsste seine Verlobte erst einmal ausgiebig. Jetzt war er glücklich, dass sie bei ihm war, ihn nicht allein ließ mit seinen schweren Gedanken. Felicitas Cornelius war auch Ärztin. Sie verstand ihn, wenn er sich Sorgen um Patienten machte.

Daniel erzählte ihr, was vorgefallen war. Schweigend hörte sie ihm zu.

»Schlimm«, sagte sie, »schlimm aber auch, wenn das nächste Unglück über die Familie hereinbricht.«

»Welches Unglück?«, fragte Daniel verblüfft.

»Bruggers Liquidität ist in Frage gestellt. Ernsthaft! Zufällig weiß ich das.«

»Woher?«

»Von einem Patienten, den wir vor zwei Tagen vor einem Nervenzusammenbruch bewahrt haben, weil er Riesengeschäfte mit Brugger gemacht hat.«

»August Brugger? Kein Irrtum?«

»Kein Irrtum. In der Branche gibt es nur den einen Brugger. Hoffentlich ist nicht auch Hollenbergs Bank darin verwickelt.«

»Gestern sahen die Bruggers noch nicht so aus, als ob sie Sorgen hätten«, sagte Daniel geistesabwesend.

»Da sollte ja auch ein Lebensbund mit einer sehr seriösen Bank geschlossen werden«, spottete Fee. »Ausgerechnet Rolf Brugger. Konnte sich dieses Mädchen keinen andern aussuchen? Das war doch schon zu meiner Zeit ein Filou, und mit sechsundzwanzig scheint er sich noch nicht geändert zu haben.«

»Du kennst ihn?«, fragte Daniel, nun seinerseits eifersüchtig.

»Wer kannte ihn nicht. Er ist jedem hübschen Mädchen nachgestiegen, und zu den Hässlichen gehöre ich wohl nicht.«

Gewiss nicht. Fee war eine Schönheit. Nicht eine Dutzendschönheit, sondern eine von ganz besonderem apartem Reiz. Nichts Gekünsteltes war an ihr. Nicht einmal das herrliche silberblonde Haar bedurfte der Nachhilfe. Und auch die Haut nicht, die rein, glatt und seidig schimmerte.

Sie sah Daniel lächelnd an. »Du wirst mir doch nicht zutrauen, dass ich mich mit solchem Playboy eingelassen ha­be.«

»Nein, ich frage mich nur, was Beatrice Hollenberg an ihm findet. Sie hat Niveau.«

»Vielleicht verlockt die Mär vom reichen Mann. Aber eigentlich haben sie doch Geld genug.«

Wie waren sie eigentlich darauf gekommen, sich über das Familienleben der Hollenbergs zu unterhalten?

Ein Wort hatte das andere ergeben, aber für sie sollte doch nur die Patientin Astrid Hollenberg existieren, meinte Daniel.

»Gut, dass du nicht Neurochirurg bist«, sagte Fee. »Ich würde aus der Aufregung nicht mehr herauskommen. Auf keinem Gebiet kann man so viel anrichten wie da. Wie schnell wird ein Nerv berührt bei einer solchen Operation. Das Leben des Patienten wird erhalten, aber was ist es dann manches Mal für ein Leben. Nein, ich möchte lieber tot sein als gelähmt oder entstellt, oder gar verblödet.«

»Sag das nicht«, sagte er ungewohnt streng.

»Es sind Tatsachen. Daniel. Wir sind Ärzte. Dein Freund Gordon muss starke Nerven haben, dass er sich an solche Sachen heranwagt.«

»Es muss doch welche geben, die es wagen. Ja, er hat Mut. Freund, sagtest du? Ich weiß nicht, ob man es so nennen kann. Bis Michael mal Freundschaft vergibt, dauert es lange. Allerdings glaube ich, dass es dann eine unlösliche Freundschaft sein würde. So, wie zwischen deinem und meinem Vater.«

*

Im Haus Hollenberg herrschte auch eine fast erdrückende Stille. Früh waren sie alle wieder auf den Beinen gewesen, das Hausmädchen Tilli eingeschlossen.

Tilli war nicht ansprechbar. Sie schluchzte nur vor sich hin, als sich Jörg und Trixi Kaffee holten. Essen wollten sie nichts. Jeder zog sich wieder in sein Zimmer zurück. Sie hatten den Vater kommen hören, waren aber nicht zu ihm gegangen. Und er war nicht gekommen.

Jeder wartete in seinem Zimmer auf das Läuten des Telefons, herzklopfend und voller Angst. Und die Zeit schleppte sich dahin, endlos.

»Zwei Stunden und zwölf Minuten«, sagte im Operationssaal Dr. Cornelia Kuhlmann indessen. »Mehr Narkose kann ich nicht verantworten.«

»Es reicht«, sagte Dr. Gordon. »Mehr Licht, bitte.«

Seine Stimme war ruhig, hatte aber keinen Klang. Seine Kehle war so trocken, dass er sich unter normalen Umständen hätte räuspern müssen. Aber nicht einmal das konnte er sich jetzt erlauben.

Noch weitere fünf Minuten vergingen, dann ließ er die Arme sinken. Ein paar Instrumente klirrten. Die Operationsschwester seufzte erleichtert auf, sein Assistent tupfte ihm die Schweißperlen von der Stirn.

Während die anderen wie erstarrt dastanden, ging er in den Waschraum.

»Lassen Sie mir fünf Minuten Zeit«, sagte er über die Schulter hinweg.

Sein Team wusste, was zu tun war. Astrid Hollenberg wurde in den Nebenraum gefahren. Das Infusionsgerät stand bereit.

Den Kopfverband legte Dr. Gordon dann selbst an.

Astrids Gesicht war so bleich, dass es sich kaum von diesem abhob.

Dr. Gordon fühlte ihren Puls. Zuerst war das Schlagen seines Herzens stärker, als dass er etwas fühlen konnte mit diesen Fingern, die Millimeterarbeit hatten leisten müssen. Doch dann konnte er das schwache, unregelmäßige Klopfen vernehmen.

Sie lebt, dachte er, und die Freude schlug wie eine Woge über ihm zusammen. Aber welche Qualen würde er noch durchstehen müssen, bis er wusste, ob dieser Eingriff ihr auch volle Genesung bringen würde.

Während er sie betrachtete, verschwammen ihre Züge und vermischten sich mit denen von Trixi.

Dieses Mädchen, das in seinen Träumen herumgespukt war, würde nun wohl jeden Tag hierher kommen. Und doch musste er die heiße Sehnsucht, die er bei ihrem Anblick so übermächtig empfunden hatte, tief in sich verschließen.

Sie gehörte einem andern. Die Verlobung war nur aufgeschoben, nicht aufgehoben. Er konnte sich an diesen Mann kaum erinnern. Er hatte ja nur sie gesehen, bis ihre Mutter zusammenbrach, aber er gönnte sie keinem andern. Niemals hatte er geglaubt, dass er solcher Gefühle überhaupt fähig sein könnte.

»Meisterhaft haben Sie das gemacht, Chef«, sagte Cornelia Kuhlmann hinter ihm, und ihm war diese helle Stimme plötzlich widerwärtig.

»Ich habe meine Pflicht getan«, sagte er.

Er sah sie nicht einmal an, als er an ihr vorüberging zur Tür, um Matthias Hollenberg anzurufen. Insgeheim ballte sie die Hände und sandte ihm einen zornerfüllten Blick nach.

Als im Hause Hollenberg das Telefon läutete, stürzten sie alle gleichzeitig aus ihren Zimmern. Aber Matthias brauchte nur die Hand zu heben und den Hörer abzunehmen. Doch seine Hand zitterte so stark, dass er dazu kaum fähig war.

Da standen Jörg und Trixi mit leichenblassen Gesichtern, weit aufgerissenen Augen. Er sah sie an, während er auf Dr. Gordons Stimme lauschte.

Dann wandte er sich erst einmal ab, hauchte ein Danke und fuhr sich über die Augen.

»Die Operation ist geglückt«, sagte er leise. »Astrid geht es den Umständen entsprechend gut.«

Jörg und Trixi fielen sich in die Arme und hielten sich stumm umschlungen. Auch Jörg schämte sich seiner Tränen nicht.

»Wir sollen nicht vor heute abend in die Klinik kommen«, murmelte Matthias Hollenberg. »Vielleicht informierst du Rolf, Trixi.«

»Das hat wohl Zeit. Seine Anteilnahme war nicht groß«, erwiderte Trixi bebend.

»Alle waren erschrocken«, sagte ihr Vater.

»Wir wollen nicht über die andern reden«, warf Jörg ein. »Über Rolf schon gar nicht.«

Aber da sagte Tilli schüchtern, dass Frau Brugger vorhin schon mal vorbeigekommen sei, um sich nach dem Befinden der gnädigen Frau zu erkundigen.

»Ich wagte nicht zu stören«, murmelte sie. »Ich habe ihr gesagt, dass sie operiert wird.«

*

August Brugger hatte es von seiner Frau vernommen. Das passte ihm nun gar nicht ins Konzept, aber er hielt seine Ansicht zurück.

Er rief Rolf zu sich ins Zimmer, um es auch ihm zu sagen. »Du wirst in die Klinik fahren und dich nach ihrem Befinden erkundigen«, erklärte er.

»Wozu? Das werde ich schon noch erfahren«, sagte Rolf leichthin.

»Es macht aber einen guten Eindruck. Man soll wissen, dass wir besorgt sind. Du wirst Blumen abgeben lassen, und vielleicht triffst du Trixi. Dann kannst du ihr Trost zusprechen.«

»Diese Sentimentalitäten!«, sagte Rolf.

»Sie sind manches Mal zweckmäßig. Du wirst sagen, dass wir einfach zu entsetzt waren, um ihnen beizustehen. Mein Gott, sonst kannst du doch Schmus genug reden, stell dich nicht so an. Begreifst du denn nicht, was von dieser Verbindung für uns abhängt?«

Wohl oder übel musste Rolf in den für ihn sauren Apfel beißen. Er durfte seinen Vater nicht verärgern.

Also kaufte er einen Blumenstrauß riesigen Ausmaßes und fuhr in die Klinik.

Man sagte ihm schon am Empfang, dass niemand zu Frau Hollenberg dürfe, aber er fragte, ob er den Arzt sprechen dürfe. Nun war er schon mal hier, und nun wollte er seinen Auftrag auch perfekt erfüllen.

Dr. Gordon sei nicht zu sprechen, wurde ihm auf der Station gesagt, dafür aber nahm sich Cornelia Kuhlmann seiner an.

Man konnte nicht bestreiten, dass sie ihre Reize hatte. Sie wusste sie auch immer ins rechte Licht zu rücken.

Rolf Brugger war ein blendend aussehender Mann. Sie kannte den Namen. Sie hatte gehört, wieviel Geld hinter diesem Namen stand. Für Cornelia war er interessant, um so mehr ihr nicht verborgen blieb, dass er sie wohlgefällig musterte.

Rolf war auch an diesem Platz einem Flirt nicht abgeneigt. Eine Verlobung wäre ihm dabei sowieso nicht hinderlich gewesen. Aber nun war er ja noch nicht einmal verlobt.

Eine Ärztin fehlte ihm noch in seiner Sammlung von Frauen. Er verstand es sehr geschickt, sie in ein Gespräch zu verwickeln, obgleich sie ihm zurückhaltend bedeutet hatte, dass sie nicht berechtigt sei, Auskünfte zu geben.

Er interessierte sich sehr für solche Art Operationen, erklärte er. Und natürlich sagte er auch, dass er sehr hoffe, dass diese geglückt sei.

Aber ewig konnte er sich nicht hier aufhalten. »Es war sehr interessant«, sagte Rolf. »Vielleicht treffen wir uns mal in einer etwas weniger sterilen Umgebung.«

»Es fragt sich nur wo«, sagte Cornelia hintergründig.

»Mich trifft man jeden Abend bei Blacky«, erwiderte er. »Es ist sehr hübsch dort. Falls Sie mal Zeit haben, möchte ich Sie zu einem Drink einladen.«

Cornelia Kuhlmann fand ihn sehr charmant. Sie lächelte verheißungsvoll, ein bisschen rätselhaft und doch schon verständnisinnig.

Warum nicht, dachte sie. Warum sollte sie unnütze Zeit an Gordon verschwenden. Er war stur, einfach stur. Schaute nicht rechts und nicht links und kannte nichts als seine Arbeit.

Aber Michael Gordon dachte jetzt an Trixi. Obgleich die Gefahr für ihre Mutter nicht gebannt war, brauchte er nicht vor ihr zu stehen wie derjenige, der ihr den letzten Todesstoß versetzt hatte. Er hatte alles getan, was in seiner Macht stand. Das Äußerste.

*

»Fahren wir mal in die Klinik, Fee?«, fragte Daniel. Nur kurz hatte ihn Michael angerufen. Operation geglückt, Bericht später, hatte er knapp gesagt.

»Fahren wir«, sagte Fee bereitwillig. Sie wusste genau, dass mit Daniel heute nicht viel anzufangen war. Und ihr war es gleich, wo sie waren, wenn sie nur zusammen sein konnten.

Sie wussten ja, was sie voneinander zu halten hatten. Ihre Ehe würde nicht im Gleichmaß der Tage versanden. Sie waren mit Leib und Seele ihrem Beruf verschrieben und brauchten beide den Partner, der Verständnis dafür hatte.

Nun konnte man aber weiß Gott nicht sagen, dass ihre Gefühle darunter zu leiden hatten. Sie waren beide der leidenschaftlichsten Gefühle fähig. Sie liebten sich über alles.

»Meine Traumfee«, sagte Daniel zärtlich, als sie sich in seinen Wagen setzten.

Lenchen hatte natürlich wieder gemurrt, was sie denn nun mit dem Kuchen machen sollte, den sie extra gebacken hätte, aber sie hatten gesagt, dass sie den später auch noch essen könnten.

»Weißt du, Fee, ich habe Michael diesen Fall aufgebürdet, ich kann ihn jetzt nicht im Stich lassen. Die Operation ist geglückt, aber damit ist nicht gesagt, dass Astrid Hollenberg wieder ein vollwertiger Mensch wird.«

»Du kennst sie schon recht gut«, sagte Fee.

»Besser, als sie meint. Sie ist völlig auf ihren Mann bezogen. Sie verleugnet sich selbst.«

»Findest du das lobenswert?«

»Manche Frauen sind eben so, und in ihrer Art die einzig richtigen für ihren Partner. Ich weiß schon, dass du mir immer gehörig die Meinung sagen wirst.«

»Sag nur nicht, dass ich dich tyrannisiere.«

»Du weißt genau, wie du mich zu nehmen hast und das ist schön. So ein bisschen darfst du mich schon tyrannisieren. Lenchen meint, dass ich eine feste Hand brauche. Apropos Lenchen, jetzt weiß ich, warum sie murrt.«

»Weswegen?«

»Weil du Mario nicht mitgebracht hast. Wie geht es ihm?«

»Blendend. Er ist ein Schatz«, erwiderte Fee. »Paps ist rein närrisch mit ihm. Er darf überall mit hin.«

»Ja, wer hätte das gedacht«, sagte Daniel und ließ seine Gedanken zurückwandern zu jenem Tag, als sie den kleinen Italiener aus dem Chiemsee gefischt hatten. Seine Eltern waren ertrunken, ihn hatte er gerettet, und nun war er, der kleine Vierjährige, der Sonnenschein auf der Insel der Hoffnung geworden, zur Freude auch der Patienten, die dort im Sanatorium Genesung suchten.

Dr. Johannes Cornelius, Fees Vater, hatte Anne Fischer geheiratet, und sie wollten den kleinen Mario adoptieren.

»Er spricht schon fast perfekt deutsch«, erzählte Fee. »Katja setzt sich aber auch gewaltig ein. Seit Mario bei uns ist, denkt sie gar nicht mehr soviel an David.«

Katja, Annes Tochter, und David Delorme, der berühmte junge Pianist, waren auch ein interessantes Kapitel, seit das Sanatorium »Insel der Hoffnung« eingeweiht worden war. Katja, nach einem Skiunfall lange Zeit an den Rollstuhl gefesselt, hatte dort Genesung gefunden, David Delorme suchte immer wieder Entspannung im Sanatorium zwischen seinen anstrengenden Konzertreisen.

»Es kommt Spannung in die Romanze, wenn er merkt, dass sie ihm nicht hörig ist«, stellte Daniel fest.

»Er ist nach wie vor anhänglich«, entschuldigte Fee den jungen Künstler, dessen Musik auch sie begeisterte. »Aber Katja hat begriffen, dass er sich voll entfalten muss. Vergessen wir aber nicht über den neuesten Ereignissen, dass wir heute abend bei Isabel eingeladen sind.«

Daniel lachte auf. »Sie würde uns schon daran erinnern.«

»Wann habt ihr euch denn zum letzten Mal gesehen?«, fragte Fee beiläufig.

»Du liebe Güte, darüber führe ich nicht Buch, Liebes. Meine Patientin ist sie nicht, sonst würde Molly ihre Besuche registrieren. Du hast keinen Grund zur Eifersucht.«

»So war es auch nicht gemeint«, sagte Fee errötend.

»Nicht ganz«, lächelte er. »Aber ich verbringe meine Abende lieber damit, mit einer gewissen Fee zu telefonieren. Das wird mit der Zeit so kostspielig, dass ich mir nicht leisten kann, auch noch andere auszuführen.«

»Entschuldige, Daniel, ich bin einfach kindisch«, sagte Fee schuldbewusst.

»Du bist süß, und ich bin glücklich, dass du da bist, und wenn es dir lieber ist, telefonieren wir Isabel ab.«

»Nein, das würde sie kränken. Ich mag sie doch gern«, sagte Fee rasch. »Ich bin eben manchmal so töricht, immer noch ein bisschen eifersüchtig zu sein, weil sie in München ist und ich doch fern.«

Nun waren sie bei der Klinik angelangt. Daniel versank abrupt in Schweigen.

»Nun komm schon«, sagte Fee aufmunternd. »Mach dir nicht so viel Gedanken.«

»Das sagst ausgerechnet du«, murmelte er und fuhr schnell mit der Hand über ihre Wange.

Sie sahen Trixi nicht, als sie durch die Halle gingen, denn sie saß in einem der tiefen Sessel und ganz gebeugt. Aber sie sah die beiden gehen und war für Sekunden abgelenkt von ihren erdrückenden Gedanken. Was war das für ein Paar! Es war kein Wunder, dass sie Aufsehen erregten, dass jeder ihnen nachblickte.

Trixi erhob sich. Sie klammerte sich plötzlich an den Gedanken, dass sie von Dr. Norden mehr erfahren könnte. Er kannte Dr. Gordon doch so gut.

Sie selbst wagte sich an den Chirurgen nicht heran. Ihr war es zu deutlich bewusst geworden, dass er sie bereits als Verlobte von Rolf Brugger betrachtete, und der Augenblick in Paris bereits aus seinem Gedächtnis gestrichen hatte.

Aber hatte sein Blick gestern abend nicht anderes ausgedrückt? Heiß und kalt wurde es ihr bei dem Gedanken. Ein elektrischer Schlag schien durch ihren Körper zu zucken, als sie an diesen Blick dachte.

Genau wie damals war es gewesen, als würde sie an seiner Brust liegen und sein Atem würde ihre Stirn streifen.

Langsam folgte sie Dr. Norden und Fee Cornelius. Die beiden sahen sich nicht um. Sie stiegen bereits in den Lift.

Trixi wartete auf den nächsten. Es dauerte ziemlich lange, bis er kam. Jedenfalls erschien ihr das so.

Als sie durch die zurückgleitende Tür auf den Gang trat, sah sie Dr. Gordon schon bei Dr. Norden und Fee stehen.

»Fein, dass wir dich gleich treffen«, sagte Daniel Norden gerade.

Trixi hörte es.

Dr. Gordon sagte etwas, was Trixi allerdings nicht verstand, aber sie war jetzt von anderen Gedanken bewegt. Daniel Norden – Michael Gordon, sehr harmonisch klangen diese beiden Namen zusammen.

Und kaum hatte sie es gedacht, blickte Michael zu ihr herüber. Er unterbrach sich mitten im Wort. Er sah verwirrt aus, jungenhaft verlegen.

»Fräulein Hollenberg kommt«, sagte er leise zu Daniel. Und dann kam er auf sie zu. Sie wurde eingehüllt von seinem Blick. Von eigentümlichen Gefühlen bewegt, gab sie sich ganz diesem Augenblick hin, sehnsüchtig wünschend, dass seine Arme sie wieder umfangen möchten.

Er blieb vor ihr stehen. Automatisch reichte sie ihm die Hand und begriff es erst, als seine Finger diese fest umschlossen.

»Es ist seltsam, dass wir uns hier wiedersehen«, flüsterte Trixi. »In München, nicht in Paris.«

»Sie haben es nicht vergessen«, sagte Michael leise.

Warum sprach sie davon? Hätte sie nicht besser von ihrer Mutter sprechen sollen? Eine Frage war in ihren Augen, als sie es nun wieder wagte, den Blick zu ihm zu erheben.

»Ich konnte nicht daheim sitzen und warten«, flüsterte sie. »Wie geht es meiner Mutter?«

»Ich bin zufrieden«, erwiderte er.

*

»Ein bezauberndes Mädchen«, sagte Fee indessen zu Daniel. »Nichts für Rolf Brugger.«

»Etwas für Michael Gordon?«, sagte Daniel nachdenklich.

»Solche Kombinationen liegen mir fern.«

»Mir nicht.«

»Daniel«, flüsterte Fee überrascht, »wie kommst du auf solche Idee?«

»Intuition, Liebling. Nichts weiter. Die Spannung springt auf mich über.«

Und sie wurde noch größer, als Michael und Trixi jetzt auf sie zukamen. Ganz fest umschlossen Daniels Finger Fees Handgelenk.

Sie hielten tatsächlich beide den Atem an. »Sie kennen sich schon?«, fragte Michael.

»Wir kennen uns noch nicht«, warf Fee schnell ein. »Aber jetzt lernen wir uns kennen.«

Aus der Ferne hatte Trixi die beiden schon mehrmals gesehen, aber als Fees Blicke jetzt auf ihr ruhten, fand sie sie noch viel schöner.

»Daniel wollte sich unbedingt persönlich über das Befinden Ihrer Mutter informieren«, sagte Fee. »Es tut mir leid, dass Sie so schreckensvolle Stunden durchlebten, Fräulein Hollenberg.«

»Jetzt wird sie wieder gesund werden.« Flehend sah Trixi Dr. Gordon an. »Nicht wahr, meine Mutter wird gesund?«

Er konnte nur nicken.

Daniel sagte: »Wir wollen dich nicht länger aufhalten, Michael. Du hast zu tun, und Fee ist nur das Wochenende hier. Vielleicht kommst du morgen zu einem Kaffeestündchen zu uns.«

»Wenn ich Zeit habe«, erwiderte Michael.

Fee reichte Trixi die Hand. »Alles Gute für die Mama«, sagte sie herzlich, »und auch für Sie.«

Sie entfernten sich schnell. Sie hatten beide das Gefühl gehabt zu stören. Daniels Intuition schien nicht zu trügen.

Trixi blickte zu Boden. »Darf ich Mami sehen? – Nur sehen«, sagte sie bittend.

Er konnte ihr den Wunsch nicht abschlagen. Er hätte ihr keinen abschlagen können. Ich liebe sie, dachte er. Jäh war es ihm bewusst geworden.

Vor der Tür des Krankenzimmers stand der riesige Blumenstrauß von Rolf.

»Von wem ist denn der?«, entfuhr es Trixi. »Gewaltiger ging es wohl nicht mehr. Muss ein verflixt schlechtes Gewissen haben, der Spender.«

»Ihr Verlobter«, sagte Michael. »Muss er ein schlechtes Gewissen haben?«

»Er ist noch nicht mein Verlobter, und es wird auch nicht dazu kommen«, stieß Trixi hervor.

Dann sah sie auf das bleiche unbewegliche Gesicht ihrer Mutter herab, und ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen.

Rasch beugte sich Trixi zu ihrer Mutter herab und streichelte zart ihre Wange.

»Bitte, werde gesund, liebste Mami«, flüsterte sie. Als sie sich aufrichtete, taumelte sie leicht, und wieder einmal fing Michael sie auf.

»Es kann alles wieder gut werden, Trixi«, flüsterte er. Jetzt wusste er ihren Namen. In Paris hatte er ihn nicht gewusst, und wie er ihn aussprach, war mehr als eine Liebkosung.

»Ich wünsche es so sehr«, gab sie zurück. »Es wäre schön.«

Sieh da, dachte Dr. Cornelia Kuhlmann, als die beiden dann den Gang herunterkamen. Der Herr Chefarzt kann auch galant sein! Es ärgerte sie. Besonders deshalb, weil dieses junge Mädchen so bezaubernd war.

Als sie dann von Schwester Lotte erfuhr, dass dies Fräulein Hollenberg war, empfand sie jedoch einen leisen Triumph. Nun, sie wollte doch mal sehen, ob sie die hübsche Beatrice nicht wenigstens bei Rolf Brugger ausstechen konnte. Dass Dr. Gordon für sie persönlich etwas übrig haben könnte, erschien ihr doch undenkbar. Trixi Hollenberg war die Tochter seiner derzeit schwierigsten Patientin. Falls noch etwas schiefgehen sollte, wollte er sich wohl das Wohlwollen der Angehörigen sichern.

Dass Dr. Gordon die Operation einfach genial durchgeführt hatte, hätte Cornelia Kuhlmann nur zugegeben, wenn er ihr mehr Aufmerksamkeit geschenkt hätte. Man sollte sie zur Kenntnis nehmen. Sie ertrug es nicht, links liegengelassen zu werden.

»Herr Hollenberg ist gekommen«, sagte sie in aggressivem Ton, als sie in sein Zimmer trat. »Darf er zu seiner Frau, oder ist das nur seiner Tochter gestattet?«

Dr. Gordon warf ihr einen kurzen kühlen Blick zu. Er hatte sich bisher kaum Gedanken über sie gemacht, außer dass sie manchmal morgens recht unausgeschlafen wirkte und nervös war. Jetzt hatte er plötzlich das Gefühl, dass er sich vor ihr in acht nehmen müsse.

»Ich wollte ohnehin mit Herrn Hollenberg sprechen«, sagte er gleichmütig

Matthias Hollenberg machte jetzt einen gefassten Eindruck. Er sah zwar immer noch sehr elend aus, hatte aber eine zuversichtliche Miene aufgesetzt.

Er ließ sich von Dr. Gordon den Verlauf der Operation erklären und schwieg danach einige Minuten.

»Ich habe volles Vertrauen zu Ihnen, Herr Doktor. Ich weiß, dass Sie das Menschenmögliche getan haben.«

Lange saß er dann am Bett seiner Frau. Astrid schlief. Nur ein einziges Mal kam ein leises Seufzen über ihre blassen Lippen, als er ihre Wange küsste.

Später kam auch Jörg. Auch er schien um Jahre gealtert. Ihm bereitete es sichtlich Qualen, seine Mutter so zu sehen.

»Ist Trixi nicht mitgekommen?«, fragte er.

»Sie war schon hier und will am Abend wiederkommen«, erwiderte sein Vater. »Wir werden uns bei der Nachtwache ablösen. Dr. Gordon ist damit einverstanden.«

Jörg trat an das Fenster und drehte seinem Vater den Rücken zu.

»Brugger hat angerufen. Er möchte dich dringend sprechen, Vater.«

»Er will sich sicher nur informieren, wie es Astrid geht.«

»Das glaube ich nicht«, sagte Jörg heiser.

»Was hast du, Jörg?«, fragte Matthias Hollenberg verwundert.

»Wir können morgen darüber spre­chen. – Wann wird Mami wieder mit uns sprechen können?«

»Ich weiß es nicht.«

*

Daniel und Fee waren an diesem Abend die einzigen Gäste in Isabel Guntrams eleganter Wohnung. Bei der Redakteurin trafen sich sonst Künstler und Wissenschaftler zu anregenden Gesprächen, aber wenn Fee schon mal in München war, wollte sie mit den Freunden einen richtigen gemütlichen Abend verbringen.

Mit Daniel Norden war Isabel schon längere Zeit befreundet. Vielleicht war es von ihr aus mal ein wenig mehr gewesen, aber sie hatte sich damit abgefunden, dass sein Herz Fee gehörte, und dann erst hatte sich eine richtige Freundschaft entwickelt.

Fee hatte die kluge Isabel erst besser kennengelernt, als sie sich einige Wochen auf der Insel der Hoffnung aufgehalten hatte.

Isabel war nicht nur sehr klug und attraktiv, sie war auch clever, und eigentlich gab es nichts im Gesellschaftsleben, was sie nicht wusste.

»Ich dachte schon, ihr würdet mich auf meinen Schmankerln sitzen lassen«, begrüßte sie ihre Gäste lächelnd.

Für ihre Freunde bereitete sie das Essen immer selbst zu, und der Tisch war eine erfreuliche Augenweide.

»Da wir wissen, was uns erwartet, haben wir uns erst mal Hunger angelaufen«, sagte Fee. »Schick bist du wieder, Isabel.«

»Frisch importiert aus Paris! Ich war drei Tage fort.«

Das Kaminkleid, das sie trug, war wieder einmal auffallend dekorativ. Sie konnte es sich leisten, die gewagtesten Muster zu tragen, Fee dagegen zog sportliche Kleidung vor.

»Wo wart ihr denn?«, fragte Isabel.

»Im Hofoldinger Forst«, erwiderte Daniel. »Aber der ist am Wochenende auch schon übervölkert.«

»Die Stadt wird immer enger«, meinte Isabel. »Da zieht es die geplagten Städter hinaus. Na, dann esst mal tüchtig. Es darf nichts übrig bleiben. Am Montag muss ich schon wieder fort.«

»Ich dachte, du wolltest dich langsam zur Ruhe setzen«, bemerkte Daniel.

Sie blinzelte zu ihm herüber. »Das kommt schon noch. Wie geht es bei euch, Fee?«

»Geruhsam, wie es sich für ein Sanatorium gehört. Schöne Grüße von Jürgen übrigens. Du hast lange nichts von dir hören lassen, meint er.«

Diese Worte genügten, um Isabel erröten zu lassen, was Daniel mit Verwunderung feststellte.

»Augenblicklich habe ich viel um die Ohren«, sagte sie dann überstürzt. »Geht es Jürgen gut?«

Zwischen Dr. Jürgen Schoeller, Arzt auf der Insel der Hoffnung, und Isabel hatte sich etwas angebahnt, aber niemand wusste, ob es schon einen zündenden Funken gegeben hatte. Jürgen war verschlossen, und Isabel war diesbezüglich undurchschaubar.

»Wenn ihr heiratet, gibst du deine Praxis hier dann auf?«, fragte Isabel ablenkend.

»Nicht so bald. Ein paar Jahre werden wir hier schon noch gemeinsam verbringen«, erwiderte Daniel. »So haben wir es geplant, nicht wahr, Fee?«

»Geplant schon.«

»Aber wenn du mit Johannes das Sanatorium leitest, wird Jürgen doch eigentlich ziemlich überflüssig«, sagte Isabel.

»Überflüssig ist nicht das richtige Wort. Worauf willst du hinaus, Isabel?«, fragte Daniel.

»Es war nur eine Frage. Ich habe mir überlegt, dass Jürgen dann eigentlich deine Praxis übernehmen könnte.«

»Nachtigall, ich hör dich trapsen«, lächelte Daniel.

»Sag’s doch gleich berlinerisch, da klingt es hübscher«, konterte Isabel mit leisem Lachen. »Na ja, warum sollte ich mit euch nicht darüber reden. Jürgen braucht es ja nicht zu wissen. Er ist ein bisschen sehr kompliziert. Er meint wohl, dass ich auf zu großem Fuß lebe. Liebe Güte, bei meinen Beziehungen kriege ich die Klamotten doch alle billiger, und mein Job verlangt nun mal, dass ich immer nach der letzten Mode gekleidet bin.«

»Und was hat das mit Jürgen und meiner Praxis zu tun?«, fragte Daniel.

»Stell dich nicht so an. Als ob ihr nicht wüsstet, dass Jürgen genau der richtige Mann für mich ist. Ruhig, ausgeglichen und zuverlässig. Ich werde ihm bei Gelegenheit mal einen Antrag machen, aber erst will ich noch feste verdienen, damit er mal seine eigene Praxis bekommt.«

»Und du meinst, dass er sich einfach hineinsetzt? Du kennst ihn noch immer nicht richtig, Isabel«, sagte Fee ernst.

»Ich kenne ihn, verlass dich drauf. Ich bin nun mal eine emanzipierte Frau. Ich sehe nicht ein, warum ich nicht meinen Anteil beitragen soll zu unserem Lebensglück.«

»Glück und Geld sind zweierlei Schuh«, sagte Daniel.

»Er fühlt sich dir nicht ganz gewachsen«, war Fees Meinung.

»Das ist ja der Witz. Er unterschätzt seine Qualitäten. Die Initiative liegt bei mir. Ich hoffe jedoch, dass ihr mich ein bisschen unterstützt. Und nun sag bloß nicht, dass ich nicht zur Arztfrau tauge, Daniel.«

»Sage ich doch gar nicht. Du bist anpassungsfähig.«

»Ehrlich gesagt, habe ich die Hetze satt. Ich würde mich als Hausfrau und Mutter recht wohl fühlen.«

»Kochen kannst du jedenfalls. Wie es mit dem Kinderkriegen ist, muss sich erst noch herausstellen«, sagte Daniel neckend.

»Ich hoffe auf bald«, sagte Isabel gedankenvoll. »Sonst bin ich zu alt, und am Ende bleibt mir tatsächlich nichts übrig, als ein Kind zu adoptieren.«

In ihrer dunklen Stimme schwang ein Ton mit, der den tiefen Ernst ihrer Gedanken ahnen ließ.

Aber dann schwenkte Isabel schnell auf ein anderes Thema über, das Daniel und Fee allerdings auch interessierte.

»Frau Hollenberg ist doch deine Patientin, Daniel, oder irre ich mich?«, fragte Isabel.

»Du irrst dich nicht. Das kommt doch bei dir gar nicht vor.«

»Eine dramatische Verlobungsparty war das, wie ich hörte. Ich war verhindert, sonst –«, sie unterbrach sich.

»Sonst hättest du mich dort getroffen«, vollendete Daniel schnell den Satz.

»Was du nicht sagst. Es ist doch von Dr. Gordon die Rede?« Isabel war sichtlich erstaunt.

»Von mir nicht, wie erfreulich, dass der Klatsch an mir vorübergeht. Dein Nachrichtendienst funktioniert schnell.«

»Es waren ein paar Leute da, die ich kenne, und die sich über meine Abwesenheit gewundert haben.«

»Und warum warst du abwesend?«

»Weil ich eine solche Verlobung abscheulich finde.«

»Na, hör mal, Trixi Hollenberg ist doch ein reizendes Mädchen.«

»Eben darum. Es ist schade, dass sie so verschaukelt wird. Der Bankier Hollenberg muss ein Brett vor dem Kopf haben, wenn er sich so einseifen lässt.«

»Spielst du auf die finanziellen Schwierigkeiten an?«, fragte Fee.

»Du weißt davon?«

»Ich habe es von einem Patienten gehört.«

»Auf der Insel redet man darüber«, staunte Isabel, »und hier wird man ausgelacht, wenn man es nur andeutet. Ich hatte mein Geld auf der gleichen Bank, mit der Brugger gearbeitet hatte. Ich bekam noch rechtzeitig Wind und habe umdisponiert.«

»Köpfchen, Köpfchen«, warf Daniel ein. »Wie immer clever.«

»Denkst du, ich habe Lust, meine sauerverdienten Spargroschen zu verlieren? Aber diesem Geldprotz geht es ganz schön an den Kragen, und Hollenberg soll die Karre aus dem Dreck ziehen. Das ist doch der Sinn dieser Verlobung, durch die Frau Hollenbergs Erkrankung einen Strich gemacht hat. Ich bin sehr gespannt, wie sich das nun entwickelt.«

Daniel sah Isabel mit einem hintergründigen Lächeln an. »Mein kleiner Finger sagt mir, dass es zu keiner Verlobung mehr kommt. Jedenfalls nicht zwischen Rolf Brugger und Trixi Hollenberg.«

»Kann dein kleiner Finger auch sagen, wie sich Brugger sonst aus seiner Klemme befreien kann?«

»Das interessiert mich wenig. Ich frage mich nur immer wieder, wie solche Leute noch so angeben können, wenn sie schon in einem sinkenden Boot sitzen.«

»Auch das ist eine Kunst«, sagte Isabel spöttisch.

*

»Was findest du eigentlich an Rolf?«, fragte zur gleichen Zeit Jörg seine SchwesterTrixi.

Sie blickte schweigend auf ihren Teller. Sie stocherte herum und schob ihn dann von sich.

»Weißt du nicht mal eine Antwort?«, fragte Jörg.

»Jetzt nicht mehr«, erwiderte Trixi leise. »Du hattest immer etwas gegen ihn.«

»Ja, das weißt du. Zum Missfallen der Familie. Du solltest es als Schicksalsfügung betrachten, dass es nicht zu der Verlobung kam, Trixi.«

Solche ernsten Worte aus dem Munde ihres Bruders ließen Trixi aufhorchen.

»Ich weiß nicht mehr, wie ich da herauskomme«, sagte sie unglücklich.

»Genauso wie du hineingeraten bist. Du warst verliebt in ihn, jetzt bist du es nicht mehr, stimmt es?«

»Ich weiß nicht, ob ich überhaupt verliebt in ihn war. Er war immer sehr nett zu mir.«

»Mit gutem Grund, aber das war er zu anderen Mädchen auch, ohne guten Grund«, erklärte Jörg sarkastisch. »Mach mal Inventur, Trixi. Wie oft habt ihr euch gesehen?«

»Ziemlich oft«, sagte sie stockend.

»Auf Partys, auf dem Tennisplatz, beim Segeln und Reiten.«

Sie nickte. »Warst du schon einmal verliebt, Jörg?«

»Nein. Mir sind die Mädchen, die im Alter zu mir passen würden, zu oberflächlich.«

»Wenn es dir nun einmal passieren würde, dass du ein Mädchen triffst, dass du beim ersten Blick wüsstest, das ist die Richtige, was würdest du dann tun?«

»Sie festhalten und nicht mehr loslassen.«

»Ein Mann kann das«, stellte Trixi gedankenvoll fest, »aber wenn das einem Mädchen passiert?«

»Ich weiß nicht, worauf du hinaus willst. Warst du denn so verliebt in Rolf?«

»Ich spreche nicht von ihm. Aber es kann doch möglich sein, dass man irgendwann, irgendwo einen Mann trifft, bei dem man so ein ganz komisches Gefühl hat, und dann wird man getrennt, und erst später wird einem bewusst, dass es der Richtige gewesen wäre, aber man erfährt nie, ob es bei ihm genauso gewesen ist …, ach, das verstehst du ja nicht.«

»Ich verstehe schon ganz gut. Man will probieren, ob ein anderer die Gedanken nicht verdrängen kann. Meinst du es so?«

»In etwa. Manchmal wird einem so lange eingeredet, wie gut man zueinander passt, dass man selbst daran glaubt.«

»Aber ich habe nie gesagt, dass Rolf gut zu dir passt.«

»Du bist immer Opposition.«

»Mami war es auch, sie sagte es nur nicht deutlich.«

Trixi war aufgestanden. »Ich weiß nicht mehr, warum ich mit der Verlobung einverstanden war«, stieß sie hervor. »Ich weiß nur, dass es ein Fehler war.«

»Der sich aber ausbessern lässt, Trixi.«

»Paps wird es mir übelnehmen.«

»Ist es sein Leben oder deins? Außerdem hat Paps einen ganz schönen Schock bekommen, und dann … aber darüber sollte ich wohl lieber nicht sprechen.«

»Was dann?«

»Euch wird wohl bald ein Licht aufgehen, warum Brugger und Sohn so versessen auf diese überstürzte Verlobung waren. Es ist sehr schlimm, dass Mami so lange in der Klinik bleiben muss, aber während dieser Zeit kann viel Wasser den Berg herunterrinnen, Trixi. Es wäre jedenfalls ein großer Fehler, wenn die Verlobung nun ohne Party proklamiert würde.«

»Das kommt gar nicht in Frage. Ich will gar nicht mehr, aber ich muss erst mit Paps sprechen.«

»Dic gehorsame Tochter«, sagte Jörg spöttisch.

»Ich habe unsere Eltern sehr lieb, Jörg.«

»Ich auch, wenn ich auch manchmal allerlei an unserem Vater auszusetzen hatte. Aber ich würde mich niemals ihren Wünschen fügen, wenn ich selbst anderer Ansicht bin.«

Trixi ging zur Tür. »Ich fahre jetzt in die Klinik«, sagte sie leise.

*

Astrid lag noch immer bewusstlos, aber ihre Gehirnzellen begannen zu arbeiten. Sie nahm Geräusche wahr, dann den schweren Atem eines Menschen, ein leises, gequältes Stöhnen. Sie spürte die Berührung einer Hand und zuckte leicht zusammen, weil diese kalt war.

»Astrid, Liebes«, sagte eine vertraute Stimme atemlos, aber schon lange hatte sie diese nicht mehr so voller Liebe und Zärtlichkeit vernommen.

Sie lauschte in sich hinein. Sie versuchte, Zusammenhänge zu finden und langsam erinnerte sie sich. Sie wollte die Augen öffnen, aber es fiel ihr schwer. Es war ihr, als wären sie zugeklebt.

»Matthias?« Der Name löste sich fragend, kaum vernehmbar von ihren Lippen. Und dann spürte sie, wie heiße Tränen auf ihre Hände fielen. Es war ein ganz wunderliches Gefühl.

Matthias, ihr Mann, war bei ihr. Und er weinte. Ihr Herz begann kräftiger zu schlagen. Sie spürte, wie das Blut durch ihre Adern strömte.

Ich lebe, ging es ihr durch den Sinn. Ich darf leben. Denken konnte sie auch.

Auch ihre Hände konnte sie bewegen, und ihre Füße. Sie versuchte es gleich. Es verursachte ihr Schmerzen, und doch war sie voller Glück.

»Mein Liebes, hörst du mich?«, fragte Matthias.

»Ja«, hauchte sie. »Ist alles schon vorbei?«

»Die Operation schon lange«, erwiderte er.

»Wie lange?«

Er blickte auf die Uhr. »Zwölf Stunden.« Und sie kann sprechen, sie kann sprechen, sich bewegen, dachte auch er.

»Ich bin so müde«, flüsterte Astrid.

»Dann schlaf, mein Liebes. Du musst viel schlafen, damit du bald ganz gesund wirst.«

»Wo ist Trixi!«

Was sie wohl denken mochte, dass sie nicht auch nach Jörg fragte? Und gerade da kam Trixi ganz leise zur Tür herein.

Astrid konnte sie kaum gehört haben, aber sie musste es fühlen.

»Trixi«, flüsterte sie.

»Mami«, halb schluchzend stieß es Trixi hervor, und dann saß sie auch schon am Bett ihrer Mutter und legte die Wange auf die schmale Hand.

Mit einem weichen Lächeln um den Lippen schlummerte Astrid wieder ein.

»Komm, Kleines, du wirst ganz steif«, sagte Matthias Hollenberg liebevoll, Trixi zu sich emporziehend. »Setz dich in den bequemen Sessel.«

»Es ist so schön. Ich bin so glücklich. Dr. Gordon hat gesagt, dass es noch ziemlich lange dauern kann, bis Mami wieder zu sich kommt, und nun hat sie schon mit uns gesprochen.«

»Er wird sich gern getäuscht haben«, sagte Matthias.

»Wir müssen es ihm sagen.«

»Macht er denn Dienst rund um die Uhr?«, fragte Matthias verwundert. »Er hat doch schon vergangene Nacht kaum geschlafen.«

»Er wird schlafen können, wenn es Mami bessergeht. Und du musst auch schlafen, Paps.«

*

Matthias hatte sich überreden lassen, heimzufahren.

Trixi blieb am Bett ihrer Mutter sitzen. Erfüllt von Dankbarkeit hatte sie die Hände gefaltet.

Sie wusste nicht, wie lange sie so saß, als Dr. Gordon eintrat. Ganz leicht legte er seine Hand auf ihre Schulter.

Mit leuchtenden Augen blickte Trixi zu ihm empor. »Mami hat mit uns gesprochen«, flüsterte sie.

»Ja, ich weiß. Ihr Vater hat es mir gesagt.«

»Wir haben Ihnen so sehr zu danken.«

Er wollte keinen Dank. Er wollte sie glücklich sehen. Er hielt den Atem an, als sie ihre Wange auf seine Hand legte, die noch immer ihre Schulter umfasst hielt.

Es war ein unsagbar schönes, beglückendes Gefühl, das augenblicklich alle Zweifel aus seinem Herzen verdrängte.

»Trixi«, sagte er zärtlich, »unvergessenes kleines Mädchen aus Paris.«

»Jetzt müssten wir uns nicht mehr aus den Augen verlieren«, sagte sie träumerisch. »Jetzt wissen wir, wie wir heißen.«

Durfte man so etwas denn überhaupt sagen? Sie erschrak vor ihrem eigenen Mut.

Aber nun umschloss seine andere Hand auch ihre andere Schulter, und er beugte sich zu ihr hinab.

»Ich habe nicht geglaubt, dass ich Sie wiedersehen würde«, sagte er dicht an ihrem Ohr. »Man soll den Glauben nie verlieren.«

»Nein, man soll den Glauben nie verlieren«, wiederholte sie. »Kannst du mir verzeihen, dass ich in die Irre gegangen bin, Michael?«

Ja, woher nahm sie nur diesen Mut?

Michael fragte sich nicht, wie weit sie sich verirrt hatte. Jetzt war sie ihm ganz nahe, lehnte ihren Kopf an seine Schulter und presste ihre weichen Lippen an sein Kinn.

Er zog sie sanft empor und drehte sie zu sich herum. Sie ruhte jetzt an seiner Brust, wie damals. Ihre Blicke versanken ineinander wie an jenem Frühlingstag in Paris, und nun küsste er sie, wie er es damals schon gewollt hatte.

*

Rolf Brugger dachte gar nicht daran, seine Gewohnheiten zu ändern. Er war wie jeden Abend bei »Blacky«. Und er bekam bald Gesellschaft.

Überrascht war er nicht, als ihm jemand auf die Schulter tippte, denn das passierte öfter, aber seine Augen weiteten sich doch staunend, als er sich umdrehte und Cornelia Kuhlmann auf dem Barhocker neben ihm Platz nahm.

»Hallo«, sagte er, »welch angenehme Überraschung.« Es stimmte ihn immer zufrieden, wenn er eine schnelle Eroberung gemacht hatte. Die Begeisterung darüber war allerdings meist auch schnell wieder vorbei, aber vorübergehend bereitete es doch ein prickelndes Vergnügen. In bezug auf Dr. Cornelia Kuhlmann schien es lohnend, sich ein wenig Mühe zu geben, denn von ihr konnte er manches erfahren, was ihn interessierte.

Es wurde ein Katz- und Maus-Spiel zwischen ihnen, für beide Teile voller Spannung. Cornelia war viel zu raffiniert und erfahren im Umgang mit Männern, um es ihm leichtzumachen.

Cornelia hatte ihre besondere Taktik, und sie hatte vorgesorgt. Rolfs Gesicht wurde ziemlich lang, als sie ihm einen Begleiter vorstellte, der Vic hieß und sich gerade noch am Eingang mit ein paar Leuten unterhalten hatte. Rolf hatte ihn schon mehrmals hier gesehen. Es kränkte ihn doch ein bisschen, dass Cornelia, die von diesem Vic Conny genannt wurde, anscheinend nicht seinet­wegen hierhergekommen war.

Er trank hastig, und Cornelia erreichte genau das, was sie wollte. Er widmete sich ausschließlich ihr. Er merkte auch gar nicht, dass Vics Interesse an ihr nur ein oberflächliches war.

Sie verließen gemeinsam, wohlgemerkt ohne Vic, die Bar. Rolf hatte durchaus nichts dagegen einzuwenden, bei Cornelia noch eine Tasse Mokka zu trinken.

Er wusste nicht, dass sie im Ärztehaus bei der Klinik wohnte. Er bekam es auch gar nicht richtig mit, dass sie seinen Wagen dorthin steuerte. Sie war nüchtern, er nicht. Ihr gefiel es, diesen schicken Wagen zu steuern, und sie hatte schon ganz andere Pläne im Kopf.

Für sie war er der reiche Rolf Brugger, mit einem dicken Bündel großer Geldscheine in der Brieftasche, und noch war seine Verlobung nicht offiziell. Sie sah eine Chance und wollte daraus das Bestmögliche für sich machen. Es war genau Mitternacht, als sie den Wagen auf dem Parkplatz der Klinik anhielt.

»Wo sind wir?«, lallte Rolf.

»Der kleine Rolf hat einen Schwips«, sagte Cornelia spottend. »Er bekommt gleich einen herrlichen starken Mokka.«

»Du bist ein nettes Mädchen, Conny«, murmelte er. »So richtig schön verständnisvoll. Mit dir kann man etwas anfangen.«

»Lass das nicht deine Verlobte hören«, sagte sie.

»Ist doch bloß ein geschäftliches Engagement«, brummte er.

»Sooo?«, fragte sie gedehnt.

»Glaubst du mir etwa nicht? Was soll ich mit ihr anfangen?«

»Sie ist sehr hübsch«, sagte Cornelia schlau.

»Und langweilig. Warum reden wir vonTrixi?«

»Vielleicht findet ein anderer Mann sie nicht langweilig?«

»Ist mir doch egal. Ich dachte, ich bekomme einen Mokka?«

»Ja, den bekommst du.« Cornelias Augen hatten sich in die Dunkelheit gebohrt. Sie sah eine schattenhafte schmale Gestalt von der Klinik herüberkommen.

Sie hatte jede Minute berechnet, und ihre Rechnung war aufgegangen. Sie hatte gehört, wie Matthias Hollenberg zu Dr. Gordon gesagt hatte, dass Trixi bis Mitternacht bleiben würde und sie dann von ihm abgelöst würde.

Jetzt kam sie, als sich Rolf mit Cornelias Hilfe aus dem Wagen emporrappelte und ihr um den Hals fiel.

»Komm, Rolf«, sagte Cornelia ziemlich laut. »Es kommt jemand.«

»Stört dich das? Mir ist es egal. Mir ist alles egal.« Er bog ihren Kopf zurück und küsste sie, genau unter der Lampe, so dass Trixi ihn und auch Cornelia genau erkennen konnte.

Bis hierhin hatte Cornelias Plan genau geklappt, nur eins hatte sie nicht einkalkuliert: Dass es Trixi völlig kalt lassen konnte!

Trixi war überrascht gewesen, völlig überrascht sogar. Sie war stehengeblieben, als sie den Namen »Rolf« vernahm. Sie blieb auch jetzt stehen und sah, wie die beiden auf das zweistöckige Haus zugingen. Aber anstatt betroffen zu sein, fühlte sie sich versucht zu lachen.

Wie lange mögen sie sich schon kennen, war die einzige Frage, die sie sich stellte.

Mir ist alles egal, hatte Rolf gesagt. Ihr war es auch egal. Sie dachte nur noch an einen Mann. Sie wusste, zu wem sie gehörte.

Aber Cornelia spielte ihr Spiel unter ganz falschen Voraussetzungen weiter, und sie ahnte nicht, wie sehr sie das bald bereuen sollte.

*

Jörg hatte auf seine Schwester gewartet. »Müde?«, fragte er gepresst.

»Es geht.«

»Ich wollte anstelle von Paps kommen, aber er hat es sich nicht nehmen lassen. Möchtest du etwas zu trinken?«

»Einen Cognac«, erwiderte sie.

»Einen Cognac?«, wiederholte er staunend.

»Mir ist danach. Paps sagt immer, das hilft. Ich muss dich etwas fragen, Jörg.«

»Und dazu brauchst du einen Cognac?«

»Du wolltest mir heute nachmittag etwas sagen. Über Rolf! Du hast dich unterbrochen. Betrifft es Frauengeschichten?«

Er hatte schon zwei Cognacgläser eingeschenkt. »Trinken wir erst einen Schluck«, sagte er.

Trixi hustete nach diesem ersten Schluck. »Komisches Zeug«, sagte sie. »Was ihr daran findet!«

»Du wolltest doch einen. Es ist französischer. Erstklassig. Du wirst schon merken, wie gut er tut.«

»Lenke nicht ab. Du kannst mir alles sagen. Ich habe Rolf gerade vorhin mit einer Frau gesehen, und weißt du mit wem? Mit Dr. Kuhlmann!« Sie kicherte. Bei ihr wirkte der Cognac sehr schnell.

»Soll das eine Frau sein?«, fragte Jörg verblüfft.

»Anästhesieärztin. Ganz schick. Sogar so eine fällt auf ihn rein.«

Sie lachte wieder.

»Und dich scheint es ganz köstlich zu amüsieren«, sagte Jörg.

»Soll ich weinen? Mir ist nicht danach zumute. Um so was brauchst du dir keine Gedanken zu machen, Brüderchen. Du wirst mal einen Schwager bekommen, dass dir die Augen übergehen.«

»Trixi, du hast ja einen Schwips«, sagte Jörg.

»Warum auch nicht. Ist doch schön. Mami geht es besser. Michael liebt mich und –«

»Wer ist Michael?«, fiel ihr Jörg ins Wort.

Trixis Gesicht bekam einen ver­träumten Ausdruck. »Ein wunderbarer Mann. Ich habe ihn immer geliebt. Jetzt weiß ich es. Schau mich nicht so an. Das ist kein Gerede, und ich habe keinen Schwips. Ich bin nur glücklich. Und Rolf wird an einer Verlobung auch nicht mehr interessiert sein. Er hat sich schnell getröstet.«

»Meinst du? Frauen hat es in seinem Leben immer gegeben. Glaub ja nicht, dass eine Verlobung oder auch eine Ehe etwas daran geändert hätte, Trixi. Aber jetzt brauchen sie Paps.«

»Wieso Paps?«, fragte Trixi staunend.

»Besser gesagt, sein Geld. Das allein war der Grund zu dieser Verlobung.«

»Geld? Sie haben doch mehr als wir«, sagte Trixi fassungslos.

»Früher mal vielleicht. Ich bin da nicht so sicher. Seit ich die Bank­geschäfte kenne, bin ich mir nicht sicher, ob das Millionäre sind. Die Richtigen, die auf einem festen Fundament stehen, nehmen den Mund nicht so voll. Sie sind ihren Kindern gegenüber meist auch ziemlich kleinlich.«

Hellwach sah Trixi ihren Bruder an. »Und du meinst wirklich, dass die Bruggers Geld brauchen?«

»Ich weiß es. Für Paps wird es ein böses Erwachen geben.«

»Hat er ihnen denn schon Geld gegeben?«, fragte Trixi.

»Nein, aber er wird erkennen müssen, dass seine Tochter nur ein Handelsobjekt war. Das gefällt dir auch nicht, stimmt’s?«

»Mir geschieht es nur recht«, sagte sie. »Warum war ich so blöd! Aber mir ist das völlig egal, wenn Paps nicht in der Tinte sitzt. Du wirst doch dafür sorgen, dass er sich nicht jetzt noch hineinsetzt?«

»Ich werde ihm die Tatsachen schwarz auf weiß liefern. Allerdings wird es ihn ziemlich treffen. Er ist mit den Nerven ziemlich am Ende.«

»Aber für ihn wäre es das Ende, wenn er seinen guten Namen verlieren würde«, flüsterte Trixi. Nun hatte sie doch Angst, nicht um sich, sondern um ihren Vater. Sie verstand zwar nicht viel von Geschäften, aber sie wusste doch, dass ihr Vater sich nicht in die Karten blicken ließ, und vielleicht hatte er doch schon ein Abkommen mit August Brugger getroffen, von dem Jörg nichts wusste, und wenn es nur eine Unterschrift war.

Aber in dieser Nacht war sie so müde, dass sie einschlief.

*

Auch Michael Gordon hatte tief und traumlos geschlafen, da seine geheimsten Träume nun Wirklichkeit geworden waren. Wie neugeboren fühlte er sich am nächsten Morgen. Punkt sieben Uhr war er schon wieder in der Klinik.

Sein erster Weg führte ihn zu Astrid Hollenbergs Zimmer. Matthias war noch immer da, aber er konnte sich jetzt wirklich kaum noch auf den Beinen halten.

»Fahren Sie jetzt heim, Herr Hollenberg«, sagte Michael. »Schlafen Sie sich einmal richtig aus.«

Mit steifen Beinen ging Matthias Hollenberg davon, und um nicht von der Müdigkeit übermannt zu werden, stellte er sein Autoradio an. Er hörte nicht auf die Musik, aber er fühlte sich durch diese am Steuer nicht so allein.

Immerhin hatte er eine ganz hübsche Strecke zurückzulegen. Ausgestorben lagen die Straßen der Stadt. Der Himmel war wolkenverhangen und verlockte keine Ausflügler.

Er war fast daheim angelangt, als die Stimme des Radiosprechers aktuelle Nachrichten ankündigte.

Eine neue Bankpleite? Matthias Hollenberg horchte auf, im tiefsten Innern befriedigt, dass so etwas seiner Bank nicht widerfahren konnte.

Doch dann fiel der Name Brugger. Gerade, als er vor seiner Einfahrt angelangt war. Rote Funken tanzten vor seinen Augen.

Brugger war darin verwickelt? Das konnte doch nicht möglich sein! Das hätte er doch wissen müssen. Nein, das konnte nicht stimmen!

»Selbst in gutinformierten Kreisen schlug diese Nachricht wie eine Bombe ein«, sagte der Sprecher.

»Es wird damit gerechnet, dass August Brugger das Vergleichsverfahren beantragen muss.«

Jäh zerriss ein Schleier vor Matthias Hollenbergs Augen. Er sah alles ganz deutlich. Brugger hatte ihn gebraucht. Die Verlobung … Guter Gott, Trixi! Seine Tochter war nur Mittel zum Zweck gewesen, und Trixi war so verliebt in Rolf. Davon war Matthias Hollenberg fest überzeugt. Er war keines klaren Gedankens mehr fähig, als er ins Haus wankte. Um ihn drehte sich alles. In seinem Kopf war völlige Leere, und es wurde ihm schwarz vor den Augen, als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel.

Er suchte nach einem Halt, als ein Schwindel ihn erfasste, er riss eine Vase von dem Tischchen, die krachend zu Boden stürzte. Dann sank er über den Scherben zusammen.

Jörg erwachte von dem Krach. Halbmunter war er schon gewesen. Mit beiden Beinen sprang er aus dem Bett, raste aus seinem Zimmer, den Gang entlang, und wäre dann doch noch fast über seinen Vater gestolpert.

»Was ist denn los?«, rief Tilli ängstlich vom Mansardenzimmer herab.

»Kommen Sie schnell«, rief Jörg, und dann erschien auch Trixi.

»Schnell, ruf sofort den Arzt an, Trixi. Paps …«

Eine Minute später klingelte bei Dr. Norden das Telefon. Das Läuten weckte nicht nur ihn, sondern auch Fee.

Sie rieb sich die Augen. Heute ist doch Sonntag, dachte sie.Wer holt Daniel denn so früh aus dem Bett?

»Ich komme sofort«, hörte sie ihn sagen, und stand schon in der Tür, als er ins Bad eilen wollte.

»Wo brennt es?«, fragte sie.

»Bei Hollenberg. Er ist zusammengeklappt. Schlaf weiter, Liebling.«

Sie konnte nur staunen, wie schnell er dann aus der Tür war.

Die Schnittwunden, die sich Matthias Hollenberg bei dem Sturz zugezogen hatte, sahen schlimmer aus als sie waren. Der Kreislaufkollaps bereitete Dr. Norden weit mehr Sorgen. Mit Jörgs Hilfe hatte er ihn in das Schlafzimmer getragen. Er hatte ihm eine Spritze gegeben und beobachtete den Mann nun genau.

»Wie ist es passiert?«, fragte er.

Jörg sah selbst mitleiderregend aus. Trixi hatten sie hinausgeschickt.

»Vater war in der Klinik. Es war wohl zuviel für ihn. Er kann gerade erst nach Hause gekommen sein. Ich hörte, wie etwas krachte und bin gleich hinausgelaufen. Da lag er.«

Es ist ein bisschen viel für die beiden, dachte Daniel Norden. Wann haben sie schon Sorgen kennengelernt, und nun kommt alles auf einmal.

Wie ein Blitz schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, dass Matthias Hollenberg nun doch etwas von den Gerüchten um August Brugger gehört haben könnte.

»Hatte Ihr Vater noch andere Aufregungen, als die Krankheit Ihrer Mutter?«, fragte er.

»Wäre das nicht schon genug?«, stieß Jörg hervor. »Er hat seit Freitag nacht kaum geschlafen. Das haut doch den stärksten Mann um.«

Dr. Norden konzentrierte sich wieder auf den Kranken. »Kümmern Sie sich um Ihre Schwester«, sagte er zu Jörg, als er sah, dass sich Matthias Hollenbergs Lippen bewegten, denn wie ein Hauch tönte ein Name an sein Ohr. Nur er konnte ihn hören, da er sein Ohr dicht zu dem Kranken geneigt hatte.

»Brugger«, hatte Matthias Hollenberg gesagt. Leise machte Jörg indessen die Tür hinter sich zu. »Trixi«, flüsterte der Kranke jetzt.

»Ruhig, Herr Hollenberg, ganz ruhig«, sprach Daniel auf ihn ein.

Mühsam öffnete der Kranke die Augen. »Mein Kopf«, stöhnte er, »was ist mit …?«

Er wollte sich aufrichten, aber Dr. Norden drückte ihn in die Kissen zurück.

*

An Weiterschlafen war bei Fee nicht zu denken gewesen. Sie hatte geduscht und sich angekleidet. Sie ging in die Küche und füllte Wasser in die Kaffeemaschine.

Als sie nach den Filtertüten suchte, erschien Lenchen. »Gibt’s denn so was«, brummte sie. »Es ist doch Sonntag, und nicht mal die Sonne scheint. Ihr braucht doch nicht mit den Hühnern aus den Federn zu kriechen.«

»Daniel ist schon zu einem Patienten gerufen worden«, erklärte Fee.

Lenchen schüttelte den Kopf. »Dass die Leute auch sonntags krank werden müssen«, murmelte sie. »Rücksichtslos.«

Fee wusste, dass Lenchen das nicht so meinte. Sie brummelte gern und fand auch immer etwas, worüber sie brummeln konnte. Das Telefon war für sie sowieso eine Erfindung des Teufels. Darüber ließ sie sich lang und breit aus.

Dann wechselte sie das Thema und begann über Mario zu reden.Wen Lenchen mal ins Herz geschlossen hatte, der hatte auch seinen Platz darin. Mit ihren Sympathiebeweisen war sie überaus sparsam. Aber Mario hätte sie gar zu gern hiergehabt.

Da sie schwerhörig war, redete sie ziemlich laut, und fast hätte Fee deshalb Daniels Kommen überhört.

Er meinte ja, dass sie noch schlafen würde und war darum extra leise.

Doch Fee stand schon frisch und munter vor ihm und begrüßte ihn mit einem zärtlichen Kuss.

»Es gibt gleich Kaffee«, sagte sie.

»Das lasse ich mir gefallen. Bin gleich wieder da.« Unrasiert wollte er sich doch nicht an den Frühstückstisch setzen.

»Du machst mit mir allerhand mit an diesemWochenende«, sagte er später.

»So wird es wohl während unserer ganzen Ehe sein«, sagte Fee.

»Als Sanatoriumsdoktor werde ich den Patienten Nachtruhe bis neun Uhr verordnen«, scherzte Daniel.

»Du wirst dich wundern, mein Schatz.Wie sollen wir da das Tagesprogramm abwickeln? Was ist mit Hollenberg?«

Sie strich ihm Toasts am laufenden Band, und er aß sie hungrig.

»Der Kreislauf spielt nicht mehr mit. Ein bisschen zuviel Aufregungen auf einmal. Die Nacht hat er wieder bei seiner Frau gewacht, und heute morgen hat er im Radio gehört, was mit Brugger los ist. Nun denkt er auch noch, dass Trixi leidet, und er lässt es sich nicht ausreden. Ich habe ihm eine Spritze gegeben, damit er erst mal schläft. – Du, sag mal, willst du mich mästen?«

»Solange es dir schmeckt, hast du Hunger«, sagte Fee. »Außerdem hast du schon wieder abgenommen.«

»Jedes Pfund zuviel verkürzt das Lebensalter. Und ich will uralt werden mit dir, mein Liebes.«

Er machte die schönsten Komplimente so ganz nebenbei, und immer wieder war Fee darüber unendlich glücklich. Schnell gab sie ihm einen Kuss.

»Ein Frühstück mit dir kann den ganzen Tag dauern«, sagte Daniel. »Heute machen wir es uns zu Hause gemütlich. Oder hast du andere Pläne?«

Sie hatte überhaupt keine, aber insgeheim hoffte sie doch, dass sie wenigstens ein paar Stunden ungestört genießen konnten.

Cornelia Kuhlmann wurde von dem Läuten des Weckers aus dem Schlaf geholt, der sie daran erinnerte, dass sie Sonntagsdienst hatte.

Sie richtete sich auf und vernahm ein unwilliges Brummen. Jetzt war sie ganz da, und Triumph glomm in ihren Augen auf. Ganz sicher war sie sich, dass sie erreicht hatte, was sie wollte, als sie Rolfs Gesicht betrachtete.

In der Dämmerung, die durch das Zimmer kroch, hatte es jungenhafte Züge. Es war ein ausgesprochen hübsches Gesicht. Einen solchen Mann hatte sie sich immer gewünscht. Es gab wenige, die so gut aussahen und so viel Geld hatten. »Mich wirst du nie mehr los«, hatte er zwischen leidenschaftlichen Küssen gesagt, und sie nahm es gar zu gern als bare Münze.

Am liebsten hätte sie ihre Arbeit auf der Stelle hingeschmissen, aber auch jetzt behielt der Verstand bei ihr die Oberhand.

Sie ging in ihre kleine Küche und setzte den Wasserkessel auf. Dann ging sie ins Bad.Wenn sie ihre Morgentoilette beendet hatte, kochte das Wasser. Sie hatte das genau berechnet und oft genug geübt.

Auch heute klappte es. Sie stellte das Radio an und brühte den Kaffee auf.

Und dann, fünf Minuten später, ließ sie fast die Kaffeetasse fallen. Sie hörte die gleiche Meldung, die Matthias Hollenberg fast einem Herzinfarkt nahe gebracht hatte. Ihr Gesicht verzerrte sich. Sie stürzte in ihr Schlafzimmer und riss die Vorhänge zurück.

»Aufstehen!«, schrie sie hysterisch.

»Was soll denn das?«, knurrte Rolf.

Jetzt fiel das Licht voll ins Zimmer. Jetzt sah sein Gesicht nicht mehr jungenhaft aus, sondern verkatert und böse dazu.

»Das musst du dir abgewöhnen«, sagte er gereizt.

»Ich werde mir gar nichts abgewöhnen. Du wirst verschwinden und dich nicht mehr blicken lassen«, fuhr sie ihn an.

»Conny, was soll das? Was habe ich dir denn getan? Gestern –«

Er kam nicht weiter. »Es interessiert mich nicht, was gestern war«, brauste sie auf. »Ich lege keinen Wert darauf, mit dem Sohn eines Bankrotteurs in Verbindung gebracht zu werden. Da musst du dir schon eine Dümmere suchen.«

»Du weißt ja nicht, was du redest«, sagte Rolf.

»Die Spatzen werden es bald von den Dächern pfeifen. Im Radio haben sie es schon durchgesagt, dass Brugger am Ende ist.«

Ganz käsig war sein Gesicht.

»Das ist Wahnsinn«, stieß er hervor. »Das kann nicht wahr sein!«

»Heul dich bei deiner Trixi aus, und mich verschone bitte«, sagte sie. »Los, beeil dich. Mein Dienst beginnt gleich. Das ist kein Spass, Herr Brugger. Und wehe, wenn du mich ins Gerede bringst!«

Das war Rolf in seinem ganzen Leben noch nicht passiert. Er war völlig benommen und ließ sich herumkommandieren. Er brachte kein Wort mehr über die Lippen, denn er dachte an seinen Vater. Er begriff auch, dass nun alles aus und vorbei war.

Für Cornelia allerdings auch. Zufällig sah Michael Gordon, dass Rolf Brugger das Ärztehaus verließ. Er erkannte ihn sofort. Sein Gesicht hatte sich ihm eingeprägt. Er sah auch, wie er zu seinem Wagen ging. Er sah wenige Sekunden später Cornelia Kuhlmann aus dem Hause kommen. Mit zehn Minuten Verspätung nahm sie ihren Dienst auf.

Hektische Röte breitete sich auf ihrem Gesicht aus, als sie auf dem Gang zusammentrafen.

»Guten Morgen, Chef«, sagte sie.

»Guten Morgen«, sagte er eisig und ging an ihr vorbei.

*

Gegen zehn Uhr machte sich Trixi bereit, um in die Klinik zu fahren.

Hilflos sah sie Jörg an. »Wenn Mami nun nach Paps fragt, was soll ich dann sagen?«

»Dass er schläft. Sie wird es verstehen. Dr. Norden hat gesagt, dass er sich bald erholen wird.«

»Aber du rufst ihn sofort an, wenn es Paps schlechter geht?«

»Natürlich. Mach dir darüber keine Sorgen.«

»Tilli soll ihm eine Fleischbrühe kochen«, sagte Trixi. »Sorg dafür, dass er etwas isst, Jörg.«

Er nahm ihre Hand und drückte sie fest. »Kannst dich schon auf mich verlassen, Trixi. Ich will doch auch, dass Paps gesund wird. Kopf hoch, Schwesterchen. Jetzt sind halt wir an der Reihe, um uns zu beweisen.«

Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange, und Jörg, der doch so spröde war, ließ es sich gefallen.

Trixi liebte ihren eigenwilligen Bruder sehr. Natürlich hatte es auch zwischen ihnen unterschwellige Spannungen gegeben, wie es nun mal war, wenn jeder schon seine Meinung hatte und diese auch äußerte.

Jörgs Einstellung wurde von seinem Vater als sozialer Tick bezeichnet, und weil Jörg sich verkannt fühlte, opponierte und rebellierte er manchmal gegen die Gesellschaft, in der sie aufgewachsen waren.

Wie recht er mit seiner Einstellung hatte, war Trixi erst in letzter Zeit bewusst geworden. Es war zum größten Teil eine verlogene Gesellschaft.

Wie hässlich hatte sich Rolf über ihre Mutter geäußert, und am nächsten Tag fuhr er in die Klinik und brachte einen riesigen Blumenstrauß. Alles nach außen hin, aber das, was sie wirklich darstellten, ließ das Licht des Tages scheuen.

Sie dachte jetzt wieder an ihre Beobachtungen in der Nacht. Es kam ihr schon ein wenig merkwürdig vor, dass sich diese Szene vor ihren Augen abgespielt hatte, unter der Lampe. Rolf musste wohl schon sehr betrunken gewesen sein, um nicht mehr Vorsicht walten zu lassen. Oder war diese Ärztin die treibende Kraft. Hatte sie gesehen werden wollen mit Rolf?

Ach, was geht es mich an, dachte Trixi. Für mich ist dieses Kapitel vorbei.

Aber wie hatte es erst dazu kommen können? Warum war sie bereit gewesen, sich mit Rolf zu verloben?

Hatte es ihr nicht geschmeichelt, dass er so um sie bemüht war? Sie dachte an den Faschingsball zurück, auf dem sie ihn näher kennengelernt hatte. Natürlich war man den Bruggers schon früher hin und wieder auf Festlichkeiten begegnet, aber zu einer näheren Bekanntschaft war es nicht gekommen. Brugger bewegte sich gern in adligen Kreisen. Er pflegte sein Prestige, während ihre Eltern einen langjährigen Freundeskreis besaßen.

Jetzt dachte sie auch darüber nach, dass sich diese alten Freundschaften mehr und mehr gelockert hatten, dass ihr Vater nicht mehr zu seinem Stammtisch gegangen war, dass er plötzlich seine Liebe zum Golf entdeckte, sich in den erlauchten Kreisen bewegte. Hatte er sich denn von Bruggers Umgang imponieren lassen? Hatte er das nötig?

Und ihr eigenes Leben? Hätte sie es nicht nützlicher gestalten können? Konnte Michael denn ein Mädchen lieben, das bisher nur von dem Geld seines Vaters gelebt hatte und nichts geleistet hatte?

Sie verglich ihn wieder mit Dr. Norden. Ja, sie waren sich in vielem ähnlich. Sie hatten es beide in jungen Jahren weit gebracht. Dann verglich sie sich mit Fee Cornelius.

Bei einem solchen Vergleich musste sie schlecht abschneiden. Ob Michael dies nicht auch in den Sinn kommen würde?

Sie vergaß dabei, dass Fee sechs Jahre älter war als sie und dass sie vor sechs Jahren auch noch jung und unfertig ihr erstes Semester hinter sich gebracht hatte.

Ich muss etwas tun, muss etwas leisten, um neben Michael bestehen zu können, dachte sie. Ich kann ihn dieser Gesellschaft nicht als meinen zukünftigen Mann präsentieren, da wohl noch einige Zeit von der Verbindung mit Rolf gesprochen werden würde.

O ja, sie konnte sich vorstellen, wie man klatschen, tuscheln und sich die Mäuler zerreißen würde.

Seht sie euch an, die kleine Hollenberg, würden die Leute sagen, wie sie ihre Chancen zu wahren weiß.

Der Brugger ist nicht mehr diskutabal, wenn seine Geschäfte schlecht gehen, da angelt sie sich gleich einen andern.

Und würden sie nicht auch sagen, dass Michael schön blöd sei, sich für sie zu entscheiden, die doch gerade noch eng mit einem andern in Verbindung genannt worden war?

Eng? Guter Gott, was war das doch für ein oberflächliches Vorspiel zu der Verlobung gewesen! Gewiss hatte Rolf sehr verliebt getan, gewiss hatten sie sich geküsst. Ein Frösteln kroch bei diesem Gedanken über ihren Rücken.

Wie anders hatte Michael sie geküsst heute nacht.Wie anders waren ihre eigenen Empfindungen dabei gewesen. Und wie sehr hatte sie sich auf den heutigen Morgen gefreut!

Nun gelang es ihr nicht einmal, ein Lächeln um ihre Lippen zu zwingen, als sie die Klinik betrat, und ausgerechnet Cornelia Kuhlmann war es, die ihr als erste in den Weg lief.

»Guten Morgen, Fräulein Hollenberg«, sagte sie mit dem liebenswürdigsten Lächeln.

»Guten Morgen«, erwiderte Trixi unsicher. Sie maßen sich mit einem forschenden Blick, der seltsame Gefühle in Trixi weckte. Hatte Cornelia Kuhlmann sie bei Rolf ausstechen wollen? Sie konnte wohl nicht ahnen, dass sie ihr damit nur einen Gefallen getan hätte und Trixi hoffte, dass es ihr ganz gelungen sein möge. Doch dachte sie dann auch wieder daran, was Jörg ihr über Brugger erzählt hatte.

Nein, so schlimm konnte es nicht sein, wie Jörg es dargestellt hatte. In Zahlungsschwierigkeiten konnten auch große Betriebe kommen, aber ein so mächtiges Werk konnte nicht so tief in die roten Zahlen geraten.

Als sie aus dem Lift stieg, begegnete ihr Cornelia Kuhlmann zum zweiten Mal. Wo sie plötzlich herkam, wusste Trixi auch nicht.

»Wollen Sie Dr. Gordon sprechen?«, fragte Cornelia hintergründig.

Trixi konnte es nicht verhindern, dass ihr das Blut in die Wangen stieg.

»Ich will zu meiner Mutter«, stieß sie hervor.

»Sie hatte eine gute Nacht.« Cornelia hätte gar zu gern ein Gespräch mit Trixi begonnen, aber das war vergebliches Bemühen.

Trixi betrat das Zimmer ihrer Mutter. Eine Krankenschwester musste den Blumenstrauß von Rolf hereingebracht haben. Sicher in freundlicher Absicht. Er stand auf dem Tisch. Trixi ergriff ihn und stellte ihn wieder vor die Tür. Da kam gerade Schwester Lotte.

»Vielleicht stellen Sie die Blumen

in den Aufenthaltsraum«, sagte Trixi freundlich. »Sie duften zu stark.«

»Ich habe sie nicht hineingestellt. Das muss jemand anderes gewesen sein«, sagte Schwester Lotte entschuldigend. Vielleicht die Kuhlmann, überlegte Trixi. Sie wollte doch was von mir. Was wollte sie? Mir unter die Nase reiben, dass Rolf etwas mit ihr hat?

Sie schob alle Gedanken beiseite, als sie ihre Mutter betrachtete. Ihre Gesichtszüge, soweit sie von dem Verband freigelassen wurden, waren entspannt. Sie atmete ruhig. Ihre Hände waren nicht so kühl wie gestern. Trixi versuchte, den Puls zu fühlen, aber sie fand nicht die richtige Stelle. Selbst dafür bin ich zu ungeschickt, dachte sie.

Mit dem Zeigefinger streichelte sie behutsam die feinen Hände ihrer Mutter. Astrid schlug langsam die Augen auf. Ihr Blick fand sich aus unendlicher Ferne in die Wirklichkeit.

»Trixi, mein Liebes«, flüsterte sie.

»Meine allerliebste Mami«, hauchte Trixi. Gegen ihren Willen drängten sich Tränen in ihre Augen, und sie schalt sich, dass sie sich nicht beherrschen konnte.

»Es wird ja alles gut, Kleines«, sagte Astrid. »Ich habe wundervoll geschla­fen.«

»Paps schläft jetzt endlich mal«, sagte Trixi hastig, ohne eine diesbezügliche Frage abzuwarten.

»War er bis zum Morgen hier?«, fragte Astrid.

Trixi nickte. »Wir lösen uns ab, Mami. Jörg kommt am Nachmittag.«

»Ich schlafe doch die meiste Zeit, Kleines. Ihr braucht nicht dauernd hier zu sein. Ich bin gut versorgt. Wäre ich nur nicht so eigensinnig gewesen, dann wäre es so weit wohl nicht gekommen.«

»Du warst zu rücksichtsvoll, Mami. Und wir zu wenig aufmerksam.«

»Ihr braucht euch keine Vorwürfe zu machen. Es kommt alles so, wie es einem bestimmt ist. Es tut mir leid, dass die Verlobungsparty …«

Sie kam nicht weiter.

Trixi legte ihr schnell den Finger auf den Mund und sagte: »Es braucht dir gar nichts leid zu tun. Das war an allem ja das einzig Gute.« Spontan war es ihr über die Lippen gekommen, und nun fragte sie sich, ob das richtig gewesen war.

»Hat dir nichts daran gelegen, Trixi?«, fragte Astrid zögernd.

»Es ist jetzt überhaupt nicht wichtig«, sagte Trixi ausweichend. »Es ist nur wichtig, dass du gesund wirst.«

»Denkt Paps auch so?«

»Natürlich, Mami. Du bedeutest ihm doch so viel.«

Wirklich? fragte sich Astrid. Hatte sich nicht alles verändert, verflacht? War es nicht nur noch ein Nebeneinanderleben, kein Miteinander?

»Du zweifelst doch nicht daran, dass du für Paps die Hauptperson bist?«, fragte Trixi, bemüht, ihrer Stimme einen leichten Klang zu verleihen.

»Wenn man so lange verheiratet ist«, sagte Astrid gedankenvoll, »dann …« Sie unterbrach sich.

»Dann kann man sich auch immer noch lieben«, warf Trixi ein. »Vielleicht denkt man nicht mehr jeden Tag daran, weil alles gleichmäßig verläuft, aber wenn dann etwas daherkommt, wird man sich dessen wieder bewusst.«

»Wie erwachsen du plötzlich geworden bist«, flüsterte Astrid.

Trixi küsste ihre Mutter auf die Wange. »Vielleicht musste mir auch erst klar werden, dass wir das Glück nicht gepachtet haben und mit Jörgs Worten muss ich jetzt wohl sagen, dass Glück nicht im Wohlstand liegt.«

»Jörg hat seine eigene Weltanschauung«, murmelte Astrid. Ein flüchtiges Lächeln legte sich dabei um ihren Mund.

»Aber eine gute. Nun sprich nicht so viel, Mami, sonst bekomme ich einen Verweis von Dr. Gordon.«

Und kaum hatte sie seinen Namen ausgesprochen, stand er auch schon in der Tür.

Michael hatte erwartet, dass Trixi zuerst zu ihm kommen würde. Ja, das hatte er ganz bestimmt geglaubt, und er war immer unruhiger geworden, je mehr die Zeit fortschritt.

Er hatte die Visite früh beendet. Dr. Cornelia Kuhlmann war ihm tunlichst aus dem Wege gegangen. Er hatte auch nicht die Absicht, mit ihr zusammenzurücken. Heute nicht. Schwester Lotte sagte ihm dann, dass Trixi bei ihrer Mutter sei.

»Als erstes hat sie die Blumen wieder vor die Tür gestellt«, berichtete sie. »Ich möchte nur wissen, wer sie überhaupt hineingestellt hat.« Sie sah den Chefarzt fragend an.

»Ich jedenfalls nicht«, erwiderte er rau.

»Das wollte ich nicht gesagt haben, Herr Chefarzt«, sagte Schwester Lotte verlegen. »Ich weiß doch, dass Sie angeordnet haben, dass keine Blumen in das Krankenzimmer kommen.«

Schwester Lotte war überaus korrekt, sehr genau und auch ein bisschen ängstlich, in manchen Dingen auch pedantisch. So erfuhr Dr. Gordon auch, dass Dr. Kuhlmann bei der Anhängung einer Blutkonserve fast ein Fehler unterlaufen war. Sicher wollte sie es auch gewürdigt wissen, dass ihre Aufmerksamkeit solches verhindert hätte, vielleicht wollte sie auch der Kuhlmann eins auswischen. Jedenfalls hatte sie ihre Pflicht getan, und Dr. Gordon bedankte sich bei ihr. Er wollte später mit Dr. Kuhlmann sprechen. Jetzt ging er zu Astrid Hollenbergs Zimmer.

Der Augenblick seines Eintritts war atemberaubend, auch Astrid entging die Spannung nicht, obgleich sie keine Erklärung für diese hatte.

Doch die Blicke, die Dr. Gordon und Trixi tauschten, sprachen Bände. Selbst eine Kranke konnte das nicht übersehen.

Auf seine Frage nach ihrem Befinden, versicherte sie, dass es ihr blendend ginge und er anscheinend ein Wunder an ihr vollbracht hatte.

Gewiss war ihr Optimismus ermunternd, aber man wollte doch nicht zu früh jubeln Der Heilungsprozess konnte immer noch manche Schwierigkeiten mit sich bringen. Ihn erleichterte es vor allem, dass keine Lähmungserscheinungen auftraten, dass ihr Geist rege war und sie auch Hunger verspürte.

Allerdings machte sich die lange Unterhaltung mit Trixi bemerkbar. Sie war ermüdet. Sie schlief nach der Spritze bald ein.

Dennoch wollte Trixi nicht hier im Zimmer mit Michael sprechen, auch nicht in der Klinik.

»Ich habe meine Gründe dafür«, raunte sie ihm zu. »Man sollte uns nicht oft zusammen sehen.«

»Ist etwas geschehen?«, fragte er leise, dachte dabei aber an Rolf Brugger.

Trixi nickte. »Mit Paps. Jörg löst mich nachher ab.«

»Ich warte am Park auf dich«, sagte Michael rasch.

»Kannst du nicht zu uns kommen?«, fragte sie leise. »Paps geht es schlecht.«

Sie hatte es ihm nicht so direkt sagen wollen. Und nun klopfte es auch noch an der Tür. Schwester Lotte holte ihn zu einem anderen Patienten.

»Gut, so machen wir es«, sagte Michael schnell.

*

Im Hause Brugger herrschte eine entsetzliche Stimmung. Rolf war von seinem aufgebrachten Vater wutentbrannt empfangen worden.

»Unser Imperium stürzt zusammen, und du treibst dich herum, du Nichtsnutz. Ich hätte schon längst andere Saiten aufziehen sollen, dann wäre es nicht so weit gekommen. Du verschleuderst das Geld und tust nichts.«

»Nun, sag nur nicht, dass ich schuld bin an deinen Manipulationen«, be­gehrte Rolf auf. »Du konntest doch den Hals nicht vollkriegen. Du musstest überall mitmischen. Einmal musstest du ja den Überblick verlieren.«

»Weil ich mich um alles allein kümmern musste und mein feiner Sohn als Playboy einherstolzierte. Jetzt posau­nen sie es schon im Radio aus. Wie sollen wir da Hollenberg noch auf unsere Seite bringen? So dumm ist er nun auch wieder nicht.«

»Er ist ein seriöser Geschäftsmann«, mischte sich Hilda Brugger ein. »Mit ihm hättest du keine so gewagten Spekulationen unternehmen können.«

»Du brauchst dich doch nicht zu echauffieren. Du hast doch dein Schäfchen ins trockene gebracht«, fuhr August Brugger sie an.

»Und ich denke auch nicht daran, mein ganz persönliches Vermögen auf’s Spiel zu setzen«, sagte sie kalt. »Ich warne dich, August. Zieh nicht noch Unschuldige in diese Affäre hinein, sondern bring dich mit Anstand heraus.«

»Du hast gut reden«, stöhnte er. »Wenn Rolf nicht überall herumgeflirtet hätte, könnte er jetzt nicht nur verlobt, sondern verheiratet sein.«

»Und dann wäre Hollenberg wohl auch pleite«, sagte Hilda Brugger.

Sein Gesicht färbte sich blaurot. Mit wuchtigen Schritten stampfte er durch den Raum. Er machte eine umfassende Handbewegung. »Ist das gar nichts wert?«, schrie er. »Die Wirtschaftslage ist daran schuld, die Regierung, diese wahnwitzige Unkostensteigerung.«

Nur er selbst nicht, dachte Hilda Brugger, aber sie wollte das Maß nicht zum Überlaufen bringen.

»Komm zu dir, überdenke alles«, redete sie begütigend auf ihn ein. Aber das war vergebene Liebesmühe. Er tobte weiter. Er packte Rolf beim Kragen und schüttelte ihn.

»Jetzt tu du was!«, brüllte er ihn an. »Denk wenigstens daran, dass es mit deinem herrlichen Leben aus und vorbei sein wird. Die Hollenbergs haben andere Sorgen. Sie werden nicht am frühen Morgen Nachrichten hören.«

»Heute ist Sonntag«, sagte Rolf. »Hollenberg kann die Millionen, die du brauchst, nicht aus dem Ärmel schütteln.«

»Du kannst aber wenigstens sagen, dass das alles nicht stimmt. Du kannst doch sonst so perfekt lügen.Wir müssen Zeit gewinnen, Zeit, hörst du?«

Seine Stimme war nicht zu überhören, aber Rolf war nun einmal nicht dafür geschaffen, Schwierigkeiten zu bewältigen. Er zuckte mit der Schulter.

*

Jörg sah immer wieder zu seinem Vater hinein. Er blieb auch zehn oder fünfzehn Minuten an seinem Bett, aber sein Vater schlief und schlief, und so war es unmöglich, ihm etwas zu essen zu geben. Dr. Norden hatte gesagt, dass man ihn schlafen lassen solle.

Tilli hatte sich halbwegs beruhigt, nachdem sie sich darüber ausgelassen hatte, dass es nun eigentlich genug der Aufregungen sei, aber gegen elf Uhr schien bereits eine neue zu nahen. Jedenfalls nach Tillis Meinung, die für Rolf Brugger überhaupt nichts übrig hatte.

Tillis liebste Lektüre in ihrer Freizeit waren Klatschblätter, und in denen hatte sie schon genug über Rolf gelesen.

Ihr stand ja kein Recht zu einer Meinungsäußerung zu. Sie war ja nur eine einfache Hausangestellte nach ihrer eigenen Ansicht, aber wenn sie etwas zu sagen gehabt hätte, dann hätte dieser Playboy nie die Schwelle dieses Hauses übertreten. Sie hatte auch nicht begreifen können, dass Trixi, dieses nette Mädchen, ihr Herz an den Burschen gehängt haben sollte.

Aber so gern Tilli auch über den Gesellschaftsklatsch las um informiert zu sein, so wenig sagte sie selbst. Sie tat bereits seit fünfzehn Jahren ihre Arbeit zur vollen Zufriedenheit aller Familienmitglieder in diesem Haus und ersetzte mit ihrem Fleiß zwei Kräfte. Sie konnte selbst auch zufrieden sein, denn sie hatte alle Annehmlichkeiten.

Nun stand also Rolf Brugger vor ihr. Sie fand, dass er verschwiemelt aussah. Tilli hatte auch ihre eigenen Bezeichnungen, die manchmal gar nicht gebräuchlich waren.

Heute nun war dieser junge Herr Brugger sogar ausnehmend höflich. Er fragte, ob das gnädige Fräulein zu sprechen sei und enthüllte einen Strauß roter Rosen.

Doch Tilli war unbestechlich und auch dadurch nicht bereit, ihre Meinung auch nur um einen Deut zu ändern. Sie konnte eine sehr grimmige Miene aufsetzen, und die zeigte sie jetzt.

»Das gnädige Fräulein ist in der Klinik, und der Herr Direktor ist krank«, erklärte sie.

»Doch nichts Ernstes, wohl nur der Schrecken«, sagte Rolf teilnahmsvoll.

Tilli war nicht geneigt, hinreichende Auskünfte zu geben, aber da kam zufällig Jörg in die Diele, weil er wieder zu seinem Vater hineinschauen wollte.

»Du bist wohl aber zu sprechen«, sagte Rolf.

»Ich habe keine Zeit«, erwiderte Jörg.

Sie wissen es, dachte Rolf, denn eine andere Erklärung gab es für ihn nicht.

»Ich verstehe«, murmelte er, »aber es wäre äußerst dringend, Jörg. Eine Rich­tigstellung.«

Tilli zog sich zurück. Sie war zwar neugierig, aber was sollte sie hier herumstehen? Irgendwas ist da faul, dachte sie, weil Jörg so abweisend war.

»Nur ein paar Minuten«, drängte Rolf. »Es wäre doch bedauerlich, wenn unser gutes Verhältnis durch dumme Gerüchte getrübt würde.«

Jörg maß ihn von oben bis unten. »Wir haben doch wohl noch nie ein gutes Verhältnis zueinander gehabt«, sagte er spöttisch. »Für dich bin ich doch ein ungehobelter Flegel. Eine Schande für die Gesellschaft. Hast du mich nicht so bezeichnet?«

»Anscheinend gibst du ein bisschen zuviel auf diesen dummen Tratsch«, sagte Rolf aggressiv. »Aber jetzt geht es nicht um Lappalien, sondern um unser Ansehen, das man untergraben will.«

»Ach nein, wie interessant. Ihr meint wohl, dass wir an den Tatsachen vorbeidenken? Jetzt will ich dir mal was sagen. Ich weiß schon lange, dass bei euch etwas faul ist, aber mein Vater hatte mich ausgelacht. Jetzt wird er nicht mehr lachen. Ich habe mich jedenfalls schon seit Tagen informiert. Leider hatte ich keine greifbaren Beweise in den Händen. Ich lungere nicht herum wie du, sondern sitze meine Volontärzeit brav ab. Aber nicht mit Scheuklappen vor Augen und Ohren, und wenn du mir Lügen auftischen willst, bist du an der falschen Adresse. Hoffentlich war das deutlich genug.«

»Du vergisst wohl völlig, dass ich mit deiner Schwester verlobt bin?«, sagte Rolf empört.

»Dazu ist es zum Glück nicht gekommen. Und es kommt auch nicht dazu, verlass dich darauf.«

»Ist das nicht Trixis alleinige Entscheidung?«

»Gott sei Dank hat sie zur rechten Zeit ihren klarenVerstand wiedergefunden. Die Rosen kannst du einer deiner Gespielinnen schenken. Verstanden? Und nun verschwinde.«

Seine Stimme hatte sich unwillkürlich in der Erregung doch gesteigert, was er in seinem Zorn aber gar nicht bemerkte.

»Dafür wirst du dich noch bei mir entschuldigen müssen«, sagte Rolf, um sich wenigstens einen guten Abgang zu verschaffen.

»Darauf wirst du vergeblich warten«, sagte Jörg wütend.

Die Stimmen waren doch in Matthias Hollenbergs Bewusstsein gedrungen und hatten ihn zurückgeholt aus dem Reich der Träume, die seltsamerweise gar nicht so bedrückend gewesen waren.

Als Jörg wenige Minuten später an sein Bett trat, lag er mit offenen Augen da.

»Rolf war da?«, fragte er.

»Ja, Paps.« Jörg machte sich jetzt Gewissensbisse, so laut geworden zu sein.

»Was wollte er?«

»Das soll dich jetzt nicht kümmern. Du brauchst Ruhe. Du musst auch etwas zu dir nehmen.«

Matthias Hollenberg schüttelte den Kopf. »Um ein Haar wäre ich da in eine böse Geschichte geraten. Du hattest recht, Jörg. Ich muss mich bei dir entschuldigen.«

Er weiß es also, dachte Jörg. Hatte ihn das umgeworfen?

»Weiß Trixi es auch schon?«, fragte sein Vater.

»Ja, aber es berührt sie nicht mehr, Paps.«

Verwundert sah der Ältere ihn an. »Ich habe sie in diese Lage hineinmanövriert«, murmelte er. »Ein entsetzlicher Gedanke.«

»Wenn sie da schon gewusst hätte, was sie wollte, hätte sie sich nicht hineinmanövrieren lassen«, erklärte Jörg. »Mamis Erkrankung hat uns alle ernüchtert. Sie hat unsere Welt ins Wanken gebracht, Paps. Du musst dich schonen. Du darfst dir nicht den Kopf zergrübeln. Ich passe schon auf, dass alles seinen rechten Gang geht. Vielleicht traust du es mir nicht zu, aber …«

»Doch, ich traue es dir zu«, sagte Matthias Hollenberg. »Danke, Paps, ich werde dich nicht enttäuschen.«

»Enttäuscht habe ich dich. Jetzt weiß ich es. Du hast mir ja auch deine Meinung deutlich genug gesagt.« Jetzt lächelte er sogar flüchtig. »Ich werde mich schon wieder aufrappeln. Astrid darf nichts erfahren, hörst du? Es war ein entsetzlicher Schrecken auf nüchternen Magen, als ich die Radiomeldung hörte. Und ich war auch übermüdet. So schnell kann mich sonst doch nichts umwerfen. Was wollte Rolf?«

»Wohlwollen erzeugen, heucheln, uns täuschen, sich hinter Trixi stecken, was weiß ich. Ich habe ihn mitsamt seinen Rosen vor die Tür gesetzt.«

»Du bist konsequenter als ich.«

»Ich bin kein Diplomat, aber ich glaube, dass ich mal ein ganz guter Bankkaufmann werde. Trotz meiner langen Haare«, fügte er spottend hinzu. »Aber jetzt wird dir Tilli ein Süppchen bringen. Du musst essen. Ich habe Trixi versprochen, dass ich auf dich aufpasse. Und Mami wollen wir lieber nichts sagen.«

»Was wird sie denken, wenn ich sie nicht besuche?«

»Dass du schläfst, und das wird sie beruhigen. Sie war doch immer nur besorgt um dich, um deine Gesundheit, und sie wollte nie etwas äußern, was dich kränken könnte. Sie ist die ideale Frau.«

»Aber ich war nicht der ideale Mann. Ja, ich habe mir sehr, sehr viel vorzuwerfen, Jörg.«

»Mami wird dir nichts vorwerfen. Es kann alles wieder wie früher sein, Paps. Der alte Kreis, die alten, bescheidenen Ambitionen, dazu die Erkenntnis, dass die Jahre auch an dir nicht spurlos vorübergehen.«

»Und die Erkenntnis, dass ich einen erwachsenen Sohn habe, der durchaus fähig ist, seinem Vater die Leviten zu lesen. Fahr nur in die Klinik. Trixi braucht auch Ruhe. Tilli versorgt mich schon.«

»Und sie wird auch keinen hereinlassen.«

»Das ist mir schon recht. Es ist Sonntag. Ich habe keine Bürozeit. Wieviel meinst du, wird Brugger brauchen, um wieder auf die Beine zu kommen?«

»Es ist Sonntag, Paps, von Geschäften wird nicht geredet«, sagte Jörg.

»Ich denke nur an die Menschen, die ihren Arbeitsplatz verlieren«, sagte Matthias Hollenberg.

An die dachte Jörg allerdings auch. Er war überzeugt, dass Brugger genügend Kapital ins Ausland geschafft hatte, um nicht darben zu müssen. Jetzt dachte er noch an sein Prestige, aber an seine Leute bestimmt nicht.

*

Als Trixi heimkam, schlief Matthias schon wieder. Er hatte eine Bouillon getrunken, aber Tilli meinte, dass ihn sogar dies angestrengt hätte. Von Rolfs Besuch sagte Tilli nichts.

»Dr. Gordon wird später kommen«, sagte Trixi. »Falls ich das Klingeln nicht hören sollte, rufen Sie mich gleich, Tilli.«

»Dr. Gordon? Nicht Dr. Norden?«, fragte Tilli. »Dr. Norden ist ein so netter Mensch und ein guter Arzt. Er ist doch heute morgen auch gleich gekommen.«

»Dr. Gordon ist auch ein netter Mensch, und er kommt nicht zu Papa, sondern zu mir.«

Tilli war sprachlos und hatte nun wieder genug Anlass, sich Gedanken zu machen. Zu ihrer sonntäglichen Lektüre kam sie nicht, weil ihre Gedanken immer wieder abirrten. Kurz nach zwei Uhr läutete es dann auch schon.

Trixi hatte ein Bad genommen und fühlte sich nun wieder ganz frisch. Sie war schneller an der Tür als Tilli, was dieser gar nicht so recht war, aber sie gestattete sich doch, einen Blick auf Dr. Gordon zu werfen, worauf sie erst recht ins Staunen geriet.

»Du sagst mir Bescheid, Tilli, wenn Paps wieder munter ist«, sagte Trixi.

»Jawohl, gnädiges Fräulein.«

Trixi lachte verdutzt auf. »Seit wann so formell?«, fragte sie.

»Ich weiß, was sich gehört«, sagte Tilli. Und deshalb zog sie sich auch zurück.

»Du hast einen gewaltigen Eindruck auf sie gemacht«, meinte Trixi neckend. »Danke, dass du gekommen bist. Gehen wir in den Wintergarten.«

Ihm gefiel das Haus weitaus besser, wenn nicht Dutzende von Menschen die schönen Räume bevölkerten, die so geschmackvoll eingerichtet waren. Da war nichts Protziges, alles passte zusammen. Dennoch wurde ihm jäh bewusst, dass die Hollenbergs nicht nur zu den oberen Zehntausend, sondern gar zu den oberen Tausend gehören mussten. Der Gedanke dämpfte seine Stimmung gewaltig, obgleich sein Herz höher geschlagen hatte, als Trixi so frisch und natürlich vor ihm gestanden hatte.

»Mir ist es lieber, wenn man uns nicht beobachten kann, vor allem die Kuhlmann nicht«, sagte Trixi gelassen. »Möchtest du Kaffee oder was Erfrischendes?«

»Kaffee wäre mir lieber, zum Aufmuntern.«

»Du hast auch nicht viel geschlafen. Ruh dich aus, leg die Beine hoch. Ich sage Tilli, dass sie uns einen Mokka braut.«

Bezaubernd weiblich wirkte sie in ihrer Fürsorge und im Vorübergehen streichelte sie zärtlich über sein Haar.

Weiß sie von der Kuhlmann und Brugger, ging es ihm durch den Sinn. Aber sie wirkte so gelassen, nicht mehr so niedergedrückt, wie am Vormittag. Das hatte ihm doch großes Kopfzerbrechen verursacht.

Schon war sie wieder da, ließ sich ihm gegenüber nieder, legte ihre Füße auf den gleichen Hocker dicht neben seine. Nichts Kokettes war dabei, alles schien ihr selbstverständlich. Aber ihm fiel es nicht leicht, dabei seine fünf Sinne zusammenzuhalten.

»Was war nun mit deinem Vater?«, fragte er.

Trixi erzählte es ihm ausführlich. »Es geht ihm aber schon wieder besser. Er hat etwas gegessen, und nun schläft er wieder. Ich dachte, du würdest zuerst wegen der Kuhlmann fragen.«

»Dein Vater ist wichtiger.«

Unter seinem Blick geriet sie wieder in Verwirrung und sah geradezu unheimlich süß aus. So bezaubernd süß wie damals in Paris.

Diesen Rolf Brugger konnte er wahrhaftig aus seinem Gedächtnis streichen. Er hatte Trixi nicht verändert.

»Sie ist mit Brugger liiert«, sagte Trixi unbefangen. »Ist das eine Überraschung?«

Er hätte sie küssen mögen, weil ihre Augen so übermütig blitzten.

»Nein, es ist keine Überraschung«, erwiderte er mit einem rätselhaften Lächeln.

»Keine Überraschung?«, fragte sie verblüfft. »Weißt du das schon länger?«

»Seit heute morgen«, erwiderte er genauso offen, wie sie es gesagt hatte.

»Ich weiß es seit heute nacht.«

»Und warum willst du, dass die Kuhlmann uns nicht zusammen sieht?«

»Damit du nicht ins Gerede kommst«, erwiderte Trixi ernst werdend. »Ich hatte mir da schließlich eine ganz hübsche Geschichte eingebrockt. Begreifen kann ich es sowieso nicht mehr. Bei mir muss eine Schraube locker gewesen sein.«

Sie war einfach umwerfend in ihrer Selbstkritik, und es rührte ihn zugleich, wie besorgt sie um seinen Ruf war.

»Schau, Kleines, ich bin ein paar Jährchen älter als du, und Klatsch hat mich nie interessiert. Ich würde dich morgen heiraten, wenn es nach mir allein ginge.«

Tilli, die den Mokka bringen wollte, hatte sich erlaubt, ein bisschen zu lauschen. Jetzt hätte sie fast das Tablett fallen lassen.

Mit hochrotem Gesicht trat sie dann ein. Trixi blinzelte ihr zu. »Sie hätten sich nicht so zu beeilen brauchen, Tilli«, sagte sie nachsichtig.

Tillis Hände zitterten, als sie das Tablett niedersetzte. Mit kugelrunden Augen sah sie Michael an.

Ja, das war ein Mann, da würde sie auch nicht nein sagen. Und heiraten wollte er die Trixi. Guter Gott, was sie in den letzten Tagen alles so mitmachen musste. Aber das war wenigstens mal etwas Erfreuliches. Warum hatte sie sich denn nicht gleich mit dem Dr. Gordon verlobt? Wenn Tilli nur geahnt hätte, wie romantisch die Bekanntschaft vor Mo­naten begonnen hatte, wäre sie aus dem Entzücken wohl nicht mehr herausgekommen. Das war ja eine noch viel schönere Geschichte, als man sonst lesen konnte. Romanze nannten sie das in den Zeitungen.

Für den Rest des Tages wandelte Tilli nun mit verklärter Miene umher.

Trixi und Michael hatten sich eine ganze Menge zu sagen, aber nicht nur zu sagen. Einem so bezaubernden Ge­schöpf konnte der willensstärkste Mann nicht widerstehen. Und Michael hatte schließlich Sehnsucht genug in sich aufgespeichert.

»Dass du mich noch haben willst«, flüsterte sie dicht an seinem Mund.

»Du bist genauso, wie ich dich in meinen Gedanken behalten habe«, sagte Michael leise.

»Ich bin fast ein Jahr älter.«

»Aber nur an Zeit, nicht im Wesen. Außerdem sind es erst Monate. Hätte ich dich nur gefunden.«

»Hast du mich gesucht?«

»Und wie.«

»Wir sind am nächsten Tag abgereist. Aber du bist schon vier Monate in München, und wir hätten uns ruhig schon vorher begegnen dürfen.«

»Die Vorsehung hat uns Prüfungen auferlegt, Trixi.« Seine Stimme war ernst und nachdenklich geworden. »Ich muss Daniel dankbar sein, dass er mich überredete, mitzukommen. Mein Gott, er erwartet mich heute nachmittag.«

»Er hat doch seine schöne Fee«, sagte Trixi. »Sie ist eine tolle Frau. Was bin da ich dagegen! Weißt du, darüber habe ich schon nachgedacht.«

»Du bist ein ganz süßes kleines Mädchen, und ich bin dem Schicksal dankbar, dass du das geblieben bist«, sagte Michael zärtlich. »Bist du dir auch im klaren, was es bedeutet, mit einem Arzt verheiratet zu sein?«

»Ich werde es schon noch herausfinden, aber ich werde mir große Mühe geben, dass du zufrieden mit mir bist.«

»Du brauchst mich nur zu lieben«, sagte er.

*

»Auf Michael brauchen wir wohl nicht mehr zu warten«, sagte Daniel zu Fee.

»Wird es dir langweilig mit mir?«, scherzte sie.

»Schäfchen. Natürlich nicht. Dieser himmlische Frieden.«

»Beschrei ihn bitte nicht. Es wäre zu schön um wahr zu sein, wenn wir ungestört blieben.«

»Ich muss nachher aber noch mal nach Herrn Hollenberg sehen.«

»Ruf doch erst mal an.«

Bei allem Pflichtbewusstsein, das man auch Fee nicht absprechen konnte, geizte sie doch um jede Minute.

»Du hast doch immer die besten

Ideen, mein Schatz«, sagte Daniel und angelte nach dem Telefon.

Sein Gesicht zeigte ein wechselvolles Mienenspiel, als er der fernen Stimme lauschte.

»Das sind ja erfreuliche Nachrichten«, sagte er. »Beste Grüße an Michael, und noch einen schönen Abend.«

»He, was soll denn das?«, fragte Fee.

Er streckte seinen kleinen Finger aus. »Ein Prachtexemplar«, lachte er. »Auf den ist Verlass. Na, nun wird es ja wieder Gesprächsstoff geben.«

»Geht das nicht ein bisschen zu schnell?«, fragte Fee skeptisch.

»Nicht alle brauchen sich ja so zusammenzuraufen wie wir. Manchmal schlägt halt der Blitz ein. Jetzt müssen wir uns aber wirklich ranhalten, damit wir nicht noch auf ein paar Hochzeiten tanzen müssen, bevor andere auf unserer tanzen.«

Er wartete auf die sonst üblichen Einwände. Dafür tönte ein schwacher Seufzer an sein Ohr.

»Es wäre ganz angebracht«, sagte Fee leise. »Paps ist zwar nicht so, aber Lenchen könnte doch sehr gekränkt sein, wenn wir noch warten würden.«

»Was soll der dunklen Worte Sinn? Lenchen in Ehren, aber in diesem Fall kommt es doch nur auf dich an.« Fee war aufgestanden. »Nanu, warum rennst du weg?«, fragte Daniel.

»Ich hole was zu essen.«

»Du, das ist wieder mal ein Ablen­kungsmanöver.«

»Nein, ich habe Hunger.«

Daniel sprang auf und lief ihr nach. Er hielt sie am Arm fest und zog sie an sich.

»Du weißt doch, dass ich überhaupt nichts vom Warten halte«, sagte er. »Paps und Anne sind unter der Haube. Sie haben sogar schon ein Kind dazubekommen mit Mario.«

»Und bei uns wird es auch nicht mehr so lange dauern«, flüsterte Fee.

Und damit brachte sie ihn doch aus der Fassung. »Und das sagst du so nebenbei?«, rief er aus.

»Gar nicht nebenbei. Ich wollte mir nur eine ruhige Stunde dafür aussuchen, und nicht riskieren, dass du gleich wie­der weglaufen musst.«

Die letzten Worte erstickten schon unter seinen Küssen, und dann lachte er jungenhaft glücklich.

»Dass du dich so freust«, flüsterte Fee staunend.

»Hast du etwa das Gegenteil erwartet? Ich bin ganz aus dem Häus­chen.«

»Und der kleine Finger hat dir gar nichts gesagt. Immer kann man sich auf ihn auch nicht verlassen«, sagte sie schelmisch.

»Liebes«, murmelte er zwischen zwei Küssen, und dann nahm er sie auf die Arme und trug sie zur Couch. »So und nun sorgt der Papi für’s Essen. Was wünscht meine Traumfee?«

»Wenn es auch allen Regeln widerspricht: Salzburger Nockerln«, erwider­te Fee.

»Salzburger Nockerln, Salzburger Nockerln«, sagte Daniel, als er in die Küche eilte. Lenchen betrachtete ihn kopfschüttelnd.

»Durchgedreht?«, fragte sie.

»Wir möchten Salzburger Nockerln essen, Lenchen«, sang er vergnügt.

»Gehört habe ich es schon, aber glauben kann ich es nicht. Sie mögen das Zeug doch gar nicht.«

»Von heute an mag ich es, meine Gute.«

»Salzburger Nockerln«, brummte Lenchen vor sich hin und nahm die Eier aus dem Kühlschrank. »Na, meinetwegen, mal was anderes.«

*

Während sie herrlich gelungene Salzburger Nockerln verzehrten, konnte Dr. Gordon feststellen, dass sich Matthias Hollenbergs Zustand wieder weitgehend gebessert hatte. Allerdings wurde ihm strikt verboten, das Haus zu verlassen.

Zuerst hatte der Patient sich allerdings gewundert. »Machen Sie auch Vertretung für Dr. Norden?«, fragte er. »Ich dachte, Sie sind Chefarzt.«

»Paps, Dr. Gordon ist mir zuliebe gekommen«, warf Trixi ein.

»Ich habe ja nichts dagegen, aber Dr. Norden könnte sich gekränkt fühlen. Erst holt ihr ihn am Sonntagmorgen meinetwegen aus dem Bett, und er ist ja schließlich unser Hausarzt.«

»Michael und Dr. Norden sind befreundet«, sagte Trixi. So persönlich hatte sie eigentlich nicht gleich werden wollen, aber es war ihr eben so herausgerutscht.

Staunend sah ihr Vater sie an. »Ich erzähle dir nachher eine wunderschöne Geschichte. Michael muss sowieso gehen, um Mami die Spritze zu geben.«

»Was sollte mich eigentlich noch überraschen«, seufzte ihr geplagter Vater.

»Und Michael erzählt Mami die Geschichte«, flüsterte Trixi.

»Aber er vergisst die Spritze hoffentlich nicht«, brummte Matthias.

Um diese Spritze gab es in der Klinik gerade eine heftige Auseinandersetzung. Schwester Lotte baute sich wie ein Dragoner vor Dr. Cornelia Kuhlmann auf, als sie mit der Injektion zu Astrid Hollenbergs Zimmer gehen wollte.

»Der Chef macht das selbst«, sagte Schwester Lotte.

»Der Chef ist nicht da, und Sie haben überhaupt nichts zu sagen«, erklärte die Ärztin.

»Und Sie haben heute schon beinahe die Blutkonserve verwechselt«, erklärte Schwester Lotte furchtlos. »Und was der Chef angeordnet hat, wird gemacht. Es ist noch nicht sechs Uhr.«

»Haben Sie das mit der Konserve dem Chef etwa schon geklatscht?«, fragte die Ärztin wütend.

»Ich habe ihm Mitteilung gemacht. Schließlich ist Dr. Gordon verantwortlich, und am Ende bleibt alles an ihm hängen.«

»Es ist überhaupt nichts passiert«, widersprach Cornelia Kuhlmann heftig.

»Weil ich aufgepasst habe, und jetzt passe ich auch auf.«

»Sie maßen sich allerhand an.«

Ein vernichtender Blick traf sie. Unerschrocken sah die Schwester die Ärztin an.

Mit einer unbeherrschten Bewegung schleuderte Cornelia Kuhlmann die Ampulle zu Boden. Und in diesem Augenblick trat Dr. Gordon aus dem Lift.

»Was soll das bedeuten?«, fragte er scharf.

Cornelia starrte ihn aus verkniffenen Augen an. »Dass Schwester Lotte sich anmaßt, mich an der Ausübung meiner Pflichten zu hindern«, stieß sie hervor.

»Ich habe nur gesagt, dass Sie Frau Hollenberg die Spritze selbst geben, Chef«, sagte Schwester Lotte.

»Wir sprechen uns noch«, sagte Dr. Gordon zu der Ärztin.

Jörg, von dem Lärm angelockt, war in der Tür erschienen.

»Ist etwas?«, fragte er.

»Nein«, erwiderte Dr. Gordon, dann lächelte er. »Fahren Sie jetzt heim. Tilli wartet mit dem Essen.«

Verwirrt sah Jörg den Arzt an. »Es stimmt schon«, sagte Michael. »Sie hat es mir extra aufgetragen.«

*

Astrid hatte von allem nichts mitbekommen. Sie fühlte sich so richtig wohlig müde, und nach der Spritze fühlte sie sich noch leichter. Sie hatte so viele schlaflose Nächte verbracht. Jetzt konnte sie alles nachholen. Und Mi­chael konnte vollauf zufrieden sein mit ihrem Befinden.

»Ich darf leben, und ich will leben«, hatte Astrid gesagt, und ihr Wille war unglaublich stark.

»Ich weiß, was ich Ihnen zu verdanken habe«, flüsterte sie.

»Ich weiß auch, was ich Ihnen zu verdanken habe«, sagte Michael mit dunkler Stimme. »Wenn es Ihnen bessergeht, werde ich Ihnen eine sehr hübsche Geschichte erzählen.«

»Es geht mir aber viel besser, und ich höre Ihnen gern zu. Es dauert immer eine Zeit, bis ich einschlafe.«

Michaels Gedanken wanderten zu Trixi. Ob sie jetzt ihrem Vater die versprochene Geschichte erzählte? Sollte er nicht doch lieber noch warten?

Aber es war so, als lege ihm Trixi die Worte in den Mund.

»Es war Frühling in Paris …«

Genauso hatte Trixi auch begonnen. Matthias Hollenberg betrachtete das ausdrucksvolle Gesicht seiner Tochter nachdenklich.

»Du denkst jetzt an Paris?«, fragte er.

»Es waren wunderschöne Tage, Paps. Und ich erlebte ein Wunder. Wie groß das Wunder war, ist mir erst jetzt bewusst geworden.«

So gegenwärtig war ihr jede Minute, dass er sich alles vorstellen konnte, während sie sprach. Eingefangen von dem Zauber jenes Tages, der dann für Trixi in einer einzigen wundervollen Minute zu dem Wunder wurde.

»Und meine Stimme hat diesen Zauber zerrissen«, sagte er heiser.

»Du konntest es ja nicht wissen, Paps, und jetzt habe ich Michael wiedergefunden, um ihn nie mehr zu verlieren.«

»Doch ich war es, der dein Leben fast zerstört hätte.«

»So wollen wir nicht denken«, sagte sie sanft. »Es sollte dich trösten, dass ich Michael gefunden habe, du solltest nicht traurig sein, lieber Paps. Ich bin glücklich.«

»Heute morgen habe ich an dich gedacht, Trixi, an alles, was auf mich zukommen würde.«

»Das war gestern schon alles vorbei für mich. Schon vorher, nur dachte ich, dass es dir Kummer bereiten würde.«

»Oh, Trixi, ich bin ein törichter alter Mann.«

»Das will ich aber nicht gehört haben. Ich war immer stolz auf meinen jungen Paps.«

»Immer hattest du aber nicht Grund, stolz auf mich zu sein.«

Trixi küsste ihn auf die Stirn. »Dann warst du eben ab und zu mal töricht. Das ist menschlich. Göttergleich will ich dich auch nicht sehen.«

»Wie du mich aufmunterst, Kind«, seufzte er erleichtert. »Was kann ich für dich tun?«

»Sei immer ganz besonders lieb zu Mami, und gib Jörg jetzt die Chance, zu beweisen, was in ihm steckt.«

»Die hat er schon. Ich denke, dass ich ihm für die nächste Zeit meine Vertretung anvertraue. Ich werde mit Mami eine richtige Kur machen, wenn sie wieder reisefähig ist.«

»Und ich weiß auch schon, wohin«, sagte Trixi. »Ihr braucht gar nicht weit zu fahren: zur Insel der Hoffnung!«

*

Den Namen hatte Daniel Nordens Vater der Insel der Hoffnung gegeben. Er selbst hatte nicht mehr erleben können, wie vielen Menschen sie nun schon während weniger Monate inneren Frieden und Hoffnung zurückgegeben hatte. Ganz leichten Herzens kehrte Fee allerdings nach diesem Wochenende mit Daniel nicht hierher zurück. Ihre Gedanken blieben bei ihm.

»Bist wohl noch nicht ganz hier?«, fragte Dr. Cornelius seine Tochter liebevoll. Fee errötete wie eine ertappte Sünderin.

»Paps«, sie machte eine Pause, bemerkte aber sein verstecktes Lächeln nicht, »wir haben uns entschlossen, in drei Wochen zu heiraten.«

Er streichelte ihre Wange. »Wird ja wohl auch langsam Zeit«, sagte er weich. »Na, das wird aber gefeiert.«

»Was wird gefeiert?«, fragte ein Stimmchen von der Tür her, und dann flog ein kleiner schwarzhaariger Junge auch schon in Fees Arme.

»Nicht so stürmisch, junger Mann«, sagte Johannes Cornelius.

»Wenn ich mich doch so freue, dass Fee wieder da ist. Was wird gefeiert?«

Mario sprach jetzt wirklich schon recht gut deutsch, nur die Vorsilben verschluckte er gern.

»Fees Hochzeit«, erklärte Dr. Cornelius.

»Schön«, sagte Mario, »hochzeiten ist schön. Lenchen muss aber kommen.Wie geht es Lenchen?«

Mit ihr war er ein Herz und eine Seele. Er hatte nicht vergessen, wie liebevoll sie ihn umsorgt hatte, als Daniel und Fee ihn mit heimgebracht hatten, nachdem er den Fluten des Chiemsees entrissen worden war. Er hatte so viel erlebt seither, auch so viel Liebe erfahren, dass er seine Eltern nicht vermisste. Dr. Cornelius war jetzt sein Papi, Anne die Mami, Fee und Katja die großen Schwestern. Und er war Hahn im Korbe.

»In drei Wochen schon«, rief Anne aus. »Da müssen wir uns aber sputen mit den Vorbereitungen.«

»Eine Fürstenhochzeit wird es ja nicht«, sagte Fee. »Nur nicht viel Trubel, tut uns den Gefallen. Nur die engsten Freunde.«

»Da kommt aber schon eine ganze Anzahl zusammen«, warf Katja ein. »Ich freue mich, Fee.«

Aber so ein Tröpfchen Wehmut war doch dabei, denn Fee würde ja von ihnen gehen. So oft, wie sie Daniel besucht hatte, würden sie wohl nicht zu ihnen auf die Insel kommen können.

»Vielleicht gibt Daniel die Praxis dann doch mal ab«, sagte Fee gedankenvoll. »Ein Angebot haben wir schon bekommen.«

»Ein Penthouse ist ja da auch nicht der richtige Spielplatz für Kinder«, sagte Dr. Cornelius schmunzelnd. »Dann mach mal langsam Notizen, wen wir alles einladen wollen.«

»Es hat doch noch Zeit«, sagte Fee.

»Die geht schnell herum«, meinte Anna. »Ehe man es sich versieht. Wir müssen ja auch Platz schaffen für die Übernachtungen.«

»Jemine, wir können doch nicht die Patienten vor die Tür setzen«, meinte Fee.

»Aber die neuen um ein paar Tage vertrösten«, sagte Anne. »Es ist ein günstiger Zeitpunkt. Was macht Daniel mit der Praxis?«

»Betriebsferien«, erwiderte Fee lä­chelnd.

*

»Also, Molly, vom fünfzehnten Oktober an sind Betriebsferien«, begann auch Daniel seinen Praxisalltag.

Helga Moll plumpste auf den nächsten Stuhl. »Sagen Sie das noch mal, Herr Doktor.«

Er wiederholte es. »Am siebzehnten wird geheiratet, und ich nehme an, dass Sie da auch nicht fehlen wollen.«

»Geheiratet«, wiederholte sie mit einem verklärten Lächeln. »Geheiratet wird!«

»Nun kriegen Sie sich mal wieder ein. Es hilft nichts, wir müssen an die Arbeit, wenn es auch schwerfällt.«

»Freuen wird man sich doch ein paar Minuten dürfen«, sagte die sonst so Unverdrossene.

»Und während wir Flitterwochen machen, bleiben Sie auf der Insel und lassen sich auch mal pflegen. Ärztliche Verordnung! Widerspruch wird nicht geduldet.«

Die Pflicht rief. Nachdem der erste Andrang vorbei war, fragte Molly nach Frau Hollenberg.

»Schon operiert, und alles ist gutgegangen«, sagte Daniel.

»Die Verlobung aber nicht«, meinte sie.

»Und das wird ein Glück sein.«

»In der Zeitung steht, dass Herr Brugger wegen seines angegriffenen Gesundheitszustandes eine Kur machen müsse.«

»Ach nee«, sagte Daniel. »Auch eine Art, sich aus der Affäre zu ziehen.«

»Die Leute tun mir leid, die jetzt auf der Straße sitzen«, meinte Molly.

»Mir auch, aber bei uns sitzen welche im Wartezimmer, die verarztet werden wollen. Wen haben wir denn da? Frau Müller? Hat denn dasWetter umgeschlagen, dass sie wieder vom Zipperlein geplagt wird? Herein mit ihr.«

Er hat die Sonne im Herzen. Er merkt gar nicht, dass es gießt, dachte Molly.

Und wie es goss! Der Regen klatschte an die Scheiben des Krankenzimmers, aber für Astrid klang es wie Musik.

Ihr Herz war voller Freude. Wundervolle Gedanken hatte sie mit in den Schlaf genommen, und erquickt war sie erwacht.

Ihre Trixi bekam nun doch einen Mann, bei dem sie gut aufgehoben war. Wie lieb Michael Gordon ihr diese zauberhafte Geschichte erzählt hatte.

Aber wie würden die Bruggers es aufnehmen? schoss es ihr nun durch den Sinn. Sie hatte ja keine Ahnung, was inzwischen alles geschehen war.

Es war Astrid nicht zuträglich, sich solche Gedanken zu machen.

Dr. Gordon musste besorgt feststellen, dass ihr Puls flatterte, dass sie leise stöhnte.

»Nein, nein«, flüsterte sie, und er hatte keine Erklärung dafür. Bezog es sich auf ihn? Hatte sie sich alles durch den Kopf gehen lassen, um zu der Überzeugung zu kommen, dass er doch nicht der richtige Mann für Trixi sei?

»Frau Hollenberg«, sagte er eindringlich, als sie sich aufbäumte.

Da sah sie ihn aus weit aufgerissenen Augen angstvoll an.

»Lassen Sie Trixi nicht im Stich, bitte«, flüsterte sie aufschluchzend.

»Nie, niemals«, sagte er beruhigend. »Bitte, nicht aufregen. Es schadet Ihnen.«

Aber er konnte keine Erklärung dafür finden, was sie meinte. Ihren Erregungszustand konnte er medikamentös dämpfen, aber die Ursache dazu blieb ihm verborgen und bereitete ihm Kopfzerbrechen.

Er hatte schon am Morgen in der Villa Hollenberg angerufen, um sich nach Herrn Hollenbergs Befinden zu erkun­digen. Natürlich auch, um Trixis Stimme zu hören.

Dort schien alles in bester Ordnung zu sein. Matthias Hollenberg war schon wieder auf den Beinen und in einer Besprechung. Er wollte danach in die Klinik kommen.

Trixi hatte sich richtig ausgeschlafen, wie Michael es ihr ans Herz gelegt hatte. Von außen her konnten also keine beunruhigenden Nachrichten an Astrid Hollenbergs Ohren gedrungen sein. Die Angst musste wohl von innen heraus kommen.

Ganz abwegige Gedanken be­schäf­tigten Michael. Sollte ihr gar in den Sinn gekommen sein, dass er zu alt für Trixi wäre? Es wäre wohl doch besser gewesen, erst den Genesungsprozess ab­zuwarten, bevor sie es erfuhr. Aber ges­tern abend hatte sie einen völlig ge­lösten Eindruck gemacht. Und sie hatte vorhin doch gesagt, er solle Trixi nicht im Stich lassen. So sehr er auch nachgrübelte, er fand die Lösung des Rätsels nicht.

*

Die Nachricht in der Zeitung, dass August Brugger sich einer Kur unterziehen müsse, stimmte nicht. Das Gerücht hatte Rolf in die Welt gesetzt, während sein Vater sich in seiner Villa verschanzt hatte, krampfhaft nach einem Ausweg aus dem Dilemma suchend. Mit sich und der Welt uneins und erbost auf seinen Sohn, den er zu beschränkt schimpfte, um eine Idee zu haben, haderte er mit seinem Schicksal.

Rolf wollte noch immer optimistisch sein. »Du könntest ja eine Fusion eingehen, Vater«, meinte er.

»Du Idiot, in dieser Misere findet sich doch niemand!«, schrie ihn sein Vater an.

»Brülle nur richtig, damit man auch auf der Straße hört, dass du hier bist«, sagte Rolf, der seinen Vater nun mal von einer Seite kennenlernte, die ihm keinen Respekt mehr einflößen konnte. »Du hast alle anderen immer für dumm gehalten, und wie stehst du jetzt da?«

Es bereitete ihm Genugtuung, seinen Vater endlich einmal aller Überheblichkeit entblößt zu sehen, aber noch nahm August Brugger nicht alles ohne Widerspruch hin.

»Halt du deinen Mund«, fuhr er seinen Sohn an. »Du warst ja nicht mal fähig, Trixi so an dich zu binden, dass es gar kein Zurück mehr für sie geben könnte. Es ist doch sonst nicht deine

Art, dich mit Händchenhalten zu begnügen.«

Zuerst war Rolf völlig verblüfft. Dann lachte er heiser auf. »Ideen hast du«, brummte er.

»Jedenfalls bessere als du. Ja, das hätte uns gerettet, aber die Nächte hast du ja lieber mit anderen verbracht.«

»Dazu gehören immer zwei«, sagte Rolf zynisch. »Das solltest du doch wohl wissen. Trixi hätte mir gleich den Laufpass gegeben, wenn ich solches Ansinnen an sie gestellt hätte.«

»Du hast doch wahrhaftig genug Erfahrung, um es richtig anzufangen«, knurrte August Brugger. »Warst du nicht immer der Ansicht, dass keine Frau dir widerstehen könnte? Aber wo es mal darauf angekommen wäre, zeigst du dich als Versager. Du bist ein Versager auf der ganzen Linie.«

»Und du bist völlig übergeschnappt«, sagte Rolf. Aber in ihm begann es zu gären. Er musste plötzlich daran denken, wie Jörg ihn gestern hatte abfahren lassen. Es ging ihm auch durch den Sinn, wie Cornelia ihn behandelt hatte. So würde ihn jetzt jeder behandeln. Alle, die sich früher um ihn geschart hatten, die stets bemüht gewesen waren, mit dem jungen Brugger gesehen zu werden, die sich gar zu gern von ihm freihalten ließen, würden jetzt über ihn hinwegsehen.

Er würde keine schnellen und teuren Autos mehr fahren können, nicht mehr die Taschen voller Geld haben, er wollte sich nicht alles noch weiter ausmalen. Kalte Wut stieg in ihm empor.

»Von Geschäften verstehe ich nichts«, sagte er. »Du hast es mir ja oft genug vorgehalten. Aber du warst doch so supergescheit. Ich frage mich, wie dir so etwas passieren konnte. Statt herumzuzetern, solltest du nach einem Ausweg suchen. Für mich persönlich werde ich schon sehen, dass ich aus dem Dilemma herauskomme.«

Aber er verriet nicht, dass ihm die zündende Idee von seinem Vater eingegeben worden war.

Rolf fuhr zur Villa Hollenberg, bereit, alles auf eine Karte zu setzen.

Tilli maß ihn mit einem vernichtenden Blick. »Es ist niemand zu Hause«, sagte sie und schlug die Tür wieder zu.

Rolfs Zorn entfachte noch mehr. Jetzt wurde ihm die Tür sogar vor der Nase zugeschlagen. Aber nun war er erst recht nicht zur Aufgabe bereit. Er fuhr zur Klinik. Und dort sah er Trixis Volkswagen stehen. Jenen Wagen, über den er immer gespottet hatte. Er beschloss zu warten. Er hatte ja Zeit.

Er ging zum Kiosk und kaufte sich eine Packung Zigaretten. Dann parkte er seinen Wagen so, dass er die Ausfahrt beobachten konnte. Es müsste doch mit dem Teufel zugehen, wenn ihm nichts einfallen würde, meinte er für sich.

*

Dr. Norden hatte indessen seine Sprechstunde fast beendet. Seine blendende Laune schien ansteckend zu wirken. Die Patienten verließen alle mit einem Lächeln die Praxis. Molly amüsierte sich darüber.

Nun ging auch die letzte. Ohne jeden Zwischenfall war der Vormittag vorbeigegangen, und sie waren ziemlich früh fertig geworden.

»Da kann ich eigentlich noch in die Klinik fahren und Frau Hollenberg einen Besuch abstatten«, sagte Daniel. »Muss doch mal sehen, wie es ihr geht.«

Natürlich besuchte er auch andere Patienten, die er in eine Klinik einweisen musste, aber bei einem so dramatischen Fall war es verständlich, dass er schon bald einen Besuch machen wollte. Molly dachte sich jedenfalls gar nichts dabei. Sie konnte ja nicht wissen, dass ihr Dr. Norden so ganz nebenbei zwei Menschen zusammengeführt hatte.

Daniel beschäftigte es auch, dass Michael Gordon sich so Hals über Kopf verlieben konnte. Seine Einstellung zum weiblichen Geschlecht hatte ihn nämlich schon auf den Gedanken gebracht, dass er eine unglückliche Liebe mit sich herumtrüge. Wie hätte er auch auf den Gedanken kommen sollen, dass es so ähnlich war, dass Michael eben Trixis Bild in seinem Herzen trug.

Tanken musste Daniel vorher noch, und das tat er immer bei den Glimmers, die auch seine Patienten waren. Durch seine Aufmerksamkeit war Frau Glimmer vor einer schleichenden Krankheit bewahrt worden, und das vergaßen ihm diese braven, arbeitsamen Menschen nie. Selbstverständlich wurde er mit Freuden begrüßt, obgleich er doch wahrhaftig nicht selten kam.

»Wie geht’s Uschi?«, erkundigte er sich. Die jungverheiratete Tochter der Glimmers erwartete ein Baby, und dass die Ehe so schnell und ohne Schwierigkeiten zustande gekommen war, war ebenfalls ein bisschen Daniels Verdienst.

Uschi ging es gut, und sie gehe auch brav zur regelmäßigen Kontrolluntersuchung, wurde ihm versichert. Dass Dr. Norden selten Zeit für einen längeren Plausch hatte, wusste man schon. Und bis der Tank gefüllt war, hatte man das Wichtigste berichtet.

Dann ging es also weiter zur Klinik. Rein zufällig und weil nicht viel Verkehr war, sah er Rolf Brugger vom Kiosk her über die Straße kommen.

Daniels Augenbrauen schoben sich zusammen. Hoppla, dachte er, was soll denn das bedeuten?Was macht der Bursche hier? Es konnte doch wohl kaum möglich sein, dass Trixi sich jetzt noch mit ihm traf. Oder doch? Daniel fuhr ganz langsam und beobachtete, wie Rolf sich wieder in seinen Wagen setzte. Er wartete also!

Ihm kam das schon recht merkwürdig vor. Obgleich er sich sagte, dass ihn das gar nichts anginge, wurde er den Gedanken nicht los, auch nicht, als er mit Michael sprach, der gerade ein paar Minuten Zeit hatte.

»Wollte mal kurz Frau Hollenberg besuchen«, erklärte Daniel sein Kommen. »Wie geht es ihr?«

»Schwankend. Gestern besser, heute wieder etwas schlechter«, erwiderte Michael.

»Und wie geht es dir?«, fragte Daniel.

Michael lächelte verlegen. »Dir kommt es wohl komisch vor, dass ich gestern bei Trixi war?«, fragte er. »Du bekommst später mal ein ganz besonderes Dankeschön von uns. Wir haben uns nämlich schon mal flüchtig in Paris getroffen, ohne uns allerdings kennenzulernen. Das erzähle ich dir mal.«

»Du kannst es auch für dich behalten, wenn es ein süßes Geheimnis ist«, scherzte Daniel. »Ich spiele gern Schicksal.«

Dazu sollte er an diesem Tage noch Gelegenheit haben. Allerdings wusste er das nicht, als er Astrids Zimmer betrat. Trixi war kurz zuvor gegangen, und ihre Mutter war gerade wieder im Einschlafen begriffen.

Für Dr. Norden hielt sie sich gewaltsam munter. Sie freute sich über seinen Besuch, aber schon nach wenigen Minuten fielen ihr dann doch die Augen zu.

»Ich bin Ihnen so dankbar«, hatte sie gesagt, »und wenn Trixi glücklich wird, wenn sie nur glücklich werden kann«, hatte sie gemurmelt.

Daniel traf Dr. Gordon nicht mehr. So wusste er auch nicht, dass Trixi noch bei ihm gewesen war und gerade die Klinik verließ. Aber er sah sie, wie sie in ihren Wagen stieg. Er hätte gern ein paar Worte mit ihr gewechselt, konnte sie aber nicht mehr erreichen.

Er selbst fuhr auch gleich wieder los und sah dann, wie Trixis Wagen rechts abbog. Komisch, dachte er, was hat Brugger nun wirklich hier gewollt? Da bemerkte er, dass dessen auffälliger Wagen dem Trixis folgte. Das erschien ihm nun mehr als merkwürdig.

Wenn Rolf Brugger auf Trixi gewartet hatte, warum hatte er sie dann nicht angesprochen? Warum folgte er ihr?

Ganz automatisch bog Daniel auch nach rechts ab, obwohl das nicht die Richtung war, die er einschlagen wollte. War das wieder mal Intuition?

Er behielt Bruggers Wagen im Auge. Es entging ihm aber nicht, dass Trixi wieder rechts abbog und Brugger ebenfalls. Er fluchte leise vor sich hin, als gerade vor ihm die Ampel auf Rot schaltete. Er musste warten, ob es ihm nun passte oder nicht.

Als er endlich starten konnte und ebenfalls in die Seitenstraße einbog, waren beide Wagen nicht mehr zu sehen. Er gab Gas. Wenn er die Geschwindigkeitsbegrenzung überschritt, konnte er sich immer noch darauf berufen, dass er Arzt im Dienst wäre. Das Schild hatte er ja an der Windschutzscheibe.

Fee würde mich auslachen und mich wieder necken, dachte er, aber er wurde eine ganz merkwürdige Unruhe nicht los.

Er kannte diese Straße. Sie führte ein weites Stück durch Wald und dann zu dem Vorort, in dem die Hollenbergs wohnten.

Weit vor sich sah er endlich den Wagen von Rolf Brugger. Der goldmetallice Lack blinkte unter den Sonnenstrahlen, die jetzt durch die Wolkendecke krochen.

Warum folgt er Trixi? hämmerte es in Daniels Hirn. Merkt sie es nicht? Seinen Wagen muss sie doch wohl kennen. Aber dieser Wagen konnte viel schneller fahren als Trixis Volkswagen.

Daniel konnte die Straße gut überblicken und blieb nun etwas zurück, um zu sehen, wie sich alles weiterentwickelte. Doch dann entging es ihm nicht, dass Bruggers Wagen schneller wurde und zum Überholen ansetzte.

Jetzt war er vor Trixis hellem Volkswagen und bremste. Und Trixi musste auch bremsen, weil Gegenverkehr war. Daniel hatte wieder Gas gegeben. Seine scharfen Augen erfassten die Szene, die sich vor ihm abspielte, noch etwa zweihundert Meter entfernt. Brugger war ausgestiegen. Er stand an Trixis Wagen. Er hatte die Tür aufgerissen und zog sie heraus. Trixi sträubte sich. Alles ging blitzschnell, und fast ebenso schnell war er dann dicht heran. Seine Bremsen kreischten, und in dieses Kreischen mischte sich Trixis Hilferuf.

Daniel sprang aus seinem Wagen, war bei ihr, bevor Brugger es noch recht begriffen hatte. Mit schreckensweiten Augen starrte er dann Dr. Norden an, ließ von Trixi ab, die Dr. Norden in die Arme fiel, sprang zu seinem Wagen zurück und ans Steuer und jagte mit aufheulendem Motor davon.

»Was wollte er, Trixi?«, fragte Daniel atemlos. Er merkte gar nicht, dass er sie mit ihrem Vornamen ansprach.

»Ich weiß es nicht«, stammelte sie. »Ich merkte, dass der Wagen mir folgte. Ich dachte nicht, dass er es wäre, und dann bekam ich es doch mit der Angst. Aber schneller kann ich mit meinem Wagen nicht fahren. Er ist schon ziemlich alt.«

Sie zitterte am ganzen Körper. »Er war so schrecklich. Ich hatte entsetzliche Angst«, flüsterte sie. »Wie kommen Sie hierher?«

»Das erzähle ich Ihnen, wenn ich Sie heimbringe.«

»Aber mein Wagen«, sagte sie sto­ckend.

»Den wird schon niemand wegholen. Ich fahre ihn in einen Seitenweg. Nein, Sie kommen mir nicht mehr ans Steuer. Und allein lasse ich Sie jetzt erst recht nicht.«

Die Autos brausten an ihnen vorbei. Keiner hielt an, keinen kümmerte es, ob wohl etwas passiert wäre. Es wäre wohl auch keiner auf den Gedanken gekommen, Trixi beizustehen, wenn er nicht des Weges gekommen wäre.

Daniel konnte jetzt nicht alles überdenken. Wenn er sich auch über den Grund dieses seltsamen Überfalls nicht klarwerden konnte, so wusste er doch, dass Trixi in großer Gefahr gewesen war.

Blass und zitternd saß sie dann neben ihm. »Wenn Sie nicht gekommen wären«, sagte sie leise, »er hat mich so fest gepackt, er hätte mich nicht mehr losgelassen.«

Sie streifte ihre Ärmel hoch. Daniel sah dunkelrote Druckstellen, die ihm verrieten, wie gewaltsam Rolf Brugger das Mädchen gepackt hatte.

Er hätte mich nicht mehr losgelassen, hatte sie gesagt.

Wollte er Trixi entführen? Wollte man mit solchen Mitteln Hollenberg unter Druck setzen? Oder hatte er gar Schlimmeres vorgehabt?

Trixi liefen jetzt die Tränen über die Wangen. Und nun erzählte ihr Daniel, wie er dazu gekommen war, die gleiche Strecke zu fahren.

»Es kam mir einfach merkwürdig vor, dass er Ihnen folgte, anstatt Sie anzusprechen.«

»Und wenn ich nicht noch bei Michael gewesen wäre, dann hätten Sie es nicht gesehen«, flüsterte sie. »Was wäre dann geschehen? Was wollte er?«

Ja, was hätte dann geschehen können. »Er muss völlig durchgedreht sein«, murmelte Daniel. »Glaubte er denn, dass er Sie gewaltsam …« Er unterbrach sich und griff beruhigend nach ihrer Hand. »Es war schlimm genug für Sie, Trixi«, sagte er leise, »wir wollen uns nicht alles ausmalen. Sie haben die letzten Tage weiß Gott genug mitgemacht.«

»Und Sie waren mein Schutzengel«, sagte sie bebend. »Ihnen habe ich es zu verdanken, dass ich Michael wiedergefunden habe, und jetzt haben Sie mich vor etwas ganz Abscheulichem bewahrt. Er sah aus, als wolle er mich umbringen«, fügte sie schaudernd hinzu.

Sie umzubringen hätte Rolf Brugger nichts genützt, ging es Daniel durch den Sinn. Ihr Gewalt anzutun, wäre für Trixi aber gleichbedeutend gewesen, denn wäre ihr das Leben wohl nichts mehr wert gewesen. Dann hätte sie wohl eher gewünscht, tot zu sein, und nicht nur ihre Familie wäre unglücklich geworden, auch Michael Gordon.

»Mein kleiner Finger hat mich wieder mal nicht im Stich gelassen«, sagte Daniel, sich zu einem scherzhaften Ton zwingend.

»Ihr kleiner Finger?«, fragte Trixi verwirrt.

»Er verrät mir vieles im Voraus. Er hat mir auch verraten, dass mein lieber und hochgeschätzter Kollege Michael Gordon verdammt viel für eine gewisse Trixi übrig hat.«

»Und sie für ihn«, flüsterte Trixi. »Sie haben aber einen schlauen kleinen Finger.«

Er freute sich, dass sie auf seinen Ton einging. »Das habe ich von meinem Vater, Trixi. Er hat mir immer wieder gesagt, dass man auf seine innere Stimme hören soll. Man soll ihr folgen, wenn es einem auch unsinnig vorkommt.«

»Wie soll ich Ihnen nur danken, dass Sie es taten«, flüsterte Trixi.

»Sie glauben ja nicht, wie froh ich bin, dass Ihnen nichts geschehen ist. So, nun sind Sie daheim, und nun versprechen Sie mir, dass Sie nicht mehr allein aus dem Hause gehen.«

»Ich kann es Paps aber nicht sagen. Er würde sich schrecklich aufregen, und Jörg würde Rolf verprügeln.«

»Was wahrlich angebracht wäre. Aber was soll man sich die Hände an einem solchen Kerl schmutzig machen!«

»An einem solchen Kerl, mit dem ich fast verlobt wäre«, sagte Trixi niedergeschlagen. »Was müssen Sie von mir denken, Dr. Norden.«

»Dass man manchen Bock schießt, wenn man jung ist, Trixi. Im übrigen denke ich nur das Beste von Ihnen. Der Himmel hat Sie vor diesem Burschen bewahrt «

»Der Himmel hat Sie geschickt, und Sie haben Michael mitgebracht. Ihnen brauche ich ja gar kein Glück mehr zu wünschen. Sie haben es schon in Gestalt einer Fee.«

Daniel lächelte. »Und in drei Wochen wird geheiratet, damit ihr uns nicht noch zuvorkommt. Und wir hoffen sehr, dass Sie und Michael dabei sein werden.«

Es war ihm gelungen, sie abzulenken und auf andere Gedanken zu bringen. Sie brauchte Tilli nicht in dem erregten Zustand unter die Augen zu kommen, aber die nichtsahnende Tilli sorgte dann gleich dafür, dass sie doch wieder an Rolf denken musste.

»Alles was recht ist«, sagte Tilli, »aber der Brugger soll jetzt endlich fern bleiben. Ich traue mich ja schon gar nicht mehr an die Tür vor Angst, dass er wieder davor stehen könnte. Mir läuft’s jedesmal kalt über, wenn ich ihn sehe.«

»Wir werden die Gartentür absperren, Tilli, und wenn Sie es auch nicht mögen, müssen Sie halt durch die Sprechanlage fragen, wer da ist. Aber ich glaube nicht, dass er sich nochmals hier blicken lässt.«

Zu einer weiteren Erklärung fand sie sich allerdings nicht bereit. Tilli konnte nur Vermutungen anstellen, aber sie hatte nicht solche Kombinationsgabe, dass sie sich eine Geschichte zusammenreimen konnte.

Sie maß die Sprechanlage mit einem giftigen Blick. Sie haßte dieses neumodische Zeug, aber mit einem abgrundtiefen Seufzer entschloss sie sich doch, Gebrauch davon zu machen. Und ebenso war Trixi entschlossen, Dr. Nordens Rat zu folgen und das Haus nicht mehr allein zu verlassen.

Allerdings waren solche Vorsichtsmaßnahmen überflüssig. Rolf Brugger hatte sich nach dem für ihn so prekären Zwischenfall entschlossen, das Feld zu räumen. Er raste bereits der Grenze zu, mit dem Ziel, die Schweiz zu erreichen und dort im Ferienhaus seiner Eltern abzuwarten, wie sich alles entwickeln würde.

Natürlich war es eine idiotische Idee von seinem Vater gewesen, noch auf Hollenberg zu setzen. Zu dumm auch von Trixi, sich gleich so aufzuführen, hatte er doch gedacht, sie überrumpeln zu können. Und dann musste auch ausgerechnet noch dieser Norden daherkommen. Wenn der nun jetzt die Polizei auf ihn hetzte?

Erleichtert atmete Rolf Brugger auf, als der Grenzbeamte nur einen kurzen Blick in seinen Pass warf und ihn dann weiterwinkte.

Nach mir die Sintflut! dachte er. Vater wird sich schon irgendwie heraus­lavieren. Und schließlich gab es hier in der Schweiz auch noch ein paar dicke Konten. Wozu also die Aufregung?

Er war aus der Gefahrenzone. Er konnte auch jetzt noch alles abschütteln. Diesen letzten Fehlschlag hätte er sich ersparen können. Gut, er hatte es probiert, weil es ihm Genugtuung bereitet hätte, sich an den Hollenbergs zu rächen, aber sollte er sich jetzt darüber noch Gedanken machen? Er war in der Schweiz, und er hatte die Taschen noch voll Geld. Und außerdem wusste er in Ascona jemanden, der ihm die Tür nicht vor der Nase zuschlagen würde.

Da gab es ein bildschönes Haus mit einer recht reizvollen Frau. Nicht gerade taufrisch war sie, aber sie würde sich freuen, wenn er sie besuchte. Und eventuell könnte sie sogar der Rettungsanker für ihn werden.

Ja, das war eine glänzende Idee. Rolf Brugger war schon wieder obenauf. Die Sorgen seines Vaters scherten ihn wenig und Trixis Meinung über ihn noch weniger. Echter Gefühle war er nicht fähig, nicht einmal für seine Eltern brachte er solche auf.

Er war bereit, das Leben zu nehmen, wie es kam und das für sich Beste daraus zu machen.

*

Hätte Matthias Hollenberg dies alles gewusst, wäre er gewiss nicht so frohgemut, seelisch und auch körperlich gestärkt, zu seiner Frau gegangen. Stolz auf seinen tüchtigen und umsichtigen Sohn konnte er sein, und für Trixi lag die Zukunft auch in hellem Licht.

Matthias Hollenberg war zutiefst dankbar und nicht so überheblich, sich über die Fehler, die er gemacht hatte, hinwegzusetzen. Er hatte sich täuschen und blenden lassen. Er hatte es eingesehen und gern ungeschehen gemacht. Aber man konnte das nicht einfach wegwischen. Zeit seines Lebens war er ein korrekter Mann gewesen, und er war auch mutig genug, korrekt einen Schlussstrich zu ziehen.

Von Mann zu Mann wollte er sich mit August Brugger auseinandersetzen, aber im Augenblick war ihm seine Frau wichtiger. Er dachte, dass sie nun lange genug auf seinen Besuch gewartet haben sollte.

Astrid hatte eine Stunde geschlafen, nachdem Trixi und Dr. Norden gegangen waren. Sie dämmerte noch ein bisschen vor sich hin, als ihr Mann kam. In ihrem Kopf arbeitete es. Er schmerzte auch ein wenig, aber Dr. Gordon hatte gesagt, dass dies ganz natürlich sei und auch immer wieder kommen würde, bis die Wunde verheilt war.

Sie spürte, dass jemand das Zimmer betrat, und obgleich sich ihr Mann bemühte, ganz leise zu sein, erkannte sie seine Schritte.

Wie rücksichtsvoll er sein kann, dachte sie und musste nun doch unwillkürlich lächeln, denn daheim hörte man sein Kommen schon von weitem.

Ein wenig tyrannisch war er schon, der gute Matthias. Aber nicht bewusst und auch nicht böse. Er war eben der Herr im Hause, und sie hatte nie den Drang nach Emanzipation verspürt. Ihr hatte es immer genügt, Frau und Mutter zu sein, und sie hatte sich dabei nie unglücklich oder unausgefüllt gefühlt.

Wieviel einem Menschen doch in so kurzer Zeit durch den Sinn gehen konnte.

Als Astrid aber spürte, wie Matthias ganz sacht ihre Hand ergriff und seine Lippen sich zärtlich darauf legten, schlug sie die Augen auf. Sie wollte ihn sehen, sie wollte von seinem Gesicht und aus seinen Augen lesen, was er dachte und fühlte.

»Mein Liebes, du bist ja munter«, sagte er weich, »und deine Augen lächeln schon wieder.«

»Ihr verwöhnt mich«, sagte Astrid. »Immer ist einer von euch da, wenn ich erwache. Es ist schön.«

»Nicht mal Blumen habe ich mitgebracht«, sagte Matthias verlegen.

»Dr. Gordon hat das auch gar nicht gern. Blumen haben wir daheim im Garten. Ich werde sie bald wiedersehen. Für mich ist es viel wichtiger, wenn ich euch sehe. Es ist schön, dass ich es kann, Matthias. Ich bin sehr dankbar dafür.«

»Und ich erst«, sagte er und küsste sie zärtlich.

»Hast du dich richtig ausgeschlafen?«, fragte Astrid.

»Den ganzen Sonntag. Es ist eine Schande, dass ich dich nicht besucht habe, aber …« Nun hätte er sich doch fast verraten. »Niemand hat mich geweckt«, sagte er rasch.

»Und das war gut so. Ich schlafe ja auch die meiste Zeit. Ich hole alles nach, lasse mich verwöhnen, liege faul herum …«

»Jetzt bist du aber gleich ganz still, Liebes«, fiel er ihr ins Wort. »Woher nimmst du nur die Kraft, Astrid?«

»Aus eurer Liebe. Ich spüre es wieder, dass ihr mich liebt. Es macht mich glücklich, Matthias.«

»Hast du daran gezweifelt, mein Liebes?«, fragte er erschüttert.

»Es war sicher die Krankheit, diese dauernden Schmerzen. Ich kam mir so überflüssig vor, so lästig.«

»Bitte, sag das nicht«, flüsterte Matthias. »Du beschämst mich so sehr. Ich muss dich für so viel um Vergebung bitten. Da hat man so viele Jahre miteinander gelebt und nimmt es einfach nicht ernst, wenn der andere sich quält. Ich weiß, dass es ganz anders gewesen wäre, wenn es bei mir so gewesen wäre. Ja, ich weiß es, widersprich nicht, mein Liebstes.«

»Man weiß gar nichts, Matthias. Vielleicht hätte ich auch gedacht: Warum stellt er sich so an, warum ist er plötzlich so wehleidig. Ist es nicht so, dass man nach so vielen Jahren einen Menschen ganz zu kennen glaubt, und kennt ihn doch nicht? Wir wissen nicht, was über uns hereinbrechen kann. Man muss mit allem erst fertig werden, und es ist gut, wenn man ganz zueinander findet, nach Zweifeln, nachdem man in die Irre gegangen ist.Wir haben die schönen Tage miteinander geteilt und sind nie so recht auf die Probe gestellt worden. Und nun, mein Lieber, wollen wir nicht mehr davon sprechen. Es gibt Wichtigeres. Unsere Trixi wird ihre eigenen Wege gehen. Darüber wollen wir sprechen.«

Matthias sah sie bestürzt an. »Magst du denn Dr. Gordon nicht?«, fragte er konsterniert.

»Du weißt es?«, fragte Astrid überrascht.

»Hat Trixi es dir denn nicht gesagt? Ich meinte, sie würde übersprudeln vor Glück. Sie hat mir gestern eine bezaubernde kleine Geschichte erzählt und mir gesagt, dass Dr. Gordon dir die gleiche erzählen würde.«

»Er hat sie mir erzählt, und auch ich fand sie zauberhaft, aber heute vormittag kamen mir dann Gedanken, wie die Bruggers sich wohl verhalten würden. Sie werden es doch nicht so einfach hinnehmen, Matthias.«

»Was bleibt ihnen übrig, nachdem sie uns so hinters Licht geführt haben«, meinte er.

»Hinters Licht geführt? Wie soll ich das verstehen?«

»HatTrixi denn den ganzen Vormittag schweigend bei dir verbracht?«, wunderte er sich. »Das sieht ihr aber gar nicht gleich.«

»Ich war sehr matt. Ich habe die meiste Zeit geschlafen. Dir kann ich es ja sagen, Matthias, ich wollte einfach nicht daran rühren, was geplant war.«

»Was ich mir so schön ausgedacht hatte! Sag es nur, sprich es aus. Und sie, die Bruggers, wollten sich nur meine Loyalität sichern. Sie sind finanziell am Ende. Ich sollte die Karre aus dem Dreck ziehen, und blind wie ich war, habe ich nicht gemerkt, dass Trixi das Opfer sein sollte. Dein Gliom, das dir so zu schaffen machte, hatte das Schlimmste verhindert, wenn wir es mal ganz deutlich sagen wollen.«

»Du, das muss ich aber erst verdauen«, sagte Astrid mit einem Seufzer der Erleichterung.

»Ich bin ein schöner Trottel, dass ich damit so herausplatze. Du sollst dich nicht aufregen, das hat mir Dr. Gordon doch so ans Herz gelegt.«

»Es regt mich nicht auf. Die Ungewissheit hat mich beunruhigt. Trixi macht sich jetzt hoffentlich keine unnützen Gedanken. Sie hat wohl erwartet, dass ich anfangen würde über Dr. Gordon zu sprechen. Ach, Matthias, in meinem Kopf herrscht doch noch ein ziemliches Durcheinander.«

»Du vergisst, dass gerade achtundvierzig Stunden seit deiner Operation vergangen sind, und Dr. Gordon ist sowieso überrascht, wie gut es dir schon wieder geht. Wie doch das Leben spielt, Astrid.«

»Ich werde mein Gliom los und bekomme den Arzt als Schwiegersohn«, murmelte sie. »Du bist doch einverstanden, Lieber?«

»Ja, ich bin sehr einverstanden, aber ich hätte mich auch sonst nie mehr in die Angelegenheiten unserer Kinder eingemischt. Sie wissen selbst recht gut, was richtig ist. Unser Jörg ist ein großartiger Junge. Ich bin einfach sprachlos, wie umsichtig er zu disponieren versteht.«

Astrid blinzclte unter den halbgeschlossenen Augenlidern zu ihrem Mann empor. Auf einmal wusste er auch das. Noch vor kurzem hatte er gesagt, dass Jörg ein Grünschnabel sei und meine, alles mit der linken Hand machen zu können.

Väter und Söhne, Mütter und Töchter, in jeder Generation gab es wohl solche Probleme zu überwinden, weil man nicht begreifen konnte, wie schnell die Kinder erwachsen wurden.

»Wir können sehr zufrieden sein mit unseren beiden«, flüsterte sie, und dann schlief sie wieder ein.

Trixi zerbrach sich indessen wirklich den Kopf, warum ihre Mutter so gar nichts über Michael gesagt hatte. Und nun, da die Erregung über den bösen Zwischenfall verebbt war, wurde ihr auch bewusst, dass Michael während ihrer kurzen Unterhaltung ebenfalls recht zurückhaltend gewesen war.

Am Abend wollten sie sich noch eine Stunde treffen, doch da Trixi nicht wusste, dass Rolf Brugger weit vom Schuss war, hätte sie sich nicht mehr aus dem Hause gewagt.

Sie wollte Michael anrufen, doch sie wagte es sich nicht so recht. Er hatte viel zu tun und selbst würde er auch nicht gleich am Telefon sein.

Ihr Selbstbewusstsein hatte während der letzten Tage stark gelitten. Es war ein bisschen viel auf sie eingestürmt.

Nie hatte sie etwas allein entscheiden müssen. Im Gegenteil. Alle Entscheidungen waren ihr abgenommen worden, und ganz selbstverständlich hatte sie sich den Wünschen ihres Vaters gefügt, den sie immer bewundert hatte. Er würde schon alles richtig machen, war ihre Ansicht gewesen. Er mit seiner Erfahrung konnte gar nichts falsch machen. Und nun hatte sie erkannt, dass auch er nur ein Mensch war, den seine Klugheit und Erfahrung nicht vor Fehlentscheidungen schützte.

Sie dachte unentwegt nach, über dieses und jenes, über die Vergangenheit und auch über die Zukunft. Die Gegenwart vergaß sie, und sie merkte nicht, wie die Zeit dahinrann.

Um sieben Uhr hatte sie sich mit Michael verabredet. Jetzt war es sechs Uhr, und es läutete. Panische Angst erfüllte sie plötzlich. Zögernd ging sie in die Diele. Tilli stand vor dem Sprechapparat und starrte ihn an, als wäre er ein gefährliches Tier.

Trixi nahm sich zusammen und schob Tilli beiseite. »Wer ist da?«, fragte sie mit fremder, bebender Stimme.

Es war Jörg, und als ihm dann die Tür geöffnet wurde, stand er kopfschüttelnd vor ihnen.

»Was verbarrikadiert ihr euch denn so?«, fragte er bestürzt. »Das ist ja wirklich die reinste Festung. Das Gartentor ist abgeschlossen, die Sicherheitskette an der Haustür vorgelegt. Ist mir der Zutritt etwa verboten?«, fragte er dann neckend.

Trixi fiel ihm um den Hals.

»Du zitterst ja«, sagte Jörg. »Wovor hast du Angst, Schwesterlein?« Seine Augenbrauen schoben sich zusammen.

Erst jetzt bemerkte Trixi, dass er beim Friseur gewesen war und einen gemäßigten, wenn auch flotten Haarschnitt hatte. »War etwa Brugger schon wieder

hier?«, fragte Jörg nun.

Trixi entschloss sich, ihm doch alles zu erzählen. Jörg wurde blass und knirschte mit den Zähnen.

»Das wird er büßen!«, stieß er hervor.

»Dr. Norden hat gesagt, dass man sich an ihm die Hände nicht schmutzig machen soll«, flüsterte sie scheu.

»Aber einen Denkzettel muss man ihm verpassen«, sagte Jörg. »Ich möchte wissen, was er im Schilde führte. Wollte er dich entführen und zehn Millionen, die sie brauchen, erpressen? An Verstand hat es ihm ja immer gemangelt, aber so blöd kann er doch nicht sein. Aber nichtsdestoweniger habe ich jetzt Hunger. Beruhige dich, Trixi. Er wird es nicht wagen, dir noch mal zu nahe zu treten.«

Trixis Blick wanderte zur Uhr. »Ich bin um Sieben mit Michael verabredet. Würdest du mich hinbringen, Jörg?«, fragte sie kleinlaut.

»Selbstverständlich, aber es ist noch Zeit.«

*

Michael hatte jedoch von Daniel schon alles erfahren. Vorsicht wäre in jedem Fall besser, meinte Daniel. In

einer ausweglosen Situation waren manche Menschen zu allem fähig.

In fliegender Hast verließ Michael Gordon zwanzig Minuten nach sechs Uhr die Klinik. Er setzte seine Mitarbeiter damit wieder einmal in Erstaunen, doch sie gewannen so langsam die Erkenntnis, dass er auch ein ganz normaler Mensch sei und nicht ein Roboter.

Als er Hollenbergs Haus fast erreicht hatte, wollte Trixi gerade in Jörgs Wagen steigen. Hart bremste Michael vor diesem.

»Trixi!«, rief er laut, Jörg gar nicht wahrnehmend.

Sie flog ihm an den Hals. Die immer wieder zurückgedrängte Erregung löste sich in einem haltlosen Schluchzen.

Michael hielt sie sekundenlang stumm umschlungen, bis Jörgs raue Stimme ertönte: »Nun geht mal schön ins Haus.«

Ihm war es richtig komisch, so viel Zärtlichkeit zu sehen. Ihm war plötzlich begreiflich geworden, was wahre Liebe war.

Dann standen Michael und Trixi in der Diele. Niemand störte sie. Sie hatten nicht bemerkt, dass Jörg an ihnen vorbeigegangen war, zu Tilli in die Küche. Michaels Hände umschlossen Trixis Gesicht. Tief blickte er in ihre feuchten Augen, die ihn so hilflos ansahen. Wie ein kleines Mädchen sah sie aus, das gern erwachsen sein wollte und doch nicht wusste, wie es das anfangen sollte.

Und dann warf sie plötzlich die Arme um seinen Hals und bedeckte sein Gesicht mit kurzen heftigen Küssen.

»Lass mich nie mehr allein, Michael«, flüsterte sie. »Halt mich fest.«

»Für immer«, erwiderte er weich.

Und drinnen in der Küche sagte Jörg zu Tilli: »Nun heulen Sie doch nicht mehr, altes Mädchen, es wird ja alles gut.«

Diese Hoffnung hatte August Brugger für sich persönlich nun allerdings aufgegeben. Dass Matthias Hollenberg ihn zu sprechen wünschte, ließ noch eine vage Zuversicht in ihm aufflackern, und als sich die beiden Männer begrüßten, schien er noch einmal der alte ungebeugte Brugger zu sein.

Aber schon nach Matthias Hollenbergs ersten Worten war ihm klar, dass er sich falschen Hoffnungen hingegeben hatte. Der Ton wurde von jenem Mann bestimmt, den er für seine Zwecke hatte ausnützen wollen.

»Hätten Sie mir reinen Wein eingeschenkt, Herr Brugger, hätten wir gemeinsam einen Ausweg suchen können. Vor einigen Wochen wäre dazu sicher noch Zeit gewesen«, hatte Matthias Hollenberg begonnen.

Ihn täuschen zu wollen, war sinnlos. Das sah August Brugger ein. Er verharrte in düsterem Schweigen.

»Was meine Tochter anbetrifft, spreche ich mich nicht frei von Schuld«, fuhr Matthias fort. »Geschäftsinteressen und menschliche Beziehungen soll man nicht unter einen Hut bringen.«

»Die beiden jungen Leute passten gut zueinander«, sagte August Brugger. »Das gleiche Niveau, die gleichen Interessen …«

»Das kann doch nicht Ihre ehrliche Überzeugung sein«, fiel ihm Matthias ins Wort. »Sie müssen Ihren Sohn doch besser gekannt haben. Ich habe meine Augen und Ohren verschlossen vor Tatsachen, die die Spatzen tatsächlich von den Dächern pfiffen.Wir wollen reinen Tisch machen.«

»Das ist jetzt wohl nicht mehr nötig«, sagte August Brugger steif. »Mein Sohn hat vorgezogen zu verschwinden. Ich werde bezahlen müssen für meine Fehler. Ich wollte meinen Angestellten die Arbeitsplätze erhalten und habe in meiner Verzweiflung zu falschen Mitteln gegriffen. Mein Lebenswerk ist vernichtet. Sie werden wohl verstehen, was das für mich bedeutet.«

Matthias Hollenberg konnte kein Mitgefühl mehr empfinden. Diese hochtrabenden Worte konnten ihn nicht mehr täuschen. Für diesen Mann war nur von Bedeutung, dass er von seinem Podest gestürzt worden war und nun in der Masse verschwinden würde, auf die er verachtungsvoll herabgeschaut hatte. Er musste sich von vielem trennen, worauf er so unsagbar stolz gewesen war, gewiss nicht von allem, darüber war Matthias Hollenberg sich ziemlich im klaren.

Je höher man steigt, desto tiefer kann man fallen, hatte sein Schwiegervater ihm mit auf den Weg gegeben, als er ihm seinen Platz überließ. Nun, August Brugger würde irgendwo gewiss in ein weiches Bett fallen, aber ob er dort noch einen ruhigen Schlaf finden konnte, lag in den Sternen.

»Warum sind Sie eigentlich gekommen, wenn Sie mir nichts anderes zu sagen hatten?«, fragte Brugger tonlos.

»Weil ich jedes Geschäft korrekt beende, auch wenn es nicht abzuwickeln ist«, erwiderte Matthias Hollenberg. »Ich wollte Sie darüber nicht im Unklaren lassen, dass es auch unter anderen Umständen keineVerbindung zwischen unseren Familien gegeben hätte. Meine Tochter hat sich für einen anderen Mann entschieden.«

August Brugger starrte ihn geistesabwesend an. »Trixi ist ein reizendes Mädchen, wirklich ein reizendes Mädchen«, sagte er tonlos, und irgendwie stimmte dies Matthias Hollenberg versöhnlich.

*

Natürlich berichteten die Zeitungen tagelang über den Ruin August Bruggers. Tatsachen und wilde Gerüchte mischten sich. Die Klatschspalten dagegen wussten von Rolf vorerst nichts zu berichten.

Von Isabel erfuhr Dr. Norden dann, dass Rolf sich am Lago Maggiore aufhielt und bereits Gerüchte kursierten, dass er die geschiedene Frau eines Autofabrikanten, die zehn Jahre älter als er war, heiraten würde.

Und das bereits eine Woche nach diesem üblen Zwischenfall. Daniel konnte nur noch den Kopf schütteln.

»Geredet wird viel«, meinte Isabel. »Es ist doch hoffentlich kein Gerücht, dass ihr heiraten wollt?«

»Nein, das ist eine Tatsache. Du hättest es bereits erfahren, wenn ich gewusst hätte, dass du schon zurück bist«, sagte er lächelnd. »Es braucht aber nicht publiziert zu werden, und du wirst nur eingeladen, wenn du nicht darüber schreibst.«

»Nett, dass ihr mich überhaupt einladet«, scherzte sie.

»Jürgen braucht doch eine Tischdame«, sagte Daniel neckend.

»Und warum habt ihr euch so plötzlich entschlossen?«, fragte Isabell hintergründig, ohne eine Spur gekränkt zu sein.

»Wir sind es überdrüssig, uns nur ab und zu mal amWochenende zu sehen.«

Darauf lächelte Isabel diskret, enthielt sich aber einer weiteren Bemerkung.

»Die Praxis wirst du aber noch beibehalten?«, fragte sie.

»Wie besprochen. Und Jürgen wird auch noch weiterhin auf der Insel bleiben. Schlag es dir aus dem Kopf, Isabel, ihm eine Praxis zu präsentieren. Er ist nicht der Mann, der sich von einer Frau managen lässt.«

»Ja, darüber bin ich mir auch klar geworden. Wahrscheinlich stehe ich schon zu lange auf eigenen Füßen, um mich anpassen zu können.«

»Warten wir es ab. Die Liebe geht ihre eigenen Wege. Man kann kein Programm machen.«

Dass man auf der Insel der Hoffnung für die Hochzeit ein Programm machte, wusste er nicht, und es hätte ihn auch ungerührt gelassen. Für ihn zählte es nur, dass Fee endlich seine Frau werden würde, dass er sich nicht mehr mit täglichen Anrufen begnügen müsste, sondern, dass jeder Tag mit ihr beginnen und enden würde.

*

Fee stöhnte auch, wenn Katja mit immer neuen Vorschlägen daherkam.

»Liebe Güte, wir müssten ja drei Tage feiern, wenn es nach euch ginge«, sagte sie. »Das heb dir mal für deine Hochzeit auf, Katja.«

»Die steht noch in den Sternen«, sagte Katja heiter. »Du wirst eine wunderschöne Braut sein, Fee. Vergiss nicht, dass du heute zur Anprobe fahren musst.«

»Du wirst mich schon daran erinnern«, sagte Fee lächelnd. »Kümmere dich lieber um Mario. Er hat sich das Knie gestern böse aufgeschlagen.«

»Er ist halt ein richtiger Junge«, meinte Katja. »Anbinden kann man ihn nicht. Bis zur Hochzeit ist alles wieder heil.«

»Meinetwegen kann er auch mit aufgeschlagenem Knie Blumen streuen, wenn es nichts Schlimmeres ist. Aber Paps rennt wie ein aufgescheuchtes Huhn herum, wenn er ihn eine halbe Stunde nicht sieht.«

»Wenn schon, dann Hahn. Ein Mann kann kein Huhn sein«, lachte Katja. »Dann werde ich ihn mal suchen.«

Aber das besorgte schon Dr. Cornelius selbst. Er hatte Mario vermisst, nachdem er seine Untersuchungen beendet hatte, denn es war ungewöhnlich, dass der Junge nicht erschien, wenn es Zeit war, sich das zweite Frühstück einzuverleiben.

»Reg dich doch nicht immer gleich auf«, sagte Anne. »Auf der Insel kann sich Mario nicht verlaufen.«

»Aber er könnte ins Wasser fallen«, sagte Johannes Cornelius.

»Das scheut er. Da bin ich unbesorgt. Er geht ja nicht mal in die Badewanne, wenn keiner bei ihm ist.«

Vor jedem Wasser schien Mario aber doch keine Angst zu haben. Johannes fand ihn an einem Platz, an dem er schon so oft achtlos vorübergegangen war. Ein ganz unberührtes Fleckchen der Insel war es, überwuchert von Farnen, und der Boden war morastig. Und in diesem Morast watete Mario herum.

»Mario!«, rief Dr. Cornelius erschrocken. »Muss das sein?«

»Muss sein, Papi«, erwiderte der Kleine. In seinem schmutzverschmierten Gesichtchen leuchteten die weißen Zähnchen, und seine dunklen Augen blitzten übermütig. »Schimpfst du?«, fragte er treuherzig. »Ist aber gut für mein Bein. Ganz gut. Tut gar nicht mehr weh. Und guck doch mal, was da für schönes Wasser rauskommt. Aus den Steinen. Mario hat gestaunt. Erde ist schmutzig, aber Wasser ist ganz sauber.«

Dr. Cornelius blickte auf das dünne Rinnsal, das sich mühevoll einen Weg durch die Steine bahnte. Sollte das die Quelle sein, von der die Chronik berichtet hatte? Die Quelle, der man Heilkräfte beimaß vor vielen, vielen Jahren, und die dann versiegt war?

»Warst du schon öfter hier, Mario?«, fragte er geistesabwesend.

»Hmm, manchmal. Habe das Wasser aber noch nicht gesehen. War auch nicht so nass hier. Habe immer nur die hübschen Blümchen für Mami gepflückt. Weißt du, die blauen, die wir so gern haben. Wollte heute auch welche pflücken.«

Er sah an sich herab. »Ganz schön dreckig«, murmelte er kleinlaut, »aber das Bein brennt gar nicht mehr. Ist auch nicht mehr entzündet, Papi.«

Aber er wunderte sich dann doch, dass Johannes ihn auf den Arm nahm, obgleich er doch so dreckig war und der Papi noch seinen weißen Kittel anhatte.

»Vielleicht hast du eine ganz große Entdeckung gemacht, Mario«, sagte Dr. Cornelius gedankenverloren.

Staunend waren die dunklen Kinderaugen auf ihn gerichtet.

»Was hat Mario für Entdeckung gemacht?«

»DasWasser. Die Quelle.«

»Quelle? Ist’n das?«, fragte Mario.

»Wasser, das aus der Erde drängt.«

»Ist nicht Erde, sind Steine«, sagte Mario. »Frühstücken wir jetzt?«

»Du wäschst dich erst mal, und ich muss etwas nachlesen.«

»Nicht lesen. Du musst essen. Mami sagt, dass du nachholen musst, was du morgens versäumst. Heißt doch versäumst?«

Er erkundigte sich oft, wenn ihm ein Wort noch nicht geläufig war, aber sein Gedächtnis war erstaunlich. Doch heute stellte Dr. Cornelius darüber keine Betrachtungen an, so sehr es ihn freute, dass der Junge so schnelle Fortschritte machte.

Er hörte auch gar nicht hin, als Anne sie mit dem Ausruf empfing: »Wie seht ihr denn aus?«

Er setzte den Jungen auf den Boden und eilte in die Bibliothek.

»Papi ist nicht böse«, sagte Mario, als Anne ihn konsterniert betrachtete. »Hat nicht schimpft. Mario hat Entdeckung gemacht, hat Papi gesagt.«

»Einen Sumpf scheinst du entdeckt zu haben«, sagte Anne. »So, wie du aussiehst, musst du darin herumgewatet sein.«

»War aber schön für mein Bein«, erklärte Mario. »Und das Wasser ist sauber. Kann man trinken. Papi sagt, das ist Quelle.Wasser aus der Erde.«

»Da scheinst du ja wirklich eine Entdeckung gemacht zu haben«, sagte Anne. »Aber waschen musst du dich trotzdem.«

»Das Wasser im Bad tut aber weh, Mami. Quelle tut nicht weh.«

»Katja wird dich ganz vorsichtig waschen und dir einen neuen Verband machen um dein Knie«, sagte Anne nachdenklich. Und Katja war auch schon zur Stelle. »Was hast du wieder angestellt, Mario?«, rief sie aus.

»Gar nichts. Habe nur etwas entdeckt«, versicherte er wieder. Anne eilte schon in die Bibliothek, und da sah sie ihren Mann vor einem dicken Folianten sitzen. Er war so vertieft, dass er ihr Kommen nicht hörte.

»Was ist denn, Johannes?«, fragte Anne.

Johannes Cornelius blickte auf, aber sein Blick schien noch in weiter Ferne zu weilen.

»Es stimmt, Anne«, sagte er. »Mario hat die Quelle entdeckt. Höre, was hier geschrieben steht: Die Quelle sprudelte aus den Steinen. Ein Kind, das geboren war, ohne Kraft zum Leben zu haben, wurde mit demWasser getauft, und wie durch ein Wunder gedieh es zu einem gesunden Knaben. Ein Mädchen, dessen Haut von eincm fürchterlichen Ausschlag befallen war, suchte dort Kühlung und wurde alsbald geheilt. Einer todkranken Bäuerin, die schon die letzte Ölung erhalten hatte, wurde das Wasser zu trinken gegeben, und sie genas.

So kamen sie zu Hunderten, doch der Markgraf erfuhr davon und verlangte, dass jeder, der die lnsel betrat, einen Taler entrichten müsse, und da versiegte die Quelle wie durch Zauberhand. Eine Seherin weissagte, dass sie erst dann wieder sprudeln würde, wenn ein unschuldiges Kind die Erde betrete, und sie nur dann ihre heilende Kraft spenden würde, wenn edle Menschen diese gerecht und ohne Profit verteilen würden.«

Dr. Cornelius blickte auf. »Was sagst du dazu, Anne?«

»Es ist eine Sage. Soll man daran glauben, Johannes?«

»Ich bin kein Prophet, aber es gibt Wunder, Anne. Ich will mir jetzt Marios Bein anschauen.«

»Katja wird ihn inzwischen gewaschen haben«, sagte Anne. »Ich habe nur einen entsetzlich schmutzigen kleinen Mario gesehen, und der Kittel meines Mannes sieht auch nicht viel besser aus.«

»Den kann man mit Leitungswasser waschen, aber das andere werde ich genau untersuchen.« Er legte den Arm um sie, und gemeinsam gingen sie zu Mario.

»Brauche keinen Verband mehr, Katja«, sagte er eben. »Ist schön verheilt, guck mal.«

»Da kann man wirklich nur staunen«, sagte Katja. »Du hast gesundes Blut, Mario.«

»Bin wieder ganz heil, wenn Fee und Daniel Hochzeit machen«, verkündete der Kleine.

»Aber jetzt verrätst du mir mal, wo du herumgestrolcht bist«, verlangte Katja.

»Verrat ich nicht. Weiß nur Papi. Ist unser Geheimnis. Hat Papi gesagt.«

»Ihr zwei Geheimnistuer«, scherzte Katja. Und dann sah sie Anne und Johannes in der Türe stehen.

»Du machst aber auch jeden Blödsinn mit, Paps«, meinte sie belustigt.

»Gehe mit Papi wieder auf Entdeckung«, wisperte Mario. »Jetzt können wir frühstücken.«

Johannes und Anne tauschten einen langen Blick. Sie waren sich einig. Sie wollten nichts verraten, und für Mario war es eben nur ein Abenteuer gewesen, wie er es liebte.

*

Ahnungslos, welch ein wundervolles Hochzeitsgeschenk ihnen beschert werden würde, sehnten Daniel und Fee nun ihren großen Tag doch mit fieberhafter Spannung herbei. Einstweilen ging zwar alles noch seinen altgewohnten Gang, wollte man davon absehen, dass Katja Fee jeden Tag ins Gedächtnis rief, was es noch zu erledigen gab, aber jeder Tag, den sie aus dem Kalender streichen konnten, brachte sie einander näher.

Mussestunden kannte Daniel kaum noch, seit das Schild an der Praxis verkündete, dass sie vom fünfzehnten Oktober an für drei Wochen geschlossen bleiben würde. Es war gerade so, als wollten seine Patienten sich vorher von allen ihren Beschwerden befreien. Auch Molly kam kaum noch zum Schnaufen, so oft musste sie die Frage beantworten, warum denn der Doktor gerade in dieser Zeit Urlaub machen wolle, wo doch meistens Erkältungen und Grippe kursierten.

Aber warum sollte es ein Geheimnis bleiben, dass es nun bald eine Frau Doktor geben würde, die ihren Titel selbst auch erworben hatte.

Gewiss würde manch eine Patientin nicht mehr so oft kommen, die es mehr auf den attraktiven Mann abgesehen hatte als auf den Arzt im Dienst, vielleicht würde auch manch eine enttäuscht ganz wegbleiben, aber das störte weder Daniel noch Molly. Er hatte nie ein Modearzt sein wollen, dazu nahm er seinen Beruf viel zu ernst. Und jene, die bei ihm wahrhaft Hilfe gesucht und gefunden hatten, waren in der Mehrzahl. Sie würden sich nur freuen, wenn seine Fee ihm ab und zu mal zur Hand gehen würde.

Wie froh war er zu hören, dass Astrid Hollenbergs Genesung so schnelle Fortschritte machte und sie die Klinik nun schon bald verlassen konnte. Dann wollte sie sich mit ihrem Mann auf der Insel der Hoffnung erholen, um ganz frisch zu sein für die Hochzeit, die ihnen ins Haus stand.

Von August Brugger wurde kaum noch gesprochen. Verschiedene Firmen hatten sich zusammengeschlossen, um die Arbeitsplätze zu erhalten, und verschiedene Banken waren auch bereit, dabei Hilfe zu leisten. An Matthias Hollenberg war man dabei nicht herangetreten. Es kränkte ihn durchaus nicht.

Jörg war jetzt der Juniorchef, von allen respektiert und genauso gewissenhaft wie sein Vater und wie es schon der Großvater gewesen war.

Und so langsam sprach es sich auch herum, dass Trixi in nicht allzu ferner Zeit den Arzt heiraten würde, der ihre Mutter operiert hatte.

Was darüber getuschelt wurde, war ihr so gleichgültig wie Michael auch.

Gordon? Wer hatte den Namen schon gehört! Jene, die den Sinn des Lebens im Genießen sahen, die nach wie vor darauf bedacht waren, ihre Rolle in der Gesellschaft zu spielen, machten sich gar keine Gedanken darüber, was Neurochirurgie überhaupt hieß. Manch einer behauptete auch heute noch, dass Astrid Hollenberg nur geschauspielert hatte, um die Verlobung zu verhindern, nachdem man in letzter Minute Wind von dem Dilemma bekommen hatte, in dem August Brugger steckte.

Im Haus Hollenberg würden künftig keine glanzvollen Parties mehr stattfinden, das war beschlossene Sache. Das Geld, das dafür verwendet worden war, sollte jenen zugute kommen, denen das Geld für kostspielige Operationen fehlte, durch die doch so manches unersetzliche Leben gerettet werden konnte.

Matthias Hollenberg war überglücklich, als er seine Frau heimholen konnte. Jung und hübsch sah Astrid mit ihrem kurzgeschnittenen Haar aus.

»Von dir brauche ich mich ja nicht zu verabschieden, Michael«, sagte sie weich. »Aber ich möchte dir noch danken, von ganzem Herzen danken, dass ich mich an eurem Glück freuen darf.«

Ob es so viel Glück hätte geben können, wenn diese Operation nicht geglückt wäre? Wer wollte jetzt noch daran denken.

Dr. Cornelia Kuhlmann hatte Urlaub genommen. Sie würde nicht mehr zurückkehren an diese Klinik, und keiner trauerte ihr nach. Nun wussten schon alle, dass der Chefarzt bald eine ganz bezaubernde junge Frau haben würde, und sie freuten sich darüber, weil er nun recht oft zu einem Scherz bereit war und nicht mehr so verschlossen seiner Arbeit nachging.

Trixi war ein vertrauter und gerngesehener Besuch in der Klinik. Sie hatte alle Herzen gewonnen. Sie konnte wieder lachen.

Man schrieb den zehnten Oktober, als Astrid Hollenberg die Klinik verließ. Ihr war es, als wäre eine Ewigkeit vergangen seit jenem Tag, an dem sie hierher gebracht worden war.

Und schon zwei Tage später fuhr sie mit ihrem Mann zur Insel der Hoffnung. Michael, Trixi und Jörg folgten ein paar Tage später, um an der Hochzeit von Dr. Daniel Norden und Dr. Felicitas Cornelius teilzunehmen.

Für Lenchen war eine aufregende Zeit angebrochcn. Misstrauisch, wie sie nun einmal war, hatte sie bis zur letzten Stunde nicht daran geglaubt, dass tatsächlich nichts mehr dazwischenkommen würde.

»Jetzt geht es los, Lenchen«, sagte Daniel. »Worauf wartest du noch?«

Da machte sie sich aber flink auf die Beine, denn sie wollte gewiss nicht schuld sein, dass sie zu spät kommen würden.

Während der ganzen Fahrt saß sie mit gefalteten Händen. »Dass ich das noch erlebe, dass ich das noch erlebe«, sagte sie immer wieder.

»Reg dich nicht auf«, sagte Daniel, »reg dich bloß nicht auf.«

»Sagen Sie bloß nicht, dass Sie nicht aufgeregt sind. Mir kannst du nichts weismachen, mein Jungchen.«

Sie sah ihn wieder vor sich, wie er auf ihrem Schoß saß als kleiner Junge. Sie durchlebte die Jahre noch einmal, die sie ihn heranwachsen sah. Sie war zufrieden mit ihm. Und sie war stolz, dass er ein Mann geworden, der seinem Vater würdig war.

Ihr runzliges Gesicht strahlte, als Mario ihr entgegengestürmt kam. »Lenchen, mein Lenchen«, rief er, und dann tuschelten sie auch schon miteinander.

Daniel hatte auch etwas anderes zu tun, als sich um sie zu kümmern. Er nahm seine Fee in die Arme, er betrachtete sie, als sähe er sie zum ersten Mal.

»Du wirst immer schöner«, sagte er andächtig.

»Ihr habt lange Zeit für eure Flitterwochen«, sagte Johannes Cornelius, dem der Begrüßungskuss doch ein bisschen zu lange dauerte. »Zuerst einen guten Schluck zur Begrüßung, mein Junge.«

»Das ist ja Wasser«, sagte Daniel, als ihm sein Schwiegervater das Glas hinhielt.

»Aber was für Wasser«, sagte Johannes Cornelius feierlich. »Trink erst, dann wirst du von einem Wunder erfahren.«

Und er erfuhr die Geschichte von der Wunderquelle, nachdem er das Glas ausgetrunken hatte. Ein wenig ungläubig schaute er schon drein.

»Ich habe das Wasser untersucht«, sagte Dr. Cornelius. »Es hat eine ganz besondere Zusammensetzung. Es steht außer Zweifel, dass es Wunder bewirkt, Daniel. Schau dir Frau Hollenberg an. Du wirst sie nach diesen wenigen Tagen kaum wiedererkennen.«

Tatsächlich schien sie um Jahre verjüngt. Es war Matthias Hollenberg auch nicht zu verdenken, dass er verliebt in seine Frau war wie noch am Anfang ihrer Ehe.

»Wenn das wirklich stimmt, Paps«, sagte Daniel, »dann werden wir es aber hübsch für uns behalten, sonst ist es aus mit der Oase des Friedens.«

»Ja, mein Junge, und wir werden sparsam damit umgehen, wie es diesem kostbaren Nass gebührt.«

»Wenn Mario seine Entdeckung nicht preisgibt«, meinte Daniel skeptisch.

»Mario macht jeden Tag neue Entdeckungen«, lächelte Johannes, »und für ihn ist es jetzt nur wichtig, dass er auf eurer Hochzeit Blumen streuen darf.«

*

Die Quelle war nicht die einzige Überraschung, die den herrlichen Tag verschönen sollte. David Delorme war gekommen, der berühmte junge Pianist, den kein noch so verführerisches Angebot hätte davon abhalten können, dem jungen Paar den Hochzeitsmarsch zu spielen.

Katja hatte ihm geschrieben, aber sie hatte selbst daran nicht geglaubt, dass er sich freimachen könnte.

Errötend nahm sie die Rose entgegen, die er ihr brachte. In seinen Augen konnte sie die tiefe Zuneigung lesen, die er ihr entgegenbrachte, die ihr geholfen hatte, dem Rollstuhl zu entsteigen und ihm entgegenzugehen.

»David!«, sagte sie zärtlich.

»Katja!« Ihre Hände schlossen sich ineinander. Auch in ihren jungen Herzen war Glück. Ihre Wege würden wohl noch geraume Zeit auseinanderführen, aber für ein solches Wiedersehen lohnte sich das Warten, die Geduld, der Glauben an den andern.

Und so wurde Daniels und Fees Hochzeitstag zu einem Fest der Liebe. Alle hielten den Atem an, als sie am Arm ihres Vaters dem Mann entgegenschritt, dem sie Liebe und Treue geloben wollte. Es würden keine leeren Worte sein. So viel innere Bereitschaft, wie sich in den Gesichtern der beiden widerspiegelte, musste Tränen tiefster Rührung in die Augen jener drängen, die mit ganzem Herzen dabei waren, und das waren sie alle, die hier versammelt waren

Zärtlich beugte sich Michael zu Trixi herab und tupfte ihr die Tränen von den Wangen. Niemand sah es, dass sich ihre Lippen zu einem langen Kuss fanden, als auch das Brautpaar mit einem solchen ihr Jawort besiegelte. Bald würden auch für sie die Hochzeitsglocken läuten, die jetzt die ersten Schritte in das gemeinsame Leben von Dr. Daniel Norden und seiner Frau Felicitas begleiteten.

Hand in Hand verließen auch Dr. Jürgen Schoeller und Isabel Buntram die Kirche, gefolgt von Astrid und Matthias Hollenberg. Sie traten hinaus in den sonnigen Herbsttag. Ein frischer Wind hob Fees Schleier empor und schlang ihn um Daniel.

»So soll es sein«, sagte Lenchen leise und andächtig. »Das bedeutet Glück für ein ganzes Leben.«

»Hoffen wir, dass an unserem Hochzeitstag auch der Wind weht, Trixi«, sagte Michael.

»Oder Regen fällt«, flüsterte sie. »Das bedeutet auch Glück. Aber wir werden es auch so festhalten, Michael. Ich werde dir nie wieder davonlaufen.«

Daniel sagte nur: »Meine über alles geliebte Fee, nun bist du meine Frau.«

Nun hieß sie Felicitas Norden, und ein neues Kapitel ihres Lebens sollte beginnen.

– E N D E –

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