Читать книгу Dr. Norden Bestseller Paket 1 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 19
ОглавлениеFelicitas Norden träumte. Es war zuerst ein wunderschöner Traum. In duftige zartgrüne Schleier gehüllt, tanzte sie mit Daniel unter blühenden Bäumen. Um sie herum hatten Kinder einen Kreis gebildet. Ein kleines Mädchen hielt ihr eine Rose hin, doch bevor sie nach dieser greifen konnte, drängte sich ein großes Mädchen dazwischen und wollte etwas sagen.
Dann läutete das Telefon.
Das Telefon gehörte nicht in ihre Träume. Es stand auf ihrem Nachtschränkchen, immer griffbereit. Mechanisch griff Fee gleich danach.
»Norden«, meldete sie sich.
»Bitte, bitte, kommen Sie. Meine Mutter …« Die ferne junge Stimme erstickte in Schluchzen.
»Wer spricht da?«, fragte Fee nun gleich hellwach.
»Saskia Boerden.«
Den Namen Boerden kannte Fee. »Ja, Dr. Norden kommt«, sagte sie rasch.
»Dr. Norden kommt«, murmelte es neben ihr schlaftrunken.
»Schnell, Danny, mit Frau Boerden ist etwas«, sagte Fee laut.
Wenn sie ihren Mann dem Schlummer entreißen musste, nannte sie ihn »Danny«, damit ihm das Aufstehen wenigstens etwas versüßt wurde.
Dr. Daniel Norden sprang mit beiden Beinen gleichzeitig aus dem Bett. »Wahrscheinlich wieder ein Herzanfall«, murmelte er und war in Windeseile angekleidet. Fee jedoch auch.
»Ich komme mit, da war ein Kind am Telefon«, sagte sie.
»Ein Kind? Ich wüsste nicht, dass Frau Boerden ein Kind hat«, sagte Daniel verwundert.
»Saskia. Sie sagte ›meine Mutter‹. Es wäre ja fatal, wenn es noch eine Frau Boerden gäbe.«
»Zu meinen Patientinnen zählt nur eine«, wurde sie von ihrem Mann beruhigt. »Ja, warum sollte sie kein Kind haben. Sie war bisher immer in der Praxis. Sie hat mich nie ins Haus geholt.«
Sie fuhren mit dem Lift abwärts in die Tiefgarage, und bald darauf waren sie auf der Straße, die westwärts führte.
Nachtdunkel war sie und still. Man konnte sich nicht vorstellen, dass sich schon eine Stunde später ein nicht abreißender Autostrom über sie ergießen würde.
»Ist sie schon länger deine Patientin?«, fragte Fee, die zwar den Namen aus der Kartei kannte, aber nicht Frau Evelyn Boerden persönlich.
»Etwa ein Jahr.«
»Wie alt?«
»Vierzig, verwitwet und schwer herzkrank«, erwiderte Daniel. »Und sehr vermögend.«
Das verriet auch der komfortable Bungalow, vor dem sie hielten, und der für eine alleinstehende Frau wohl doch zu geräumig gewesen wäre.
Es war jetzt halb sechs Uhr, und der Frühlingsmorgen begann zu erwachen. Ein junges Mädchen in zartgrünem Morgenmantel öffnete die Tür.
Es zitterte am ganzen Körper und deutete nur mit der Hand auf eine Tür, auf die Dr. Norden nun schnell zuging. Fee nahm sich des Mädchens an.
»Beruhigen Sie sich doch«, sagte sie.
»Es ist schrecklich. Ich habe so etwas noch nicht erlebt«, flüsterte das Mädchen Saskia.
Fee schätzte sie auf achtzehn Jahre. Sie war neunzehn, wie sie dann erfuhr. Mit einem Ohr lauschte Fee allerdings zu dem Zimmer hinüber.
Dr. Norden konnte nicht viel für Frau Boerden tun. Er hatte ihr eine Spritze gegeben, aber ihr Zustand war bedenklich. So bedenklich, dass er schnellstens die Behnisch-Klinik angerufen hatte. Evelyn Boerden hatte das Bewusstsein verloren.
Saskia hatte Fee gerade erzählt, dass sie erst zwei Tage hier sei, als er aus dem Zimmer kam.
»Der Krankenwagen wird gleich kommen«, sagte er. »Ihre Mutter muss schleunigst in die Klinik, Fräulein Boerden.«
Entsetzt sah ihn das Mädchen an. »Ich soll mit ihm allein bleiben in dem Haus? Mit diesem Mann. Nein!«
Sie schrie es fast, und da kam aus einer Tür am Ende des Ganges ein Mann im roten Schlafrock.
Er musste schon einen sehr tiefen Schlaf haben, wenn er bei all diesen Geräuschen nicht erwacht war. Er sah eigentlich nicht übel aus, aber er war Fee schon deshalb unsympathisch, weil er so unwillig fragte: »Was ist denn hier los?«
Den Ton mochte Daniel nun auch gar nicht. »Ein schwerer Krankheitsfall«, erwiderte er eisig.
Saskias kleine Hand verkrampfte sich in Fees Ärmel. »Bitte, ich möchte mit zur Klinik«, flüsterte sie. Aber Fee ahnte, dass sie vor allem nicht hier bei diesem Mann bleiben wollte.
»Ich nehme Sie mit, Saskia«, sagte sie.
Der Mann war nähergekommen. Er mochte etwa vierzig sein und machte den Eindruck, als hätte er die Nacht durchgefeiert.
»Mein Name ist van Reyken«, stellte er sich jetzt vor. »Ich teile die Wohngemeinschaft mit Frau Boerden. Was fehlt ihr? Wieder eine Herzattacke? Ja, es ist wohl das Beste, wenn sie in klinische Behandlung kommt. Ich habe ihr das schon immer empfohlen.«
»Ich nehme Fräulein Boerden mit«, sagte Fee zu ihrem Mann. Sie wollte das Mädchen schnell wegbringen, da sie instinktiv noch einen Zwischenfall fürchtete.
In aller Eile hatte sich Saskia angekleidet. Sie trug jetzt eine graue Hose und einen grünen Pulli. Vielleicht war grün ihre Lieblingsfarbe, doch darüber dachte Fee jetzt nicht nach.
»Bring sie zu uns«, raunte Daniel seiner Frau leise zu. Sein Blick besagte, dass er für Evelyn Boerdens Schlimmes fürchtete. Fee konnte ihm fast alles von den Augen ablesen, so gut waren sie aufeinander eingespielt.
Sie sagte es Saskia erst im Wagen. »Mein Mann bringt Ihre Mutter in die Klinik, und Sie kommen mit zu uns, Fräulein Boerden.«
»Sagen Sie doch Saskia«, bat das Mädchen. »Ich danke Ihnen sehr.«
Während der Fahrt stellte Fee keine Fragen, und Saskia sagte nichts. Im Lift standen sie sich dann gegenüber, beide fast gleich groß. Erst jetzt, in dem hellen Neonlicht, bemerkte Fee, dass dieses Mädchen von einem ungewöhnlichen exotischen Reiz war, fremdländisch wie ihr Name. Blauschwarzes Haar umrahmte ein hellbraun getöntes Gesicht, mandelförmige dunkelbraune Augen blickten melancholisch durch einen Schleier sehr dichter, langer tiefschwarzer Wimpern. Wunderschöne, wohlgeformte Hände strichen nervös über das Gesicht und durch das Haar. Sie sah Fee mit einem Blick an, in dem aller Schmerz der Welt lag.
»Muss meine Mutter sterben?«, fragte sie bebend.
Ganz eigentümlich sprach sie das Wort Mutter aus, mit einer fast unheimlichen, rätselhaften Ausdruckskraft.
Es konnte daran auch der leichte fremdländische Akzent schuld sein, der Fee vermuten ließ, dass sie in einem französisch sprechenden Land aufgewachsen war.
Trotz ihres jetzt saloppen Anzuges waren ihre Bewegungen voller Grazie. Fee war ihr eine Antwort schuldig geblieben, und als sie nun die Wohnung betraten, ruhten die wunderschönen Augen des Mädchens wieder fragend auf ihr.
»Es wird bestimmt alles für Ihre Mutter getan, was menschenmöglich ist«, sagte Fee leise. »Mein Mann bringt sie in eine Klinik, mit dessen Chefarzt wir befreundet sind. Sie wird dort in den allerbesten Händen sein.«
»Ich glaube, das alles hilft nicht viel, wenn ein Mensch nicht mehr leben will«, sagte Saskia leise.
Fee kroch ein Frösteln über den Rücken. Sie ergriff Saskias Hand. »Ihre Mutter hat Sie«, sagte sie verhalten.
»Zu kurz und zu spät«, sagte Saskia voller Trauer.
Fee öffnete die Tür, die zur Dachterrasse führte. »Ich mache uns einen Tee«, sagte sie.
Saskia trat durch die Tür hinaus ins Freie. »Über den Dächern einer großen Stadt«, sagte sie vor sich hin. Sie sang es fast, und Fee dachte an ein Lied, das so begann.
Sie ging in die Küche und setzte Teewasser auf in dem kupfernen Samowar. Sie wusste selbst nicht, warum sie nicht Kaffee kochte. Irgendwie schien es ihr, als gehöre dieser Samowar oder ein ähnlicher auch zu ihrem Traum.
Und als sie ihn dann auf dem Servierwagen hereinbrachte, stand Saskia in der Tür und sah den Samowar mit verschleierten Augen an.
»Eigenartig«, sagte sie, »wie in der Heimat meines Vaters.« Vielleicht erwartete sie eine Frage, doch diese blieb aus.
Fee war eingefangen in einen fremden Zauber, gefangen auch noch in einem Traum, von dem nur ein Teil in ihrer Erinnerung geblieben war, den sie jetzt aber von sich weisen wollte, weil sie sich einredete, dass ihr dieses Mädchen im Traum erschienen sei.
»Mein Vater war ein persischer Fürst«, sagte Saskia geistesabwesend.
Dann blickte sie rasch auf und fuhr sich über die Augen. »Mein Gott, Sie werden denken, ich erzähle Märchen.«
»Nein, das denke ich nicht«, sagte Fee, und für sich dachte sie, dass Saskia wie eine orientalische Prinzessin aussähe und nicht einen Deut anders, auch jetzt noch in Hose und Pulli. Nur der Name Boerden wollte nicht dazu passen.
»Sie werden jetzt ja doch alles erfahren«, fuhr Saskia fort. »Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie mich mitgenommen haben, gnädige Frau.«
»Felicitas Norden«, sagte Fee lächelnd.
»Meine Mutter war zweimal verheiratet«, sagte Saskia. »In erster Ehe mit dem Fürsten Edjali, doch die Ehe bestand nur ein Jahr, bis ich geboren wurde. Ich war nur ein Mädchen. Sie ging mit mir zurück in die Heimat. Die Scheidung war so schnell ausgesprochen wie die Eheschließung. Drei Jahre später heiratete meine Mutter Magnus Boerden. Er war mein eigentlicher Vater. Er adoptierte mich, und ich liebte ihn sehr. Er wurde ermordet, als ich zehn Jahre alt war. Es hieß, dass es ein Jagdunfall gewesen wäre, aber ich weiß, ebenso wie meine Mutter, dass er ermordet wurde. Sie hatte Angst um mein Leben und brachte mich nach Frankreich, in die Bretagne. Dort wuchs ich in einem Internat auf. Ich war acht Jahre dort und bin seit zwei Tagen hier. Ich hatte Sehnsucht nach meiner Mutter. Sie ist doch der einzige Mensch, der mir nahesteht. Und dann fand ich diesen Mann im Hause vor, einen Mann, vor dem meine Mutter sich stets fürchtete, allein schon vor seinem Namen. Und er wohnte im selben Haus wie sie. Das ist mir noch immer ein Rätsel. Ich erzähle Ihnen das, Felicitas Norden, damit es ein Mensch weiß, falls mir etwas zustoßen sollte.«
Das sagte sie jetzt ganz ruhig. Fee hatte schon gespürt, dass sie mit jedem Wort ruhiger geworden war und war erleichtert gewesen, doch nach diesen letzten Worten erschrak sie zutiefst. Entsetzt sah sie das Mädchen an.
»Saskia«, stammelte sie.
»Sie denken, ich rede Unsinn. Sie meinen, dass ich verwirrt sei. O nein. In meinen Adern fließt auch orientalisches Blut, wenn es mir auch verhasst ist. Aber Orientalen haben einen anderen Instinkt als Europäer, sie haben manchmal auch so etwas wie einen sechsten Sinn. Meine Mutter hat sich gefürchtet in diesem Land, in dem sie kurze Zeit leben musste. Sie war sehr jung und sehr romantisch, als sie den Fürsten heiratete, und sie war sehr schön. Ich bin nur jung«, erklärte Saskia.
Und wunderschön, dachte Fee, aber sie sprach es nicht aus, weil sie spürte, dass dieses seltsame Mädchen solche Worte nicht hören wollte.
»Ihnen wird niemand etwas zuleide tun«, sagte sie impulsiv. Sie stehen unter unserem Schutz.«
»Glauben Sie, dass ich Menschen in Gefahr bringen würde, die gut zu mir sind? O nein.« Saskia nippte an dem Tee. »Er ist köstlich. Sie sind eine vollkommene Frau«, sagte sie.
»O nein«, widersprach nun auch Fee. »Welcher Mensch ist wohl vollkommen?«
»Gute Menschen sind für mich vollkommen«, sie faltete die Hände, »meine Mutter ist ein armer verwirrter Mensch. Sie verschwendete ihre erste Liebe an einen Mann, für den sie ein Spielzeug war und dem sie einen Sohn gebären wollte. Sie heiratete einen zweiten, weil sie einen Beschützer brauchte und erkannte dann, dass er ihre große Liebe war. Er wurde ihr genommen. Sie lebt eigentlich schon lange nicht mehr.« Saskia blickte auf ihre Armbanduhr. »Ich weiß es seit einer Stunde«, fuhr sie sehr leise fort. »Ich habe große Schmerzen, sagte sie, aber gestorben bin ich schon vor neun Jahren. Ich möchte jetzt sehr gern bei meiner Mutter sein, Felicitas Norden.«
»Wir fahren zur Klinik«, sagte sie.
Der Hauch eines Lächelns legte sich um Saskias Mund. »Sie stellen keine Fragen. Es ist wunderbar. Ich habe noch niemals so mit einem Menschen sprechen können.«
*
»Da kann man nicht viel mehr tun als warten und hoffen, Daniel«, sagte Dr. Dieter Behnisch zu seinem Freund. »Es ist nicht das Herz allein.«
»Was noch?«, fragte Daniel.
»Knoten in der Brust. Sie brauchen nicht bösartig zu sein, aber wenn die Untersuchung es ergibt, könnte man sie nicht einmal mehr operieren. Eine Vollnarkose würde das schwache Herz nicht überstehen.
»Und Akupunktur?«
Dr. Behnisch zuckte die Schultern. »Das müsste ein anderer machen. Ich traue es mir nicht zu. Außerdem ist ihre Lebenserwartung auch dann so gering, dass man sie nicht quälen sollte. Ich kenne dich. Du wirst sagen, dass man sie doch nicht einfach sterben lassen kann, aber vielleicht will sie gar nicht mehr leben?«
»Sie hat eine Tochter.«
Und in diesem Augenblick kamen Fee und Saskia.
Fast hörbar zog Dr. Behnisch die Luft ein.
»Saskia möchte bei ihrer Mutter sein«, sagte Fee schlicht. Ihr Blick suchte Halt bei Daniel.
»Dem steht wohl nichts im Wege, Dieter«, sagte er schnell.
»Nein.«
»Danke«, sagte Saskia höflich.
Sie wurden von den beiden Ärzten zu einer Tür begleitet, die die Nummer neunzehn trug. Wieder fröstelte es Fee. Genauso alt war Saskia.
Das Mädchen sah sie aus weit offenen Augen an. »Ich weiß, was Sie denken, Felicitas Norden. Haben Sie tausend Dank.«
»Sie werden zu uns kommen, Saskia«, sagte Fee.
»Ich muss meinen Weg gehen«, erwiderte das Mädchen. Dann beugte sie sich vor und küsste Fee auf die Wange. Kurz darauf schloss sich die Tür des Krankenzimmers hinter ihr.
»Wache oder träume ich?«, fragte Dieter Behnisch.
»Vor allem scherze nicht, Dieter«, sagte Fee. »Mir ist nämlich zum Weinen zumute.«
Daniel legte den Arm um sie und zog sie an sich.
Dieter starrte zu Boden.
»So war das nicht gemeint, Fee«, sagte er. »Sie scheint einem Märchen aus Tausendundeiner Nacht entstiegen zu sein.«
»Ist sie auch in gewissem Sinne. Das ungewöhnlichste Mädchen, das mir je begegnet ist. Es darf niemand an sie heran, Dieter. Sie ist in Gefahr. Sie fühlt es, und ich fühle es auch. Ich werde euch alles erzählen.«
»Eine Viertelstunde habe ich noch Zeit«, sagte Dieter Behnisch.
»Für uns beginnt der Tag auch bald richtig«, warf Daniel ein.
»Ich werde mich beeilen«, sagte Fee.
Indessen hatte Saskia am Bett ihrer Mutter Platz genommen. Ganz still saß sie mit gefalteten Händen und blickte in das leidvolle Gesicht, das auch jetzt noch Spuren einstiger Schönheit zeigte.
*
Die beiden Ärzte waren tief beeindruckt gewesen von dem, was sie von Fee gehört hatten. Dr. Behnisch war ganz blass geworden. Bei ihm fiel das sehr auf, weil er immer eine frische Farbe hatte.
»Ich werde höllisch auf die Prinzessin aufpassen«, sagte er.
»Aber nicht verraten, dass ich geschwatzt habe«, bat Fee.
»Das war wichtig, und was wichtig ist, ist kein Geschwätz«, meinte Dieter. »Aber ich kann sie nicht festbinden. Und weiß man denn, ob dieser Reyken nicht so ein Bursche ist, der das ganze Haus ausräumt?«
Ja, dieser Reyken war eine rätselhafte, und wie Fee meinte, auch gefährliche Figur in diesem Drama. Aber unternehmen konnte man nichts.
Unterwegs hatte Fee dann eine Idee. »Du hast doch neulich diesen netten Privatdetektiv behandelt, Daniel«, sagte sie nachdenklich.
»Edwin Pichler?«
»Ja, behandelst du noch mehr Detektive?«
»Seinen Partner auch. Kurti Schnell. Isabel nennt ihn Kurti.«
»Das soll sie nur Jürgen nicht hören lassen«, meinte Fee.
»Ach was, Kurti ist so breit wie lang, und der eifersüchtigste Mann könnte nichts Gefährliches an ihm entdecken.«
»Einer von den beiden könnte doch mal so ein paar Informationen über diesen Reyken einholen«, sagte Fee.
»Wir müssen Saskia einfach helfen, auch wenn sie sich nicht helfen lassen will.«
»Du machst es schon richtig, Liebling«, sagte Daniel. »Nimm du es in die Hand. Ich habe heute massig zu tun. Plötzlich wollen alle Frauen Mammographien machen lassen. Wenn eine Präsidentenfrau an Brustkrebs operiert wird, ist es anregender, als wenn man sachlich auf Vorsorgeuntersuchungen hinweist.«
Er dachte plötzlich an die Diagnose, die Dieter über Evelyn Boerden gestellt hatte. Davon hatte er Fee noch nichts gesagt, und er wollte es vorerst auch für sich behalten.
Ihn als Arzt erschreckte es auch, wie viele Frauen solche Leiden hatten und wie schnell sie ihnen den Tod bringen konnten, wenn etwas übersehen wurde.
Molly war schon fleißig bei der Arbeit, als sie in die Praxis kamen, aber Fee musste wieder einmal hören, dass dies alles Patienten für den Herrn Doktor waren, die im Wartezimmer saßen.
Fee nahm es mit Humor, Helga Moll nicht sosehr, aber heute war Fee gar nicht darüber bedrückt.
»Ich fahre hinauf in die Wohnung. Habe noch einiges zu erledigen«, sagte sie zu Molly. »Wenn ich doch noch gebraucht werden sollte, rufen Sie mich.«
Sie wurde von Lenchen empfangen.
»Nanu, was ist denn heute wieder los?«, fragte das schwerhörige, aber noch immer hurtige Lenchen. »Tee hat man schon getrunken, und weg aus dem Haus ist man zu nachtschlafener Zeit. Werdende Mütter sollen länger ruhen.«
»Ich trage mich noch nicht schwer an dem winzigen Etwas«, erwiderte Fee in munterem Ton, um Lenchen nicht Anlass zu weiteren Ermahnungen zu geben. »Wir mussten eine Patientin in die Klinik bringen, Lenchen.«
»Früher hat der Doktor das auch allein gekonnt, aber jetzt macht er ja rein gar nichts mehr ohne seine Frau.«
»Ist doch schön, Lenchen«, sagte Fee. Dann ging sie zum Telefon.
»Kein Kaffee?«, rief Lenchen laut.
»Doch, den könnte ich jetzt schon brauchen.« Damit war das gute Lenchen beruhigt.
Während Fee die Nummer von Edwin Pichler heraussuchte, dachte sie unwillkürlich wieder an ihren Traum, und während sie die Nummer gewählt hatte und auf das Freizeichen wartete, betrachtete sie den Samowar.
Seltsam war es, dass sie im Traum unterschwellige Assoziationen zum tatsächlichen Geschehen fand. Aber vielleicht spielte ihr doch die Fantasie einen Streich.
Endlich klang nach dem ›bitte warten‹ eine Männerstimme an ihr Ohr. Eine gemütliche Stimme, so ein bisschen schläfrig, aber sofort hellwach, als sie ihren Namen nannte.
»Ich hätte Sie gern in einer dringenden Angelegenheit gesprochen, Herr Pichler«, sagte Fee. »Könnten Sie bitte zu uns kommen? – Ja, das ist fein. In die Privatwohnung bitte.«
Der Name Norden schien Herrn Pichler zu beflügeln, denn schon zehn Minuten später war er da. Er versicherte, dass er gern mit einer so bezaubernden Frau Kaffee trinken würde.
Er war lang und dünn, hatte abstehende Ohren und eine Glatze. Fee war sicher, dass ihr eifersüchtiger Daniel nichts dabei finden würde, dass sie Herrn Pichler zu einer Tasse Kaffee eingeladen hatte.
Er ließ es sich schmecken, während sie ihm ihr Anliegen vortrug, dabei aber so wenig wie möglich von Saskia erwähnend.
»Anatol van Reyken?«, fragte Edwin Pichler ganz nebenbei.
Fee sah ihn verwundert an. »Seinen Vornamen kenne ich nicht«, sagte sie.
»Wenn es sich um den van Reyken handelt, kann ich Ihnen bald einiges Material vorlegen, Frau Doktor. Da haben wir vor acht Wochen für einen anderen Klienten Ermittlungen angestellt.«
Nun war Fee doch neugierig, aber bevor sie eine Frage stellen konnte, erklärte Edwin Pichler: »Allerdings kann ich über den Klienten keine Auskunft geben. Das ist Berufsgeheimnis. Aber Auftrag ist Auftrag, und was kann ich dafür, wenn zwei Klienten Auskunft über den gleichen Mann haben wollen.«
»Vielleicht sind es zwei verschiedene«, meinte Fee. »Der Vorname passt nicht zum Nachnamen, finde ich.«
»Der Vater war Holländer, die Mutter Perserin. Ich werde mich sofort auf die Beine machen.«
Die Mutter war Perserin!, klang es in Fees Ohren. Wie seltsam. Sie war sicher, dass es der richtige van Reyken war. Aber welche Rolle spielte er in Evelyn Boerdens Leben?
Da war sie nun mittendrin in einer merkwürdigen Geschichte um eine zauberhafte Prinzessin. Ja, so stellten sich wohl romantische kleine Mädchen ein Prinzeßchen vor.
Wie nüchtern Saskia von ihrem Vater gesprochen hatte, wie liebevoll verhalten von dem andern, der ihr dann Vater geworden war.
War er wirklich ermordet worden, oder hatten sich das Mutter und Tochter in ihrem Schmerz nur eingeredet, weil sie es nicht begreifen wollten, dass er nicht mehr bei ihnen war?
Eigentlich hätte ich Herrn Pichler auch bitten sollen, ein paar Erkundigungen über Magnus Boerden einzuziehen, ging es Fee durch den Sinn. Ob das große Vermögen der Frau Boerden von ihm stammte?
Viele Fragen standen offen, wie in einem spannenden Krimi, aber Fee dachte dann auch für sich, dass Daniel bestimmt nicht erpicht darauf wäre, schon wieder einmal in einen Fall verwickelt zu werden, in dem die Polizei mitspielte.
Sie rief jetzt schnell in der Behnisch-Klinik an und bekam Dr. Jenny Lenz an den Apparat, die von Dr. Behnisch eingeweiht worden war. Er konnte das unbesorgt tun, denn zwischen den beiden herrschte ein großes Vertrauensverhältnis. Außerdem war Jenny Lenz sehr verschwiegen.
Saskia war noch in der Klinik. Jenny hatte kurz mit ihr gesprochen. Sie sagte, dass Saskia wohl bleiben würde.
Was aber ging indessen in der Villa Boerden vor? Zu gern hätte Fee das gewusst. Aber sie war völlig ahnungslos, dass währenddessen drunten in der Praxis dieser rätselhaften Geschichte schon ein weiteres Kapitel zugefügt wurde, ohne dass Daniel einen Zusammenhang erkennen konnte.
Molly sah die Fremde, die gegen zehn Uhr kam, forschend an. Sie war noch nie in der Praxis gewesen. Molly hatte ein gutes Personengedächtnis, und eine solche Erscheinung konnte man auch kaum vergessen.
Diese Frau, hochgewachsen, schwer schätzbaren Alters, slawisch geschnittenem Gesicht, schmalen Katzenaugen, auffallend elegant gekleidet, beeindruckte Molly durch ihre große Liebenswürdigkeit. Mit rauchiger Stimme bat sie darum, nicht lange warten zu müssen, da sie Dr. Norden nur um ein Rezept bitten wolle. Sie sei auf der Durchreise und hätte einen schweren Migräneanfall.
Nun ja, das könnte der Doktor wohl schon mal einschieben, dachte Molly, die wie hypnotisiert war von dem Blick der Katzenaugen. Sie hätte später nicht mehr sagen können, warum sie zu einer Ausnahme bereit gewesen war.
Dr. Norden selbst allerdings auch nicht.
Tatjana Anatol nannte sich die Fremde, und sie wusste auch, welches Mittel sie verschrieben haben wollte. Sie zeigte Dr. Norden die Packung.
»Ein sehr starkes Mittel«, stellte er fest. »Dafür bin ich nicht sosehr, wenn man unterwegs ist. Ans Steuer dürfen Sie sich nicht setzen.«
»Ich habe meinen Chauffeur«, erwiderte sie liebenswürdig.
Dr. Norden registrierte im Unterbewusstsein, dass diese Liebenswürdigkeit nicht zum Ausdruck ihrer Augen passte, aber was sollte er sich Gedanken machen? Er würde sie kaum wiedersehen. Dem Rauschgiftgesetz unterlagen diese Kapseln nicht, also hatte er auch da nichts zu fürchten.
»Eine starke Migräne hat immer eine tiefere Ursache«, sagte er jedoch. »Ich würde diese an Ihrer Stelle ergründen lassen.«
»Es ist noch kein Arzt darauf gekommen«, erwiderte sie, »aber wenn ich wieder hierherkomme, werde ich mich in Ihre Behandlung begeben. Vielleicht gehören Sie zu den seltenen Ausnahmen, die eine richtige Diagnose stellen können.«
»Eine kleine Untersuchung müssen Sie sich aber doch gefallen lassen«, sagte Dr. Norden. »Wenn Sie nämlich herzkrank sind, kann ich Ihnen diese Tabletten guten Gewissens nicht verschreiben.«
»Nein, herzkrank bin ich nicht«, erwiderte sie mit einem eigentümlichen Auflachen, an das er sich später erinnerte. Davon war auch nichts festzustellen. Migräne war ebenfalls schwer zu diagnostizieren. Er schrieb ihr das Rezept aus, und sie bestand darauf, die Beratung sofort zu bezahlen. In einer Versicherung sei sie sowieso nicht.
Tatjana Anatol verabschiedete sich wieder. Dr. Norden wandte sich seinen anderen Patientinnen zu.
Fee sah die Fremde, als sie aus dem Lift stieg, in den diese nun einstieg, nachdem Fee ihn verlassen hatte.
»Eine neue Patientin?«, fragte sie Molly, als sie die Praxis betrat.
»Nur auf der Durchreise«, erwiderte Molly. »Sie wollte nur ein Rezept.«
Eigentlich hätte Fee nun nicht weiter darüber nachdenken müssen, aber dann sah sie die Karte, die Molly gewissenhaft ausgefüllt hatte, denn selbst dann, wenn jemand nur ein Rezept haben wollte, musste ein Beleg über den Besuch vorhanden sein. Da gab es gar nichts.
Molly war überaus korrekt.
»Anatol«, sagte Fee gedankenvoll. »Wie seltsam!«
*
Edwin Pichler hatte sich auf den Weg zur Villa Boerden gemacht. Da er Anatol von Reyken nie persönlich begegnet war, konnte er das ruhig wagen.
Er läutete und musste sich nun einige Zeit gedulden. Dann jedoch öffnete ihm van Reyken selbst die Tür.
Eine Fotografie hatte Edwin Pichler schon von ihm gesehen. Er erkannte ihn sofort als den Mann, über den er bereits Auskünfte eingezogen hatte, die allerdings mit dem Namen Boerden nicht in Zusammenhang gestanden hatten.
»Sie wünschen?«, fragte van Reyken.
»Stiebel ist mein Name«, sagte Edwin Pichler. »Ich möchte zu Frau Boerden.«
»Frau Boerden ist erkrankt. In welcher Angelegenheit kommen Sie?«
Lauernd musterten ihn die zusammengekniffenen Augen.
»In einer geschäftlichen«, erwiderte Edwin Pichler. »Tut mir leid, dass Frau Boerden erkrankt ist. Schwer?«
»Ziemlich. Sie liegt in der Klinik.«
»In welcher?«
»Wenn Sie mir sagen, worum es sich handelt, werde ich Ihnen sagen, in welcher Klinik sie liegt«, erwiderte van Reyken sarkastisch.
»Tut mir leid, einer dritten Person kann ich keine Auskünfte geben. Frau Boerdens Tochter ist auch nicht zu Hause?«
Van Reyken starrte ihn an. »Woher wissen Sie von Frau Boerdens Tochter?«, fragte er erregt.
»Dürfte ich es nicht wissen?«, fragte Edwin Pichler ironisch. Dann drehte er sich um, aber Reyken packte ihn am Arm.
»Vielleicht zeigen Sie mir mal Ihren Ausweis«, stieß er hervor.
»Sind Sie von der Polizei?«, fragte Edwin Pichler grinsend. »Wer sind denn Sie überhaupt?«
Reyken ließ ihn los, schob ihn hinaus und schlug die Tür zur.
Edwin Pichler machte das nichts aus. Erst einmal hatte er genug erfahren. Reyken war derjenige, den er vermutet hatte. Er wohnte hier, obgleich ein anderer ihn in in Wien vermutete. Das war äußerst interessant. Durch Zufall hatte er da eine seltsame Verbindung gefunden, über die er sich Gedanken machen musste. Er beschloss, seinen früheren Auftraggeber aufzusuchen, der ihm wohlbekannt war und so überaus seriös, dass man ihm keine unreellen Geschäfte zutrauen konnte.
Sicher lohnte es sich, diesen Reyken zu beobachten, aber das sollte Kurti übernehmen. Edwin Pichler nannte seinen Kompagnon auch Kurti.
Immerhin aber wäre es für ihn sehr interessant gewesen, Reyken gleich beobachten zu lassen, denn er verließ eine halbe Stunde später das Haus und fuhr mit seinem amerikanischen Straßenkreuzer in die Stadt, wo er sich mit jener Frau treffen wollte, die sich bei Dr. Norden Tatjana Anatol genannt hatte.
*
Saskia rührte sich nicht vom Bett ihrer Mutter. Schwester Doris, ein freundliches junges Mädchen, hatte ihr Kaffee gebracht und Gebäck, aber Saskia hatte beides noch nicht angerührt.
Sie wartete sehnsüchtig, dass ihre Mutter die Augen aufschlagen würde, mit der Angst in ihrem jungen Herzen, dass dies nie mehr sein könnte. Doch ihr stilles Flehen wurde erhört.
Gegen Mittag kam Evelyn Boerden zu sich.
Zärtlich streichelte Saskia ihre Hände. »Mutter, liebste Mutter«, flüsterte sie.
»Aimée«, hauchte Evelyn Boerden. Es war ihr Kosename für ihr Kind. Ihre durchscheinenden Augenlider flatterten, und als sie sich dann endlich hoben, blickte Saskia in fiebrig glänzende Augen.
»Wo bin ich?«, fragte Evelyn.
»In der Behnisch-Klinik. Dr. Norden hat dich hergebracht. Du hattest einen schlimmen Herzanfall.«
»Es ist nach den Tabletten noch schlimmer geworden«, sagte Evelyn geistesabwesend. »Ich wollte dich nicht erschrecken. Früher haben sie immer geholfen.«
Saskia wusste nicht, wovon ihre Mutter sprach, aber sie merkte sich alles.
Sie wollte mit Dr. Behnisch und Dr. Norden über diese Tabletten sprechen.
»Es wird dir bald wieder bessergehen«, sagte sie tröstend.
»Kind, mein Liebes, ich habe nicht mehr viel Zeit. Ich muss dir noch manches sagen, aber ich bin so müde. Wende dich an Dr. Camphausen, wenn ich keine Kraft mehr habe. Sprich mit Reyken kein Wort.«
»Warum wohnt er in deinem Haus, Mutter?«, fragte Saskia flehend.
»Ich weiß es nicht.«
Saskia glaubte nicht richtig zu hören. »Du weißt es nicht?«, fragte sie.
»Nein, ich weiß es nicht«, erwiderte ihre Mutter monoton. Und die wenigen Worte, die sie gesprochen hatte, schienen schon wieder zu viel für sie gewesen zu sein.
Angsterfüllt drückte Saskia auf die Glocke, und gleich kam Dr. Jenny Lenz. Sie fragte nicht viel, sondern verabreichte der Kranken erneut eine Injektion.
»Meine Mutter war bei Bewusstsein«, erklärte Saskia. »Wir konnten einige Worte miteinander sprechen. Sie sagte etwas von Tabletten, die ihr sonst geholfen hätten, aber diesmal sei es noch schlimmer geworden.«
»Welche Tabletten?«
»Ich weiß es nicht. Dr. Norden wird sie ihr wohl verschrieben haben.«
»Dann werden wir es erfahren. Aber Dr. Norden hat ihr gewiss kein Medikament verschrieben, das ihr schaden könnte. Dass Ihre Mutter sehr krank ist, wissen Sie nun schon, Fräulein Boerden.«
»Ja, ich weiß es. Wäre ich nur früher gekommen, aber Mutter …«, sie unterbrach sich. Was ging es andere an, dass ihre Mutter sie eindringlich gebeten hatte, noch nicht zu kommen.
Hing das mit Reyken zusammen? Was sollte diese unerklärliche Antwort bedeuten, dass sie nicht wüsste, warum er in ihrem Hause wohnte? Saskia hatte einen scharfen Verstand. Man hatte ihr im Reifezeugnis eine überdurchschnittliche Intelligenz bescheinigt, aber in manchen Dingen war ihre Intuition noch stärker als ihre Intelligenz.
Sie hatte Reyken in den wenigen Tagen, die sie im Hause ihrer Mutter weilte, nur selten gesehen und überhaupt nicht mit ihm gesprochen. Irgendetwas lehnte sich von Anfang an in ihr gegen ihn auf. Und das nicht nur, weil er einen despotischen Ton ihrer Mutter gegenüber angeschlagen hatte und sie sich ihm gegenüber fast unterwürfig benahm.
Saskia hatte ihre Mutter gefragt, wer dieser Mann sei. »Er heißt Anatol und ist mein Freund«, hatte ihre Mutter erwidert. In welch einem eigentümlichen Tonfall hatte sie es doch gesagt! Saskia grübelte darüber nach, weil das, was ihre Mutter eben gesagt hatte, nicht zu dieser Antwort passte.
Nun saß sie wieder still da und ließ ihre Gedanken in die Vergangenheit wandern. Erst nach dem Tode von Magnus Boerden hatte sie von ihrer Mutter erfahren, dass er nicht ihr richtiger Vater gewesen sei. An ihre frühe Kindheit hatte sie keinerlei Erinnerung, jene ausgenommen, dass sie in einem warmen südlichen Land gelebt hatte. Ihre Mutter hatte ihr später erzählt, dass dies die Insel Korsika gewesen sei, und dass sie dort Magnus Boerden kennengelernt hätte.
An ihn konnte sich Saskia genau erinnern. Sie hatte ihn abgöttisch geliebt. Er hatte ihr wunderschöne Geschichten erzählt, war mit ihr viel herumgelaufen und hatte ihr alles erklärt, was in der Natur vor sich ging. Sie hatten dann in einem hübschen Haus in den Bergen gelebt, in der genau richtigen Höhenlage, die der zarten Gesundheit ihrer Mutter am zuträglichsten war.
Und dort war es dann geschehen, dass er von einer Fahrt in die nahe Stadt nicht zurückgekommen war.
»Ich möchte gerne mitfahren, Papi«, hatte Saskia gebeten.
Aber er hatte erwidert, dass er etwas ganz Dringendes zu erledigen hätte und sie sich bestimmt langweilen würde, wenn sie warten müsste.
Und später hatte ihnen dann niemand erklären können, warum ihn im Wald eine Kugel getroffen hatte, angeblich eine verirrte Kugel, da dort gejagt wurde. Es war Herbst gewesen. Ganz genau konnte sich Saskia an diesen Tag erinnern.
»Sie haben ihn dorthin gelockt, sie haben ihn umgebracht«, hatte ihre Mutter den Männern entgegengeschrien, die die Nachricht brachten.
»Papi wollte in die Stadt«, hatte sie gesagt, die kleine Saskia, für die eine Welt zusammengestürzt war.
Damals hatte sie Papi und Mami gesagt, dann, als sie keinen Papi mehr hatte, sagte sie Mutter. Ganz von sich aus. Evelyn hatte nie gefragt warum.
Ein eigenartiges Kind war Saskia immer gewesen. Scheu und abweisend benahm sie sich auch, als eines Tages ein junger Mann kam, von dem ihre Mutter sagte, er sei der Sohn von Magnus. Sie hatte nicht glauben wollen, dass ihr Papi noch einen großen Sohn hatte. Sie hatte diesen Gedanken von sich gewiesen, sie hatte es nicht wahrhaben wollen. Er war wieder abgereist, und die Mutter hatte nie von ihm gesprochen.
Jetzt dachte Saskia auch daran. Cornelius hatte der Sohn geheißen. Aber wie alles andere auch, was geschehen war, blieb es ihr auch unbegreiflich, dass er der Sohn ihres geliebten Papis gewesen sein sollte.
»Ich werde es dir erklären, wenn du größer und verständiger geworden bist«, hatte ihre Mutter gesagt, aber dazu war es nie gekommen. Saskia hatte es nicht wissen wollen. Es war schmerzlich genug zu wissen, dass ein anderer ihr Vater gewesen war und Magnus Boerden einen richtigen Sohn hatte.
Wer war nun Dr. Camphausen? Auch diesen Namen hatte sie nie gehört. Sie zermarterte sich den Kopf über all diese geheimnisvollen Fragen und Geschehnisse. Sie fand doch keine Antwort.
*
»Hat’s geschmeckt?«, fragte Lenchen.
»Gut, wie immer«, erwiderte Fee lobend.
»Und jetzt sollte man ein Stündchen ruhen, wenn man schon in der Nacht herausgeholt wird«, sagte Lenchen besorgt.
Daran war gar nicht zu denken. Daniel musste gleich Hausbesuche machen und Fee wollte zur Behnisch-Klinik fahren.
Aber sie musste ihren Mann vorher noch etwas fragen. »Da war heute eine Frau Anatol bei dir. Sie wollte ein Rezept.«
»Ja, sie war auf der Durchreise. Hatte Migräne. Ist sie dir aufgefallen, Fee?«
»Man kann sie nicht übersehen. Mich berührte ihr Name seltsam, denn heute vormittag habe ich von Herrn Pichler erfahren, dass van Reyken mit Vornamen Anatol heißt.«
»Seltsamer Zufall«, sagte Daniel.
»Ich frage mich, ob es ein Zufall ist«, sagte Fee.
»Kleines, halt die Fantasie im Zaum«, meinte Daniel nachsichtig. »Sie wollte nur das Rezept. Sie hat keine Fragen gestellt. Außer ihrer Erscheinung war nichts Auffälliges an ihr.«
»Ich finde es dennoch merkwürdig.«
»Woher weiß denn Pichler, dass van Reyken Anatol heißt?«, fragte Daniel, der ein paar Sekunden überlegt hatte.
»Er hat für einen anderen Klienten Auskünfte über ihn eingezogen. Für wen und welcher Art wollte er natürlich nicht verraten. Ich bin gespannt, was er mit erzählen wird.«
»Da bin ich auch gespannt«, sagte Daniel. »Aber nichtsdestotrotz muss ich jetzt meine Besuche machen. Pass schön auf dich auf, mein Liebes.« Fee bekam einen zärtlichen Kuss, und fort war er.
Sie überließ sich noch eine Viertelstunde ihren Gedanken, aber zu einem Ergebnis kam sie auch nicht. Nun fürchtete sie, dass Herr Pichler kommen würde, während sie aus dem Hause war. Sie rief in seinem Büro an, erfuhr von der Sekretärin aber, dass beide Herren unterwegs wären. Sie tröstete sich dann mit dem Gedanken, dass Herr Pichler nicht erwarten würde, dass eine Ärztin ständig daheim sein würde und fuhr in die Klinik.
Es war ihr eine Beruhigung zu erfahren, dass Saskia noch immer hier sei. Dr. Behnisch sagte ihr, dass Evelyn Boerden zeitweise kurz bei Bewusstsein wäre, sich ihr Zustand aber nicht gebessert hätte. Sie sah ihm an, dass er dies auch nicht mehr erwartete.
Leise betrat sie dann das Krankenzimmer.
Saskias Augen leuchteten kurz auf, als sie ihre Hand nahm.
»Ich hätte Sie gern gesprochen, Saskia«, sagte sie leise. »Würden Sie bitte mit nach draußen kommen?«
»Mutter hört uns nicht«, sagte Saskia.
Aber dann stand sie doch auf und folgte Fee in das Wartezimmer.
Irgendwie kam es Fee doch vermessen vor, sich in die so privaten Angelegenheiten der Boerdens einzumischen, aber aus Sorge um dieses junge Mädchen tat sie es dann doch.
»Mir bereitet der Gedanke Sorge, dass Sie mit diesem Mann eventuell allein in dem Hause wären, Saskia«, begann sie. »Haben sie hier gar keine Freunde, die Ihnen dort einige Tage Gesellschaft leisten könnten?«
»Nein. Ich möchte das auch nicht. Van Reyken hat in dem Haus nichts zu suchen. Wenn ich nur wüsste, wie ich ihn hinausbekomme. Meine Mutter hat mir vorhin gesagt, dass sie nicht weiß, warum er dort wohnt. Ja, es klingt eigenartig, aber ich glaube, dass sie so denkt, wie sie spricht. Es ist alles so undurchschaubar. Und dann das mit den Tabletten.«
Fee lauschte interessiert. »Das werden wir von meinem Mann genau erfahren, aber vielleicht hat sie falsche Tabletten genommen?«
»Und wer hätte die ihr wohl gegeben?«, fragte Saskia.
Nun, immerhin bestand die Möglichkeit, dass bei einem so schweren Anfall auch die verordneten Tabletten nicht mehr halfen, aber solange man nicht wusste, welche Tabletten Frau Boerden genommen hatte, konnte man überhaupt nichts sagen.
»Haben Sie schon einmal den Namen Tatjana Anatol gehört?«, fragte Fee.
Saskia runzelte leicht die Stirn. »Anatol heißt von Reyken mit Vornamen, aber Tatjana Anatol? Nein. Merkwürdig!«
»Ja, ich finde es auch merkwürdig. Eine Tatjana Anatol war heute bei meinem Mann in der Sprechstunde.«
»Ich muss in dieses Haus zurück«, sagte Saskia plötzlich. »Ich muss suchen, ob ich etwas finde, was mir weiterhelfen kann. Ich muss es finden, bevor es beiseitegeschafft wird. Was treibt dieser Mann in Mutters Haus? Ich weiß doch gar nichts.«
»Aber allein dürfen Sie dorthin nicht, Saskia. Bitte, seien Sie vorsichtig.«
Mit einem seltsamen Ausdruck sah Saskia sie an. »Spüren Sie auch diese Gefahren? Haben Sie auch eine Antenne für das Unheimliche, Felicitas Norden?«, fragte sie.
»Ich glaube ja«, erwiderte Fee ohne zu überlegen.
»Ich danke Ihnen so sehr. Allein das Gefühl, dass es einen Menschen gibt, dem ich vertraue, bedeutet soviel.«
»Sie können bei uns wohnen, Saskia«, sagte Fee herzlich.
»Jetzt werde ich erst einmal hierbleiben. Das muss ich. Vielleicht sagt Mutter mir noch etwas, was wichtig ist. Aber ich muss in das Haus. Etwas zieht mich dorthin.«
»Dann werde ich Sie begleiten«, sagte Fee impulsiv.
Saskias Lider senkten sich. »Es wäre schrecklich, wenn Ihnen irgendetwas geschehen würde«, flüsterte Saskia.
»Was soll uns schon geschehen, wenn wir zu zweit sind. Wenn Reyken aufkreuzt, werden wir ihm sagen, dass wir einige Sachen für Ihre Mutter holen müssen.«
Daniel wäre damit wohl nicht einverstanden, aber Fee schob solche Gedanken von sich. Sie fuhr mit Saskia sofort los. Zu Jenny Lenz sagte sie, dass Saskia für sich einige Kleidungsstücke holen wolle.
*
Herr Pichler hatte endlich den Mann erreicht, den er so dringend sprechen wollte. Es war der Konsul und Rechtsanwalt Dr. Frederic Camphausen. Er residierte in einer prachtvollen Villa im Süden der Stadt. Wohnen konnte man es wahrhaft nicht nennen, denn dieses Haus glich mehr einem Schloss. Es beherbergte eine Sammlung von Kostbarkeiten, die man in solcher Vielzahl und Schönheit selten zu sehen bekam.
Herr Pichler musste einige Minuten warten. Dr. Camphausen hatte gerade anderen Besuch, den Herr Pichler aber nicht zu Gesicht bekam, in diesem Hause ging alles mit größter Diskretion vor sich.
Dr. Camphausen, ein Mann von Anfang sechzig, hochgewachsen und straff wie ein Offizier, der er wohl auch einmal gewesen war, weißhaarig, sehr vornehm, sehr dezent und diplomatisch.
Er konnte sein Erstaunen nicht ganz verbergen, als Edwin Pichler ihm erklärte, dass er ihn nochmals in der Angelegenheit van Reyken sprechen müsse.
Über das sonst so undurchsichtige Gesicht des Diplomaten lief ein Zucken.
»Für uns war dieser Auftrag doch abgeschlossen, Herr Pichler«, sagte er mit seiner ruhigen leisen Stimme.
»Es hat sich aber ein neuer Gesichtspunkt ergeben, den ich Ihnen nicht verschweigen möchte. Ich fühle mich dazu verpflichtet. Durch einen Zufall habe ich in Erfahrung gebracht, dass Anatol von Reyken sich hier in München aufhält und zwar in dem Haus einer Frau Evelyn Boerden.«
Die Wirkung seiner Worte war durchschlagend.
Dr. Camphausen sprang auf und starrte ihn entsetzt an.
»Das ist doch nicht möglich!«, sagte er erregt.
»Ich habe mich selbst davon überzeugt. Heute vormittag war ich dort und habe mit van Reyken gesprochen. Nach dem Foto habe ich ihn sofort erkannt.«
Dr. Camphausen war maßlos erregt, das konnte er mit aller Beherrschung nicht verbergen.
Zu Edwin Pichlers Verblüffung gab er es auch zu.
»Sie haben mich erschreckt, Herr Pichler, aber ich bin Ihnen auch ungeheuer dankbar, dass Sie mir diese Information sofort weitergegeben haben«, sagte er. »Wie aber sind Sie in dieses Haus gekommen?«
»Darüber müsste ich eigentlich schweigen«, erwiderte Edwin Pichler, »aber da Frau Dr. Norden mich nicht um Diskretion gebeten hatte und sie selbst nur im Interesse von Fräulein Boerden einige Auskünfte haben wollte, werde ich es Ihnen nicht verschweigen.«
Dr. Camphausens Gesicht war fahl geworden. »Fräulein Boerden? Frau Dr. Norden? Was gibt es da für Zusammenhänge?«
»Der Fall liegt so, dass Frau Boerden heute im Morgengrauen einen schweren Herzanfall hatte. Fräulein Boerden rief Dr. Norden an. Er ließ seine Patientin in die Behnisch-Klinik bringen. Frau Dr. Norden hatte sogleich den Eindruck, dass van Reyken von Saskia Boerden gefürchtet würde, oder besser gesagt verabscheut.«
»Fräulein Boerden ist hier? Mein Gott!« Dr. Camphausens Stimme überschlug sich fast. »Das wusste ich nicht, und natürlich auch nicht, dass Reyken in dem Hause wohnt. Herr Pichler, ich erteile Ihnen einen neuen Auftrag.«
Und danach hatten sie eine sehr lange Unterredung.
*
Fee und Saskia hatten das Haus leer gefunden.
»Sein Auto ist nicht da«, hatte Saskia erleichtert bemerkt.
»Die Räume, die er bewohnt, liegen separat«, erklärte Saskia. »Anfangs dachte ich, dass meine Mutter sie vermietet hätte, um nicht allein zu sein in dem großen Haus.«
»Sind keine Hausangestellten da?«, fragte Fee nachdenklich. »Mutter erklärte mir, dass das Hausmeisterehepaar auf Urlaub sei. Es war niemand sonst hier, seit ich da bin.«
In Evelyns Schlafraum herrschte auch eine ziemliche Unordnung. Fee hatte fast den Eindruck, dass jemand hier etwas gesucht hatte.
Sie fanden dann aber in dem Nachkästchen eine Tablettenpackung, in der sich noch einige Tabletten befanden.
In der Schrankwand befanden sich zwei verschlossene Fächer. Der Kleiderschrank erweckte nicht den Eindruck in Fee, dass Evelyn Boerden eine anspruchsvolle Frau gewesen sei. Zwei Mäntel, etwa ein Dutzend Kleider, mehrere Röcke und Blusen waren der ganze Inhalt. An der Rückwand, verdeckt durch die Kleider, hing eine flache Ledertasche, die Saskia an sich nahm.
»Ich werde sie Mutter mitnehmen. Sie hat sie schon sehr lange«, sagte sie leise. Zum ersten Mal sah Fee Tränen in ihren Augen.
»Ein Geschenk von Papi«, fügte Saskia flüsternd hinzu.
Dann gingen sie ins Wohnzimmer, und dort sah Fee eine Fotografie von Magnus Boerden. Ein unglaublich markantes, ausdrucksvolles Gesicht. Auch dieses Bild nahm Saskia und drückte es an sich.
»Fehlt etwas?«, fragte Fee nachdenklich.
»Was sollte denn fehlen?«, tönte da eine spöttische Stimme an ihr Ohr.
In der Tür stand Anatol van Reyken. Unwillkürlich bewunderte Fee Saskias Selbstbeherrschung, während sie selbst wahnsinnig erschrocken war.
»Es könnte doch sein«, sagte Saskia eisig. »Man kann in diesen Räumen ein und aus gehen. Sie sind nicht verschlossen.«
»Mein liebes Kind«, sagte van Reyken, aber er kam nicht weiter.
»Nennen Sie mich nicht so!«, fuhr ihn Saskia an.
»Sie sind ein Fremder für mich, ein unerwünschter Fremder in diesem Haus.«
»So?« Er hob die Augenbrauen. »Ich bin der zukünftige Mann deiner Mutter«, sagte er herablassend.
»Da habe ich von meiner Mutter allerdings andere Dinge gehört«, sagte Saskia zornig.
Fee sah, wie seine Augen sich verengten, wie er fahl wurde.
»Außerdem wünsche ich nicht von Ihnen geduzt zu werden«, fügte Saskia dann verächtlich hinzu.
Van Reyken schien noch zu überlegen, was er erwidern wolle, doch da schlug der Gong an, und Fee atmete erleichtert auf. Wer da auch kommen mochte, sie waren nicht mehr allein mit diesem Mann, in dessen Augen Hass glomm.
»Soll ich öffnen, Saskia?«, fragte Fee.
Das Mädchen nickte.
Schnell eilte Fee zur Tür. Vor ihr stand ein junger Mann. Nicht mehr ganz jung, vielleicht Ende zwanzig oder anfang dreißig, hochgewachsen, breitschultrig mit tiefgebräuntem schmalem Gesicht, hellgrauen klugen Augen und aschblondem Haar.
Er sah Fee abschätzend an, aber sie fühlte sich durch diesen Blick nicht unangenehm berührt.
»Mein Name ist Cornelius Boerden«, sagte er mit ruhiger tiefer Stimme, und da ertönte von drinnen ein leiser Aufschrei aus Saskias Mund, den er aber nicht zu hören schien.
»Ich möchte Frau Boerden einen Besuch machen«, fuhr er fort. »Sind Sie Saskia?«
»Nein, ich bin eine Freundin von Saskia«, erwiderte Fee stockend. »Bitte, Herr Boerden.«
Stocksteif stand Saskia da, allein in dem Raum. Reyken war verschwunden. Fee wunderte sich, welche Ablehnung das Gesicht des Mädchens ausdrückte.
»Guten Tag, Saskia«, sagte Cornelius Boerden. »Wir haben uns sehr lange nicht gesehen. Zuletzt warst du noch ein kleines Mädchen. Ich wusste nicht, dass du hier bist.«
»Meine Mutter ist in der Klinik«, sagte Saskia tonlos. »Ich kann mich nicht an Sie erinnern. Ich möchte jetzt wieder zu Mutter. Sofort.«
Trotzig sagte sie es, und sie übersah die Hand, die sich ihr entgegengestreckt hatte.
»Mein Vater hat dich sehr geliebt, Saskia«, sagte Cornelius Boerden. »Irgendwie sind wir doch Geschwister.«
»Nein«, stieß Saskia hervor. »Felicitas Norden, ich möchte weg von hier.« Sie zitterte jetzt ebenso wie in der frühen Morgenstunde, als man ihre Mutter in die Klinik gebracht hatte.
»Frau Boerden ist sehr schwer erkrankt«, sagte Fee erklärend. »Mein Mann ist der Hausarzt von Frau Boerden. Ich bin auch Ärztin«, fügte sie verhalten hinzu und warf einen bedeutungsvollen Blick zu dem Mädchen.
Cornelius Boerden machte eine leichte Verbeugung. »Mir gehört ein Teil des Hauses«, sagte er leise. »Der hintere.«
Fees Kopf ruckte empor. »Da wohnt zur Zeit ein Herr van Reyken«, sagte sie rasch.
Cornelius Boerden wich einen Schritt zurück, aber aus seiner Miene war nichts zu entnehmen.
»Das ist ja sehr interessant«, sagte er.
»Dieser Herr ist allein mit Saskia in dem Haus.«
»Ich bleibe nicht hier«, flüsterte sie. Und schon eilte sie hinaus.
Fee sah den jungen Mann an. Augenblicklich war sie zu verwirrt, um klare Gedanken zu fassen.
»Es wäre wohl nützlich, wenn Sie in unsere Praxis kämen«, sagte sie leise.
»Das werde ich ganz bestimmt«, erwiderte er ausdruckslos.
Nun musste sich Fee fragen, was sich hier, in diesem Hause, nun wohl abspielen würde, denn ihr sah Cornelius Boerden nicht so aus, als hätte er vor irgendetwas Angst, und noch weniger, als würde er sich etwas bieten lassen.
*
Cornelius Boerden kam in die Diele des Hauses, das zum Teil ihm gehörte. Er hatte an die Tür geklopft, die zu den Räumen führte, die ihm immer offenstehen sollten, wie Evelyn ihm gesagt hatte. Er hatte sie verschlossen gefunden.
Seine Gedanken arbeiteten. Einmal würde van Reyken doch herauskommen müssen. Er wartete darauf. Als er dann aber einen Motor aufheulen hörte, ging er hinaus. Er behielt den Türknopf in der Hand, damit die Tür nicht zufallen konnte, und er sah gerade noch die Schlusslichter eines großen hellen Wagens.
In Gedanken versunken ging er zu dem Schlüsselschränkchen, und dort fand er mehrere Schlüssel. Er probierte sie aus, bis er den passenden für die Haustür gefunden hatte. Dann ging er hinaus und zog die Tür hinter sich zu. Er ging um das Haus herum und sah eine Tür, die zur Terrasse führte, einen Spalt offenstehen.
Wie unglaublich unüberlegt war es von ihm gewesen, nicht daran zu denken, dass van Reyken so entwischen könnte. Er hätte sich am liebsten selbst eine Ohrfeige gegeben.
Er ging durch diese Terrassentür ins Haus. Drei ineinandergehende Räume befanden sich in diesem Trakt. Die Tür war von innen verschlossen, aber der Schlüssel steckte. Cornelius schloss die Terrassentür und begann systematisch die Räume zu durchsuchen. Aber nur im Bad, in einem Abfalleimer, fand er etwas, was seine Aufmerksamkeit erregte. Eine Packung, in der sich noch eine Tablette befand.
Viel Gepäck schien Anatol van Reyken nicht mitgebracht zu haben, und anscheinend hatte er alles auf seiner Flucht mitgenommen.
Auch Cornelius Boerden hatte viel Grund zum Nachdenken. Er durchsuchte aber auch die anderen Räume des Hauses, die Evelyn gehörten, systematisch. Da fand er doch manches, das von Interesse für ihn war.
In dem Zimmer, in dem Saskia zwei Nächte geschlafen hatte, lag ein Teddybär unter der Bettdecke. Er war alt und abgegriffen, und sein Fell war dünn geworden.
Seine Gedanken wanderten Jahre zurück. Er sah ein kleines Mädchen mit großen traurigen Augen vor sich stehen, das diesen Bären an sich drückte.
»Mein Papi hat mir gehört«, hatte es gesagt. Schmerzhaft hatten diese Worte in seinen Ohren noch lange, sehr lange fortgeklungen. Er hatte erst ein Mann werden müssen mit sehr sehr viel Erfahrung, um diesen Schmerz zu überwinden. Das war erst geschehen, als er erfahren hatte, warum sein Vater ihn verleugnet hatte.
Kalter Hass war in seinen Augen, als er an Anatol van Reyken dachte. Er wollte, er musste ihn finden. Er sollte nicht ungeschoren davonkommen!
Diesmal nicht!
*
Fee saß indessen am Schreibtisch und nahm sich Frau Boerdens Karteikarte vor. Sehr korrekt waren da alle Medikamente aufgezeichnet, die sie verordnet bekommen hatte. Sehr genau hatte Daniel auch die Bemerkungen zur Anamnese notiert. Sie entnahm daraus, dass Evelyn Boerden eine Herzinnenhautentzündung hatte. Endokarditis lenta, was soviel bedeutete, wie schleichend verlaufend. Diese war besonders bösartig. Bei Patienten mit einem labilen Kreislauf nützten da auch die Antibiotika nicht viel.
Das Dingdong des Gongs ertönte, und Fee drückte automatisch auf den Türöffner. Sie blickte auf und sah Cornelius Boerden zur Tür hereinkommen.
Sie war augenblicklich verblüfft, dass er sobald kam.
»Ich habe hoffentlich Ihren kleinen Hinweis richtig verstanden«, sagte er leise. »Oder hat Saskia Ihnen inzwischen Misstrauen gegen mich eingeflößt?«
»Sie ist jetzt ein verwirrtes Kind«, sagte Fee, die einen aggressiven Unterton aus seinen Worten zu entnehmen glaubte.
»Sie ist ja noch ein Kind«, sagte er.
»Aber ein überaus intelligentes«, erwiderte Fee.
»Was nützt das einem jungen Menschen schon, wenn er acht Jahre seines Lebens eingesperrt wird«, erklärte er heiser.
»Eingesperrt?«, fragte Fee.
»Was war es denn anderes? Natürlich muss man Evelyn zugute halten, dass sie maßlose Angst um ihr Kind hatte und nicht die Kraft, ihm selbst Schutz zu gewähren. Aber Sie haben das Internat nicht gesehen, in dem Saskia war.«
»Haben Sie es gesehen?«, fragte sie erstaunt.
»Gewiss. Ich war mehrmals dort, ohne Saskias Wissen. Eine Raubritterburg ist nichts dagegen. Natürlich wurden die jungen Damen höchst vornehm erzogen, aber hinter dicken Mauern wie im Mittelalter. Ich möchte mich darüber nicht äußern, damit Sie nicht denken, dass ich Evelyn einen Vorwurf machen will. Sie war seit dem Tode meines Vaters von geradezu panischer Angst um das Leben ihres Kindes erfüllt.«
»Ich weiß nicht viel, aber was ich an diesem einen Tag erfahren habe, ist höchst geheimnisvoll, Herr Boerden.«
»Ich blicke auch nicht ganz durch«, sagte er, »aber soviel weiß ich doch, dass die tragische Entwicklung mit dem ungeklärten Tod meines Vaters begann.«
»War es Mord?«, fragte Fee sehr direkt.
Er zuckte zusammen.
»Saskia behauptet, dass es Mord war.«
»Sie war zehn Jahre und hat maßlos unter dem Tod meines Vaters gelitten. Ihres Papis«, fügte er leise hinzu. »Ich möchte, bevor Sie Fragen stellen, etwas erklären. Meine Eltern trennten sich, als ich sechs Jahre alt war. Ich musste bei meiner Mutter leben. Sie bestand darauf. Ich begriff es sowenig, wie später Saskia begriff, dass ihr über alles geliebter Papi einen Sohn hatte.« Das sagte er ohne Spott und Bitterkeit. »Ich habe vieles erst später begriffen, aber darüber kann ich Ihnen nichts sagen.«
»Sie wollen es nicht«, sagte Fee leise.
»Gut, ich will es nicht«, gab er zu. »Ich konnte endlich selbst über mich bestimmen, als mein Vater auf so tragische Weise starb. Ich habe ihn lebend nicht mehr gesehen. Alles, was ich von seiner zweiten Ehe weiß, habe ich von Evelyn erfahren, mit der ich mich übrigens gut verstand. Sie war eine völlig hilflose Frau, ihres Schutzes beraubt, als mein Vater nicht mehr an ihrer Seite war. Sie hat ihn unendlich geliebt. Seit ich dies begriff, verstand ich manches. Er hat sie auch sehr geliebt, und Saskia stand ihm näher als ich.«
»Sie wissen alles über Evelyn Boerden?«, fragte Fee gedankenverloren.
»Wann weiß man alles über einen anderen Menschen?«, fragte er. »Ich weiß, dass sie mit diesem persischen Fürsten Dejali verheiratet war und ihm mit Saskia davonlief. Sie war eine stolze Frau.«
»Sie lebt noch«, sagte Fee verhalten.
»Ich meinte das auch anders. Später wurde ihr Stolz gebrochen. Sie hatte nur noch Angst um ihr Kind. Und seit heute weiß ich, wovor sie Angst haben musste.«
»Vor Reyken?«, fragte Fee.
»Ja.«
Da kam Daniel mit Frau Schneider aus dem Behandlungszimmer. Seine Augen weiteten sich, als er den gutaussehenden jungen Mann gewahrte. Frau Schneider lächelte anzüglich, als sie an Fee vorbeiging.
Man sah ihr an, dass sie liebend gerne noch hiergeblieben wäre. Neugier brannte in ihren Augen. Aber die Tür klappte hinter ihr zu.
»Das ist Herr Cornelius Boerden, Daniel«, machte Fee sehr schnell die beiden Männer bekannt.
»Cornelius Boerden?«, wiederholte Daniel fragend.
»Der Sohn von Magnus Boerden«, sagte Cornelius.
»Das ist ja interessant«, entfuhr es Daniel, »aber ich habe noch Patienten zu versorgen.«
»Wir werden uns ganz bestimmt zu gegebener Zeit wiedersehen, Herr Dr. Norden«, sagte Cornelius. »Ich muss mich jetzt verabschieden. Ich danke Ihnen, Frau Doktor.«
»Schade«, sagte Fee hinter ihm her.
»Hat er dir so gut gefallen?«, fragte Daniel eifersüchtig.
»Ach was. Ich hätte aber noch mehr erfahren, wenn du nicht jetzt schon gekommen wärest.«
»Du hättest mir Bescheid sagen können, dann hätte ich mich mit der holden Frau Schneider amüsiert«, sagte Daniel spottend.
»Du wirst dich wundern, was ich schon in Erfahrung gebracht habe.«
»Ich wundere mich später. Ich bin wahrlich froh, wenn ich heute fertig bin.«
Er verschwand mit dem nächsten Patienten im Sprechzimmer. Kaum saß Fee wieder am Schreibtisch, ertönte der Gong erneut. Diesmal war es Edwin Pichler.
*
Einen so ereignisreichen und aufregenden Nachmittag hatte Fee noch nie erlebt. Edwin Pichler saß immer noch bei ihr, als Daniel dann endlich den letzten Patienten abgefertigt hatte.
»Jetzt muss ich aber gehen«, sagte Herr Pichler. »Ich bleibe am Drücker, Frau Doktor.«
»Wenn ich komme, geht er«, sagte Daniel.
»Bei mir ist Ihre schöne Frau in bester Obhut, Herr Doktor.« Edwin Pichler grinste von einem Ohr zum andern.
»Das möchte ich mir auch ausgebeten haben«, sagte Daniel.
»Und du hast mir jetzt wohl allerhand zu erzählen, mein Schatz?«, fragte Daniel, als dann auch Herr Pichler entschwunden war.
»Sehr viel, wenn du nicht vorher einschläfst«, lächelte Fee.
Den Namen seines ersten Auftraggebers hatte Edwin Pichler auch jetzt nicht verraten, denn von Dr. Camphausen war er zu größter Diskretion verpflichtet worden, aber er hatte Fee doch gesagt, dass sich ganz überraschend herausgestellt hätte, dass eben diesem Klienten der Name Boerden nicht unbekannt sei.
»Und nun wird Reyken beschattet«, sagte Fee triumphierend. Daniel konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Pichlers Jargon hast du auch schon übernommen«, sagte er.
»Er ist wahnsinnig nett, und pfiffig ist er, dass man nur staunen kann. Aber du wirst dich noch wundern, was sich alles getan hat. Als ich mit Saskia im Haus war …«
»Was, du warst mit ihr dort?«, fragte Daniel ziemlich bestürzt.
»Brauchst dich doch nicht aufzuregen. Reyken ist uns zwar in die Quere gekommen, aber als er frech wurde, kam gerade Cornelius Boerden. Und da hat sich Reyken zurückgezogen. Er hat dann heimlich, still und leise die Flucht über die Terrasse ergriffen, während Herr Boerden in der Diele darauf wartete, dass er sich blicken ließ.«
»Nun mal hübsch der Reihe nach, Fee. Was habt ihr in dem Haus gemacht?«
»Saskia hoffte, etwas zu finden, aber wir haben nur diese Tablettenpackung gefunden.«
Daniel betrachtete sie. »Das Mittel, das ich Frau Boerden verschrieben habe.«
»Ja, ich weiß. Herr Boerden hat dann die Räume, die Reyken bewohnte, übrigens sind es Cornelius Boerdens Räume, inspiziert und im Abfalleimer diese Packung gefunden.«
Sie legte es zu dem andern und sah ihren Mann von unten herauf an. Er stieß einen Pfiff durch die Zähne.
»Das Migränemittel, das ich dieser Frau Anatol verschrieben habe«, sagte er kopfschüttelnd.
»Glaubst du jetzt auch noch, dass die Namensgleichheit ein Zufall ist? Es ist ein Mittel, das Herzkranke nicht nehmen dürfen, und nun werden wir wohl mal den Inhalt dieser Packung untersuchen müssen. Die Tabletten sehen sich ja sehr ähnlich.«
»Willst du einen Mordversuch konstruieren, Fee?«, fragte Daniel entgeistert.
»Zumindest scheint es klar zu sein, dass Reyken sehr daran interessiert war, dass sich ihr Herzleiden verschlimmerte. Außerdem scheint es klar, dass Cornelius Boerden der Name Reyken bekannt war, wenn er darüber auch nicht gesprochen hat. Er ist nicht sehr mitteilsam.«
»Du bist Ärztin und kein Rechtsanwalt oder Untersuchungsrichter, mein Liebling«, sagte Daniel nachsichtig.
»Aber Saskia muss geholfen werden. Was mich bedrückt, ist die Tatsache, dass sie Cornelius Boerden ablehnt, obgleich er ihr sicher wohlgesinnt ist.«
»Kannst du das jetzt schon mit Bestimmtheit sagen? Du kennst ihn doch kaum.«
»Ein bisschen Menschenkenntnis habe ich auch.«
»Damit ist schon mancher baden gegangen. Ich möchte keinesfalls, dass du dich in irgendeine Gefahr begibst, mag dir Saskias Wohl auch noch so sehr am Herzen liegen.«
»Es ist eine ganz mysteriöse Geschichte, Daniel«, sagte sie gedankenverloren.
»Die dich fasziniert. Aber die Aufklärung wollen wir lieber kompetenteren Leuten überlassen.«
»Frau Boerden lebte seit dem Tod
ihres Mannes in ständiger Angst.
Und …«
»Wo war dieser junge Herr Boerden?«, fiel ihr Daniel ins Wort.
»Er ist bei seiner Mutter aufgewachsen. Warum und wieso hat er nicht gesagt, aber gepasst hat es ihm nicht. Jedenfalls stand er später in ständiger Verbindung mit Evelyn Boerden, und das Haus gehört ihm auch zur Hälfte. Saskia hat davon nie etwas erfahren. Sie glaubte sogar, dass er mit Reyken unter einer Decke steckt.«
»Vielleicht stimmt das. Ist es nicht auffällig, dass der junge Boerden gerade jetzt hier erscheint, nachdem Frau Boerden in die Klinik gebracht werden musste?«
»Sie hat ihm telegrafiert, dass er kommen soll. Er hielt sich in London auf und kam auf schnellstem Wege. So, das ist ziemlich alles, was ich von ihm weiß, aber dieser Kurti Schnell, der Reyken beschattet, hat herausbekommen, dass er sich in einem kleinen Hotel mit jener geheimnisvollen Frau Antatol getroffen hat. Er hat dort auch ein Zimmer genommen und beide sind als Ehepaar unter dem Namen Smith eingetragen.«
»Wie einfallsreich«, meinte Daniel.
»Ich kann darüber nicht spotten. Ich glaube, dass Saskia tatsächlich in Gefahr ist. Hoffentlich unternimmt sie nichts auf eigene Faust.«
»Du hältst dich da jedenfalls heraus. Denk an unser Baby, mein Liebes«, sagte er mahnend.
Und doch redeteten sie dann noch zwei Stunden hin und her über diesen seltsamen Fall.
*
Saskia saß wieder am Bett ihrer Mutter. Auf ihrem Schoß lag die Ledertasche. Magnus Boerdens Bild stand auf dem Nachtschrank. Sie betrachtete es unentwegt, als hoffe sie, aus diesem Männergesicht Antwort auf viele quälende Fragen zu bekommen.
Der Atem ihrer Mutter ging ruhiger, ihr Gesicht war etwas gelöster. Plötzlich bewegten sich ihre Lippen.
»Cornelius«, flüsterte sie. »Cornelius soll kommen.«
Saskia hielt den Atem an, aber ihr Herz begann so heftig zu schlagen, dass es die Flüsterstimme fast übertönte. Dann schlug Evelyn die Augen auf.
»Mein Kind«, sagte sie mit erstickter Stimme. Ihr Blick wanderte von Saskias Gesicht zu der Handtasche.
»Ich habe sie geholt, Mutter«, sagte Saskia, »und Papis Bild auch.«
»Wer hat dir den Hinweis gegeben?«, fragte Evelyn.
»Welchen Hinweis?«
»Das Bild und die Tasche. Warum hast du beides geholt, Saskia?«
»Ich dachte nur, dass du es bei dir haben wolltest.«
»Du warst allein im Haus?«, fragte Evelyn angstvoll.
»Nein, Frau Dr. Norden hat mich begleitet.«
»Hast du Reyken getroffen?«
»Nur kurz. Cornelius Boerden ist gekommen.«
»Er ist gekommen«, flüsterte Evelyn, und ihr Gesicht entspannte sich. »Ich will ihn sprechen. Ihm kannst du vertrauen, Saskia. Wenn du auch nicht alles verstehst, so ist das allein meine Schuld. Magnus war in einem großen Irrtum gefangen. Er hat die Wahrheit nie mehr erfahren.« Sie schluchzte trocken auf.
»Welche Wahrheit, Mutter?«
»Dass Cornelius sein Sohn ist. Es ist eine lange, lange Geschichte. Eine traurige Geschichte, mein Kind. Sieh nach, ob noch alles in der Tasche ist, Saskia.«
»Sie ist verschlossen, Mutter«, sagte Saskia leise.
»Nein, der Verschluss ist kompliziert.« Die letzten Worte kosteten sie schon gewaltige Anstrengung, und dann fielen ihr wieder die Augen zu.
Ihre Kraft wird immer geringer, dachte Saskia. Sie wird mir nicht mehr sagen können, was sie will. Ein trockenes Schluchzen schüttelte nun auch ihren müden jungen Körper. Sie vertraute Cornelius. Sie wollte ihn sprechen. Er wusste mehr von ihrer Mutter, als sie, die Tochter. Und doch war die Auflehnung in ihr nicht mehr so heftig wie in früheren Zeiten, wie noch an diesem Nachmittag. Zu viel war auf sie eingestürmt, zu viel, als dass sie alles allein bewältigen konnte. Sie hatte Angst davor, noch mehr zu erfahren, was sie peinigen könnte.
Unwillkürlich nestelte sie an dem Verschluss der Handtasche herum, und ganz plötzlich sprang er auf. Erschrocken zuckte Saskia zusammen. Da trat Dr. Jenny Lenz leise ein.
»Möchten Sie sich nicht ein wenig hinlegen, Fräulein Boerden?«, fragte sie freundlich.
Geistesabwesend sah Saskia die Ärztin an, und auch Jenny Lenz hatte plötzlich das beklemmende Gefühl, dass dieses junge Mädchen Folgen von diesen schweren seelischen Erschütterungen davontragen könnte.
»Kommen Sie«, sagte sie und griff nach Saskias Arm. Krampfhaft drückte das Mädchen die Tasche an sich, und da schnappte der Verschluss wieder zu. Dann folgte Saskia fast willenlos und wie in Trance der Ärztin in das kleine Zimmer am Ende des Ganges.
»Sie rufen mich aber bitte, wenn meine Mutter erwacht«, bat sie.
»Ja, gewiss, aber jetzt schlafen Sie erst einmal.«
Saskia sank auf das Bett zurück. Schlafen, schlafen, suggerierte sie sich ein. Nicht mehr denken, nur noch schlafen.
Und da fielen ihr auch schon die Augen zu. Ihre Wange lag auf der Handtasche, doch das spürte sie gar nicht mehr, so erschöpft war sie.
*
Cornelius Boerden saß um diese Zeit Dr. Camphausen gegenüber. Er war schon am Nachmittag bei ihm gewesen, bevor Edwin Pichler gekommen war.
»Ich konnte nicht ahnen, dass Reyken sich in diesem Haus befindet«, sagte Dr. Camphausen mit heiserer Stimme. »Ich wusste nicht einmal, das Saskia gekommen war.«
»Und von wem haben sie es erfahren?«, fragte Cornelius.
»Von einem Privatdetektiv. Ich werde Ihnen jetzt reinen Wein einschenken, Cornelius.«
»Es wäre an der Zeit«, sagte der aggressiv.
»Ich habe von Reyken nichts gewusst, bis er selbst mit mir in Verbindung trat. Im Auftrag des Fürsten Dejali angeblich, ersuchte er mich um Auskünfte über Saskias Aufenthaltsort. Sie wissen mittlerweile, dass ich mich zu jener Zeit, als Evelyn mit dem Fürsten verheiratet war, in Persien aufhielt. Ich habe ihr damals zur Flucht verholfen. Ja, es war eine Flucht. Ich habe auch dafür gesorgt, dass sie auf Sardinien Unterschlupf finden konnte. Finanziell war sie durch das Erbe ihres Vaters gesichert. Baron Dongen hatte von vornherein Bedenken, dass diese Ehe gutgehen könnte, aber er wollte seiner einzigen Tochter keine Steine in den Weg legen. Haben Sie eigentlich angenommen, dass Evelyn Ihren Vater wegen seines Vermögens heiratete.«
»Anfangs schon«, erwiderte Cornelius, »bis ich sie dann kennenlernte. Aber darüber wollen wir jetzt nicht reden. Reyken steht zur Debatte.«
Er wollte nicht herumreden. Ihm ging so viel durch den Sinn, und er wollte vor allem wissen, was Dr. Camphausen über Reyken wusste.
»Ich war natürlich misstrauisch, als ich Reykens Schreiben erhielt«, berichtete der Konsul. »Ich beauftragte Pichler, Nachforschungen anzustellen. Sie fielen recht mager aus, aber ich erfuhr doch, dass Reyken nicht im Auftrag des Fürsten Dejali handelte. Von wem er erfahren hat, dass Evelyn mit dem Fürsten verheiratet war und dass Saskia dessen Tochter ist, weiß ich nicht.«
»Wahrscheinlich von meiner Tante Tatjana«, sagte Cornelius mit einem sarkastischen Unterton, der verriet, dass er von dieser Tante nicht viel hielt. »Alles Unglück begann, als meine Mutter diesen Reyken kennenlernte. Mein Vater war zu dieser Zeit noch ein armer Mann. Nicht so arm«, räumte er ein. »Er verdiente als Ingenieur genug, um seine Frau zu ernähren. Aber Reyken warf nur so mit dem Geld um sich, und er verstand es, die Frauen um die Finger zu wickeln. Meine Mutter hat es mir vor ihrem Tode gebeichtet. Ich will nicht sagen, dass sie besser war als Tatjana«, erklärte er mit harter Stimme, »aber im Angesicht des Todes sagen wohl manchmal auch die hartgesottensten Sünder die Wahrheit. Tatjana hat meinem Vater gesagt, dass nicht er mein Vater wäre. Wohl mit der Absicht, ihn für sich zu gewinnen. Doch das war ein Trugschluss von ihr. Er reichte die Scheidung ein, überließ mich meiner Mutter und verschwand von der Bildfläche. Später bekamen sie dann heraus, dass er schwerreich geworden war. Auf dem Land, das Reyken ihm angedreht hatte, als von Scheidung noch keine Rede war, sprudelte Öl. Sie haben lange gebraucht, um ihn zu finden, und da war er bereits mit Evelyn verheiratet. So viel weiß ich von meiner Mutter. Alles andere muss ich selbst herausfinden. Ich will vor allem wissen, warum mein Vater sterben musste, bevor ich mit ihm sprechen konnte. Ist es nicht seltsam, dass dies geschah, als ich auf dem Wege zu ihm war?«
»Es ist vieles seltsam und unerklärlich. Auch unbegreiflich, Cornelius«, sagte Dr. Camphausen. »Das Schlimmste für mich aber ist, dass Evelyn an ihrem Kummer um den Tod ihres Vaters zugrunde gegangen ist.«
»Am Tod ihres Mannes«, berichtigte Cornelius leise. »Sie hat ihn abgöttisch geliebt, und als ich zu ihr kam, hat sie keinen Augenblick gezweifelt, dass ich sein Sohn bin. Sie ist eine wundervolle Frau.«
»Sie sind Ihrem Vater sehr ähnlich«, sagte Dr. Camphausen. »Es kann gar kein Zweifel daran bestehen, dass Sie sein Sohn sind.«
»Obgleich meine Mutter ihn betrogen hat«, sagte Cornelius voller Bitterkeit. »Daran besteht auch kein Zweifel. Ich frage mich jetzt nur, warum Evelyn Reyken in ihr Haus aufgenommen hat, was er vorhat und wie man Saskia vor ihm schützen kann. Bei dieser Geschichte geht es doch nur um Geld.«
»Um sehr viel Geld«, bestätigte Dr. Camphausen, »Reyken müsste erfahren, dass Saskia nicht viel zu erwarten hat.«
»Wie das? Sie wird doch alles erben. Es gefällt mir nicht, jetzt darüber zu sprechen, da Evelyn noch lebt, aber in Saskias Interesse muss es erörtert werden.«
»Alles wird sie nicht erben«, sagte Dr. Camphausen, »aber wenn Reyken zugetragen würde, dass Sie der Haupterbe sind, wären Sie selbst wohl in Gefahr.«
»Damit würde ich schon fertig. Saskia ist ein Kind. Sie hat meinen Vater so geliebt, dass sie mich hasst, weil ich sein Sohn bin. Ich kann bei ihr kaum etwas ausrichten. Sie müssen jetzt in Erscheinung treten. Wir müssen alles genau durchdenken. An Evelyn kann Reyken nicht mehr heran. Tatjana weiß bestimmt schon, dass ich hier bin und wird auch nicht wagen, in Erscheinung zu treten. Wenn man nur wüsste, was sie planen. Wenn ich nur erst wüsste, warum Evelyn ihn in ihr Haus aufgenommen hat.«
»Evelyn hat Ihnen telegrafiert. Sie wollte mit Ihnen sprechen«, sagte Dr. Camphausen. »Sie werden sie in der Klinik aufsuchen. Dagegen kann niemand Einwände erheben. Und ich werde mir überlegen, wie man an Reyken herankommt, ohne ihn misstrauisch zu machen.«
»Wir werden sehr vorsichtig sein müssen«, sagte Cornelius nachdenklich.
*
Saskia wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatte, als sie ganz plötzlich emporschrak. War es ihr Traum gewesen, an den sie sich jedoch nicht erinnern konnte, oder war es ein Geräusch?
Das Zimmer war matt erleuchtet. Schlaftrunken wie sie war, konnte sie sich nicht gleich zurechtfinden und wusste auch nicht, wo sie sich befand. Dann sah sie die Tasche. Der Verschluss war offen. Sofort war sie hellwach. Unbewusst musste sie an den Verschluss geraten sein. Das Klicken war das Geräusch gewesen, das sie geweckt hatte.
Sollte das ein Fingerzeig des Schicksals sein, dass sie sich mit dem Inhalt dieser Tasche beschäftigen sollte?
Sie rieb sich die Augen, suchte nach dem Lichtschalter, denn in diesem matten Nachtlicht konnte sie nichts deutlich erkennen, geschweige denn lesen. In der Tasche befand sich ein Päckchen Briefe. Sonst nichts.
Es war eine Handschrift, die sie nicht kannte. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie die Umschläge mit den fremden Marken betrachtete. Aus verschiedenen Ländern waren diese Briefe gekommen, aber alle stammten sie von demselben Mann, von Cornelius Boerden, wie sie dann der Unterschrift entnahm, die sie zuerst las.
»Wir sind doch wie Geschwister«, hatte er gesagt, aber sie hatte sich dagegen aufgelehnt.
Sie überwand die Beklemmung, die sie erfasst hatte. Ihre Mutter hatte ja gesagt, dass sie die Tasche öffnen sollte. Sie hatte gewollt, dass sie diese Briefe las.
Nacheinander faltete sie diese auseinander, überflog die Seiten.
Saskia ist in Sicherheit. Du darfst Dir keine Sorgen machen. Nur ist das Schloss so düster.
Das war ein Satz, der ihr im Gedächtnis haften blieb, ein anderer lautete: Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Gefahr von Dejali droht. Er hat drei Söhne und zwei Frauen. Wenn wirklich eine Gefahr für Saskia besteht, muss sie von anderer Seite kommen.
Einige Briefe erhielten nichts anderes als Ermahnungen, dass sich ihre Mutter nicht mit unnötigen Gedanken belasten solle. Dann schrieb Cornelius, dass er einen Platz entdeckt hätte, wo sie mit Saskia leben könne, wenn sie das Internat verlassen hätte.
Und im letzten Brief, dessen Datum erst vier Wochen zurücklag, hieß es: Ich war in T. Man hat mir gesagt, dass der Fall damals als bedauerlicher Unfall abgeschlossen worden sei und war sehr kurz angebunden. Aber ich habe herausgefunden, dass zu dieser Zeit ein Mann dort weilte, dessen Namen ich kenne. Ich werde weitere Nachforschungen anstellen. Ich fliege nach London, Du kannst mich dort jederzeit unter der angegebenen Adresse erreichen. Ich bitte Dich inständig, Evelyn, denk an Deine Gesundheit und an Saskia. Was geschah, so schrecklich es auch ist, kann nicht ungeschehen gemacht werden. Ich möchte jetzt hoffen, dass Saskia mich eines Tages doch als ihren großen Bruder akzeptieren wird, damit ihre Mutter, die ich tief verehre, ihren Seelenfrieden findet. Ich küsse Dir die Hände, Evelyn, und bin immer Dein Dir sehr ergebener Cornelius.
Saskia löschte nun das helle Licht und legte sich auf das Bett zurück.
»Er sieht Magnus Boerden sehr ähnlich«, hatte Felecitas Norden gesagt.
Sie hatte ihn gar nicht richtig angesehen, hatte sich geweigert, ihn zur Kenntnis zu nehmen. Nach allem aber, was sie jetzt gelesen hatte, konnte sie ihm nicht mehr misstrauen.
Es blieb nun nur noch die Frage, warum er zu Lebzeiten ihres geliebten Papis niemals gekommen war und warum nicht über ihn gesprochen wurde. Die ganze Tragik lag für sie immer noch in einem undurchdringlichen Dunkel, aber sie wusste nun, dass Cornelius bemüht war, den Tod seines Vaters aufzuklären.
Sie lag da und wartete auf den Tag. Bei jedem Geräusch hob sie lauschend den Kopf. Sie spürte, dass es eine tiefverborgene Angst war, über die sie sich hinwegtäuschen wollte, die sie in eine enge kleine Welt gedrängt hatte, aus der sie ausbrechen musste, wollte sie nicht in Schwermut versinken.
Sie sah sich wieder in dem alten Schloss in der Bretagne. Cornelius musste dort gewesen sein. Es sei so düster, hatte er geschrieben. Schön waren während dieser Jahre nur die Wochen gewesen, die sie mit ihrer Mutter in dem kleinen Dorf am Atlantik verbracht hatte.
Aber es war ihr gleich gewesen, wo sie war, denn seit dem Tage, als ihr Papi nicht mehr zurückkam, hatte sie nie mehr Glück empfinden können, auch dann nicht, wenn ihre Mutter bei ihr war.
Sie hatten nur von ihm gesprochen, sie waren in ihren Gedanken immer bei ihm.
Und sie trug den Namen Boerden mit so viel zärtlich-wehmütiger Erinnerung, dass sie ihn niemals ablegen wollte.
Gegen fünf Uhr wurde sie von Jenny Lenz zu ihrer Mutter geholt, die bei Bewusstsein war und sogar einen verhältnismäßig frischen Eindruck machte.
»Es ist gut, dass du ein wenig geschlafen hast, mein Kind«, sagte Evelyn.
»Ich habe die Briefe gelesen, Mutter, die sich in der Tasche befinden«, sagte Saskia leise.
»Dann wirst du Cornelius etwas verstehen lernen«, sagte die Kranke. »Es wäre mir ein Trost.«
Saskia sagte darauf nichts. Sie spürte den Blick ihrer Mutter, wich diesem aber aus.
»Du wirst dich fragen, warum er früher nicht zu uns kam. Du wirst eines Tages alles erfahren, mein Kind. Cornelius will nichts haben, was dir gehört.«
»Ich will nichts haben, was ihm gehört«, sagte Saskia. »Von wem fürchtest du eine Gefahr, Mutter?«
»Wenn ich es nur wüsste!«
»Du hast nicht gewusst, dass dir von Reyken drohen könnte?«
»Er sagte, dass Cornelius ihn zu meinem Schutz geschickt hätte.«
»Aber das hätte dir Cornelius doch geschrieben.« Mit Verwunderung wurde ihr bewusst, dass sie seinen Namen aussprach.
»Er sagte, dass Cornelius bald kommen würde. Aber es vergingen Tage, und er kam nicht. Und da schickte ich ihm ein Telegramm, als er einmal nicht im Hause war. Ich hatte entsetzliche Angst. Dann kamst du, und ich wusste nicht mehr aus noch ein.«
Saskia wollte noch manches sagen, aber sie unterließ es, um ihre Mutter nicht erneut in Erregung zu versetzen. Es vergingen nur noch wenige Minuten, dann erschien Dr. Behnisch und sagte, dass Cornelius Boerden gekommen sei.
Da bekam Evelyns blasses Gesicht sogar Farbe. Saskia stand auf und ging zur Tür. Auf dem Flur traf sie mit Cornelius zusammen.
»Guten Morgen«, sagte er leise. Sie erwiderte seinen Gruß und bemerkte, dass sich seine Miene etwas aufhellte.
»Ich bitte dich sehr herzlich, nicht fortzulaufen, Saskia.«
»Ich würde nicht fortlaufen«, erwiderte sie verhalten. »Meine Mutter ist wach. Sie erwartet Ihren Besuch sehr sehnsüchtig.«
»Danke«, sagte er.
»Auf Sie wartet auch jemand, Fräulein Boerden«, sagte Dr. Behnisch. »Darf ich Sie in mein Zimmer bitten.«
»Wer?«, fragte sie.
»Ein Herr Dr. Camphausen.«
Dr. Camphausen sah Saskia fassungslos an.
Ein Kind sei sie, hatte Cornelius gesagt, dabei war sie das bezauberndste junge Mädchen, das ihm je begegnet war.
Er verneigte sich tiefer, als es eigentlich angebracht war.
»Sie werden meinen Namen noch nicht gehört haben, gnädiges Fräulein«, sagte er.
»Doch, meine Mutter erwähnte ihn«, erwiderte Saskia zurückhaltend. »Ich solle mich auch an Sie wenden, wenn …«, sie unterbrach sich und sah ihn forschend an.
»Ich genieße das Vertrauen Ihrer Mutter seit vielen Jahren«, erklärte er. »Sie habe ich zuletzt gesehen, als Sie ein Jahr alt waren, Saskia.«
»So weit kann ich mich nicht zurückerinnern«, sagte Saskia mit einem leichten Lächeln. »Was haben Sie mir zu sagen, Herr Dr. Camphausen?«
»Eine ganze Menge. Ich konnte nicht warten, bis Sie zu mir finden. Aber zuerst die Frage: Wie geht es Ihrer Mutter?«
»Ich kann es schwer beurteilen. Heute etwas besser als gestern, aber die Ärzte sagten mir, dass es eine vorübergehende Besserung sein könnte. Gesund kann sie wohl nicht mehr werden.«
Ihre Stimme bebte, aber sie nahm sich zusammen und bewahrte Haltung.
»Ich möchte vor allem erklären, dass mich Ihre Mutter damit betraut hat, Ihr Vermögen vor dem Zugriff Dritter zu schützen. Auch Ihnen soll Schutz gewährt werden.«
»Meine Mutter lebt, Herr Dr. Camphausen«, sagte Saskia steif.
»Und ich hoffe von ganzem Herzen, dass sie noch länger lebt«, sagte er. »Sie hat schon vor Jahren alles für Ihre Sicherheit getan, Saskia.«
Aber warum war sie nicht immer bei mir, dachte Saskia. Warum nicht? Dann hätte ich sie doch wenigstens ein paar Jahre gehabt.
Konnte Dr. Camphausen ihre Gedanken lesen? Er sah sie mit einem Blick voller väterlicher Güte an.
»Ihre Mutter hätte diese Jahre gern mit Ihnen verbracht, aber sie wollte wohl nicht, dass Sie ihr Leiden miterleben und mitleiden. Sie hat sich oft gefragt, was besser wäre, oder ob etwas besser sein könnte. Sie glaubte schließlich auch, dass sie in einer großen Stadt nicht vermutet würde. Ich selbst gab ihr die Empfehlung, in meine Nähe zu ziehen. Man wusste nicht, wie man es richtig machen sollte. Wären Sie hier oder irgendwo zur Schule gegangen, wäre sie wohl jeden Tag fast vor Angst gestorben.«
»Aber im Grunde war sie dann hier ganz allein und schutzlos«, sagte Saskia. »Das soll kein Vorwurf sein, Herr Dr. Camphausen. Wer profitiert, wenn ich sterbe?«
Sie sagte es ruhig, unbeteiligt, als ginge es um etwas ganz Nebensächliches. Er war regelrecht schockiert.
»Sie würden mir einen großen Gefallen erweisen, wenn Sie mir diese eine Frage wahrheitsgemäß beantworten.«
Sie sah ihn unbeirrt an.
»Niemand. Das heißt keine Einzelperson. Das gesamte Vermögen würde dann wohltätigen Stiftungen zufallen.«
»Also wäre ich für irgendjemanden nur interessant, solange ich lebe. Das ist beruhigend«, sagte sie mit bitterem Spott. »Wer könnte das sein? Doch wohl nicht der Fürst Dejali?« Sie machte eine kleine Pause. »Allerdings sollen ja die Orientalen sehr rachsüchtig sein.«
Er war jetzt wirklich geschockt durch ihre Sachlichkeit. Sie war bezaubernd schön, aber so intelligent, wie er es nicht erwartet hatte.
»Sie wissen nichts mehr zu sagen, Herr Dr. Camphausen?«, fragte sie.
»Doch. Es könnte durchaus möglich sein, dass man Cornelius damit erpressen will, wenn Sie in die Gewalt gewisser Leute geraten, über die ich mir noch nicht im klaren bin.«
»Cornelius? Er kann doch kein Interesse haben an meinem Leben«, sagte Saskia gedehnt.
»Darin täuschen Sie sich. Er würde alles geben, was er besitzt, und das ist weit mehr, als Sie denken.«
»Ich denke gar nichts. Ich war nicht freundlich zu ihm. Er weiß, dass ich ihn ablehne, oder bisher abgelehnt habe«, räumte sie nach kurzem Zögern ein.
»Aber Sie sind für ihn das Vermächtnis seines Vaters, und er verehrt Ihre Mutter sehr.«
Saskias Lider senkten sich. Ihre langen Wimpern warfen Schatten auf ihre Wangen.
»Er liebt meine Mutter«, sagte sie leise.
*
»Reyken sagte, er sei der zukünftige Mann meiner Mutter«, sagte Saskia zu Dr. Camphausen. Der lachte blechern auf.
»Er meinte wohl, Sie einschüchtern zu können, Saskia. Er ist verheiratet mit der Schwester von Cornelius’ Mutter.«
Saskias Gesicht versteinerte. »Und da trauen Sie Cornelius?«, fragte sie.
»Ja, denn wenn er überhaupt fähig ist zu hassen, sind es drei Menschen, die er hasst. Eine ist tot, seine Mutter.«
»Er hasste seine Mutter?«
»Sie hat seinen Vater betrogen, mit einigen Männern. Auch mit Reyken. Tatjana wollte Magnus um jeden Preis für sich haben, allerdings erst, als sie wusste, dass er ein sehr reicher Mann sein würde. Reyken hatte ihm zuerst wertloses Land angedreht. Dafür hatte er seine ganzen Ersparnisse hergegeben. Auf diesem Land wurde Öl gefunden. Tatjana war schon immer sehr raffiniert. Sie hatte überall ihre Fühler ausgestreckt, sie wusste das, bevor es irgendein anderer erfuhr. Sie sagte Magnus, dass er nicht der Vater von Cornelius sei. Da er wusste, dass seine Frau ihn betrogen hatte, glaubte er ihr auch. Die Scheidung kam. Cornelius blieb bei seiner Mutter. Magnus tauchte unter. Er lernte später Evelyn kennen, und sie heirateten. Cornelius erfuhr die Wahrheit erst, als seine Mutter starb. Sie beichtete ihm alles. Als er seinen Vater aufsuchen wollte, war Magnus tot.«
»Ermordet«, schluchzte Saskia auf. »Mein Papi wurde ermordet.«
»Ob das jemals zu beweisen sein wird? Machen wir uns keine Illusionen, Saskia.«
»Dann hat Papi nie über Cornelius gesprochen, weil er meinte, dass er nicht sein Sohn sei?«, fragte Saskia nach einer langen Pause.
»Ja, das war wohl der Grund. Und er hat auch nie erfahren, dass er einer grässlichen Täuschung unterlegen war.«
»Aber er liebt meine Mutter dennoch«, flüsterte Saskia.
»Weil sie ihm vorbehaltlos entgegenkam. Sie wusste sofort, dass er Magnus’ Sohn war. Und wenn ich Ihnen einen väterlichen Rat geben darf, Saskia, Sie können sich gewiss keinen besseren Bruder wünschen als Cornelius. Ihm ist wahrlich nichts erspart worden. Er hat den Glauben an den Sieg des Guten dennoch nicht verloren.«
Und als er dies gesagt, kam Cornelius. »Evelyn möchte Sie kurz sprechen, Herr Dr. Camphausen«, sagte er. »Sie ist müde.«
Dann sah er Saskia an. »Würdest du jetzt mit mir ein Stündchen an die frische Luft gehen, Saskia? Deine Mutter hat mich darum gebeten.«
Sie senkte den Kopf. »Ja«, erwiderte sie dann leise.
*
In Dr. Nordens Praxis herrschte Hochbetrieb. Das wechselhafte Frühlingswetter hatte wieder die unterschiedlichsten Reaktionen hervorgerufen. Die einen klagten über starke Kopfschmerzen, die andern kamen mit tränenden Augen, Nervenschmerzen, Ischias, Bronchitis.
»Was so ein praktischer Arzt doch alles können muss«, sagte Daniel seufzend.
»Ist doch auch wahnsinnig bequem für die Patienten«, brummte Molly schon ein bisschen ungehalten. »Gehen Sie mit tränenden Augen zum Augenarzt, sagte der womöglich, das sei nicht sein Gebiet, und so fort. Nur gut, dass Sie nicht auch noch Zahnbehandlungen vornehmen müssen.«
»Die Zahnschmerzen kommen manchmal auch von den Nerven, aber wenn die Leute doch nur einsehen würden, dass nicht alle Schmerzen wetterbedingt sind. Wenn man sie dann wirklich mal röntgen will, sagen sie gleich, dass nur das Wetter dran schuld sei.«
»Ist ja manchmal auch schuld, wenn wir narrischen Föhn haben«, warf Fee ein.
»Wir haben jetzt aber keinen Föhn, aber du darfst sicher sein, dass sie dann steif behaupten, dass er morgen bestimmt käme. Die einen fühlen vorher, die andern nachher. Aber wenn ein Patient mit einer ausgewachsenen Stirnhöhleneiterung auch den Föhn verantwortlich machen will für seine Schmerzen, hakt es bei mir doch aus. Ja, die Herzkranken und Menschen mit labilem Kreislauf spüren ihn schon.«
Er schwieg plötzlich, sie sahen sich an und dachten alle drei an Evelyn Boerden.
»Edwin Pichler hat heute noch gar nicht angerufen«, sagte Fee zu Daniel, als Molly dann ins Wartezimmer ging.
»Er wird auf der Lauer liegen«, sagte Daniel. »Ruf du mal in der Klinik an, wie es Frau Boerden geht. Nachher fahre ich hin.«
Edwin Pichler lag allerdings nicht auf der Lauer. Er war auswärts. Aber Kurti Schnell überwachte das kleine Hotel, in dem Anatol van Reyken und Tatjana unter dem Namen Smith wohnten.
Er musste sehr lange warten, bis sie in Erscheinung traten. Kurti war dabei schon richtig schläfrig geworden.
Endlich betraten sie die Halle. Sie hatten Koffer und Taschen mitgebracht, was darauf schließen ließ, dass sie abreisen oder zumindest das Quartier wechseln wollten. Kurti war sogleich hellwach.
So breit wie lang, war er doch behende wie ein Wiesel. Er ließ schon den Motor seines unauffälligen Wagens an, als sie den hellbeigen Straßenkreuzer bestiegen.
Sie fuhren nicht weit und auch nicht zu schnell. Kurti konnte ihnen leicht auf den Fersen bleiben. Sein Herz blieb vor Schreck fast stehen, als sie vor dem prächtigen Haus des Konsuls Camphausen hielten. Aber ein Detektiv durfte sich nicht verblüffen lassen. Kurti war ganz geistesgegenwärtig und fuhr weiter, an dem Straßenkreuzer vorbei in die nächste Nebenstraße hinein.
Als er sich dann per pedes an die Straßenecke heranpirschte und um diese lugte, saß der Mann noch am Steuer, aber die Frau war verschwunden.
Tatjana läutete indessen bereits an der Haustür, da sie das Gartentor offen gefunden hatte. Als ein adrettes Mädchen ihr öffnete, stellte sie sich mit ihrem richtigen Namen vor. Tatjana van Reyken.
Dr. Camphausen war vor wenigen Minuten aus der Klinik heimgekehrt. Er hörte die rauchige Stimme und den Namen und war schon auf dem Sprung, da das Mädchen sagte, dass der Herr Konsul jetzt leider nicht zu sprechen sei.
»Für die gnädige Frau jederzeit«, sagte er, schnell in die Halle tretend.
»Frau van Reyken, ich freue mich, Sie kennenzulernen«, sagte er höflich. »Ihr Herr Gemahl hat sicher eine Antwort vermisst auf sein Schreiben, und ich muss zu meiner Entschuldigung sagen, dass ich länger auf Reisen war und erst vor wenigen Tagen zurückgekehrt bin. Bitte, treten Sie doch näher.«
Das Mädchen, ob dieser verwunderlichen Erklärung bestürzt, entfernte sich schnell. Tatjana schritt beruhigt und siegessicher an Dr. Camphausens Seite zu dessen Arbeitszimmer.
»Mein Mann wäre gern selbst gekommen, aber er hat entsetzlich viel zu tun«, erklärte sie. »Aber die Angelegenheit, in der er an Sie herangetreten ist, ist so dringlich, dass er mich gebeten hat, persönlich bei Ihnen vorzusprechen.«
Dr. Camphausens Gedanken überstürzten sich. Was wollen sie, fragte er sich. Dass Saskia hier ist, wissen sie. Was wollen sie jetzt in Erfahrung bringen? Seiner Miene waren solche Gedanken nicht abzulesen. Schließlich war er Diplomat.
»Ich muss mich erst konzentrieren«, sagte er. »Es liegt so vielerlei vor. Ihr Herr Gemahl schrieb mir im Auftrag des Fürsten Dejali.« Er fasste sich an die Stirn, als dächte er nach.
»Ja, gewiss. Der Fürst möchte Verbindung zu seiner Tochter aufnehmen und erinnerte sich, dass Sie mit seiner ersten Frau …«
»Seiner dritten Frau«, warf Dr. Camphausen mit einem hintergründigen Lächen ein, »befreundet waren. Das wollten Sie doch sagen?«
Tatjana sah ihn leicht irritiert an. »Ich habe keine Ahnung, dass es bereits seine dritte Frau war«, sagte sie. »Der eigentliche Mittelsmann ist ja auch mein Mann. Der Fürst hat in Erfahrung gebracht, dass aus Evelyn von Dongen eine Frau Boerden wurde, dass dieser Herr Boerden Saskia adoptierte und später starb.«
»Er wurde ermordet«, sagte Dr. Camphausen, ohne sie aus den Augen zu lassen. Er bemerkte, wie alle Farbe aus ihrem Gesicht wich.
»Ermordet?«, hauchte sie. »Ist das bewiesen?«
»So gut wie. Allerdings erst in jüngster Zeit. Neue Ermittlungen sind im Gange.«
Er lobte sich selbst seiner Geistesgegenwart, denn er konnte sehr gut beobachten, dass Tatjana van Reyken sehr nervös wurde.
»Das ist allerdings schrecklich«, sagte sie, »aber um so mehr wird Fürst Dejali bemüht sein, seine Tochter unter seinen Schutz zu nehmen.«
»Sie verübeln es mir nicht, dass ich daran Zweifel hege?«, fragte Dr. Camphausen. »Der Fürst hat meines Wissens drei Söhne. Auf eine Tochter legt er doch keinen Wert.«
»Nun, er fühlt sich immerhin als ihr Vater. Er möchte sie sehen. Er möchte sie vor materieller Not schützen.«
Nun kommen wir der Sache schon näher, dachte Dr. Camphausen. Sie will herausbringen, wie viel Saskia zu erwarten hat, wenn ihre Mutter stirbt.
»Das ist sehr lobenswert von dem Fürsten«, sagte er. »Saskia wird es brauchen können, denn ihr hat ihr Stiefvater nichts vererbt.«
Tatjana erstarrte. Dr. Camphausen hatte seine helle Freude daran, und er bedauerte es, nicht frohgemut vor sich hinpfeifen zu können, wie er das sonst gern tat, wenn er sich auf der Siegerseite wähnen konnte.
»Er hat ihr nichts vererbt«, sagte Tatjana tonlos. »Ein richtiger Stiefvater also.«
»Er hat schließlich einen Sohn. Nicht nur Fürsten ziehen einen Sohn und Erben vor, meine liebe Madame von Reyken. Nun, immerhin wird Saskia vorerst durch ein kleines Erbe von ihrer Mutter gesichert sein, die sehr schwer erkrankt ist.«
»Wie schrecklich für dieses junge Mädchen«, sagte Tatjana scheinheilig. »Sie können mir ihren Aufenthaltsort nennen? Wir möchten es gern dem Fürsten berichten, damit er sich selbst um sie kümmern kann.«
»Saskia befindet sich am Krankenbett ihrer Mutter. Diese arme Frau war vielen Gefahren ausgesetzt, obgleich sie ja buchstäblich von der Gnade des jungen Cornelius Boerden lebte.«
»Er ist also der Alleinerbe«, entfuhr es Tatjana nun doch unbedacht.
Dr. Camphausen zuckte die Schultern.
»So genau weiß ich das nicht, ich vertrete nur Frau Boerden. Da Saskia für Cornelius Boerden gar nichts übrig hat – man kann ihn ja nicht einmal ihren Stiefbruder nennen, glaube ich auch nicht, dass er bereit wäre, etwas für das Mädchen zu tun. Es wäre natürlich ganz wunderbar, wenn der Fürst sich jetzt einmal großmütig zeigen würde. Allerdings, das muss ich einräumen, habe ich meine Erfahrungen mit ihm gesammelt. Ich war der Meinung, dass er bereits vergessen hat, dass ihm einmal vor neunzehn Jahren eine Tochter geboren wurde.«
Das hat er sich dann doch nicht verkneifen können.
Tatjana war totenblass. Ihre Mundwinkel zitterten. Dr. Camphausen spürte, dass sie jetzt möglichst schnell verschwinden wollte. Er überlegte noch, was er tun könnte, um sie festzuhalten, aber er setzte sein ganzes Vertrauen auf das Detektivinstitut Pichler und ließ sie gehen.
Er verabschiedete sich mit einer knappen Verbeugung.
In fast panischer Eile entfernte sich Tatjana.
*
Sie warf sich schwer atmend in den Wagen. »Nichts, nichts bekommt sie!«, stieß sie hervor.
»Rede doch keinen Unsinn!«, zischte Anatol van Reyken.
»Cornelius erbt alles«, schrie sie fast. »Magnus muss doch noch die Wahrheit erfahren haben.«
»Er war erst ein paar Tage nach seinem Tode angekommen«, stieß er zwischen den Zähnen hervor.
»Du hast Magnus beobachtet, aber nicht Cornelius«, sagte sie.
»Halt den Mund«, sagte er wütend.
»Es hört doch niemand. Und wenn Dr. Camphausen nun an den Fürsten schreibt?«
»Das dauert seine Zeit. Nur keine Panik, mein Täubchen. Es ist wohl ein Umweg, aber mir fällt schon etwas ein.«
Aber er war noch so in Gedanken, dass er nicht bemerkte, dass ihnen der graue Volkswagen wieder folgte. Er war gereizt, aber Kurti Schnell summte ein fröhliches Liedchen vor sich hin, als sie dann vor einem anderen Hotel hielten.
*
Es hatte lange gedauert, bis Cornelius zu sprechen begann. Sie waren durch einen nahen Park gelaufen, so schnell, als gelte es, eine Medaille zu erringen. Saskias Wangen hatten sich rosig gefärbt.
»Hast du Hunger?«, fragte Cornelius. »Oder gestattest du nicht, dass ich dich duze?«
»Das ist mir jetzt egal«, erwiderte Saskia. »Vielleicht habe ich mich wie ein dummes Kind benommen, aber als Bruder kann ich dich doch nicht betrachten.«
»Dann vielleicht als Freund«, sagte er mit einem versteckten Lächeln.
»So schnell schließe ich nicht Freundschaft«, sagte sie aggressiv.
»Ich wäre schon damit zufrieden, wenn du mich nicht mehr als Feind betrachten würdest, Saskia«, sagte Cornelius, ohne eine Spur von Gekränktheit zu zeigen.
»Ich habe so viel nicht verstanden«, sagte sie leise.
»Du warst damals noch ein kleines Mädchen, und ich musste auch erst richtig erwachsen werden, bis ich begreifen lernte.«
»Wie alt bist du eigentlich?«, fragte sie nun.
»Dreißig.«
Kein Junge mehr, sondern ein richtiger Mann. Aber zwischen damals und heute hatte sich viel verändert. Sie war wirklich noch ein kleines und sehr trauriges Mädchen gewesen, und er war ihr mächtig alt vorgekommen, weil er so groß gewesen war wie heute und sie so zu ihm aufblicken musste, wollte sie in sein Gesicht sehen. Es war nicht in ihren kleinen Kopf hineingegangen, dass ihr Papi einen so ›alten‹ Sohn haben sollte.
Heute nun schien die Differenz in der Größe aber auch im Alter zusammengeschrumpft zu sein. Immerhin ging sie ihm bis zur Schulter und war neunzehn.
»Hat dir Dr. Camphausen alles Wichtige gesagt?«, fragte Cornelius, während sie noch über ihn und auch über sich nachdachte.
»Er hat mir sehr viel gesagt. Hattest du ihm gestattet, dass er über dich spricht?«
»Wenn er mir das abgenommen hat, muss ich ihm sogar dankbar sein. Über mich spreche ich nicht so gern. Wir wollen über dich sprechen, Saskia. Wie hat es dir im Internat gefallen?«
»Ich habe viel gelernt. Innen war es nicht so düster wie von außen.«
Er wurde leicht verlegen, weil er sich erinnerte, dass sie seine Briefe gelesen hatte. Evelyn hatte es ihm gesagt. Und er erinnerte sich auch, dass er von dem düsteren Schloss geschrieben hatte.
»Hast du Freundinnen gewonnen?«, fragte er behutsam.
»Ich wollte keine haben. Mädchen sind meist auch sehr schwatzhaft.«
Es rührte ihn. Sie war so aufrichtig, so ernsthaft und nachdenklich.
»Ich bin zurückgekommen, obgleich Mutter es nicht wollte. Es musste so sein«, fuhr sie fort, »sonst würde sie vielleicht gar nicht mehr leben. Reyken hätte den Arzt bestimmt nicht geholt. Dr. Camphausen erzählte mir, dass deine Mutter Reyken schon lange kannte.«
»Das ist milde ausgedrückt.«
»Wir brauchen darüber nicht zu reden. Ich kann mir denken, dass es dir nicht angenehm ist.«
Wie gut sie sich einfühlen konnte! Sie setzte ihn immer mehr in Erstaunen. Zuerst war sie ihm nur wie eine liebliche fremdländische Blume erschienen, die sich noch nicht voll entfaltet hatte. Jetzt wurde ihm bewusst, dass sie sich noch gar nicht entfalten konnte, weil sie nach innen lebte, aber was in ihr steckte, war erstaunlich und des Nachdenkens wert.
»Ich war sehr bestürzt, als ich das Telegramm von Evelyn erhielt«, sagte er.
»Was hatte Mutter telegrafiert?«
»Bitte dringendst um Hilfe. Ja, es war ein richtiger Hilfeschrei. Ich fühlte es. Und nun weiß ich auch, warum sie Hilfe brauchte. Reyken hatte sie überrumpelt. Ein kaltblütiger Bursche.«
»Widerwärtig«, sagte Saskia zornig.
»Er hat sich aus dem Staube gemacht, aber wir werden ihn schon zu fassen bekommen.«
»Hat er etwas mit Papis Tod zu tun?«, fragte Saskia.
»Es kann möglich sein. Bitte, befasse du dich nicht damit. Ich möchte nicht, dass er dir noch einmal in den Weg läuft, aber sollte das aus irgendwelchen Gründen unvermeidbar sein, Saskia, dann lauf davon und rufe laut um Hilfe.«
Sie hob den Kopf und schob ihr Kinn vor. »Ich will, dass Papi gerächt wird. Wer immer es auch sein mag, der ihn tötete, er soll dafür büßen.« Sie sagte es so hart, dass es ihn fröstelte. Dieses zarte, anmutige Wesen konnte hassen. Einem Kind war unendliches Leid zugefügt worden, das mit den Jahren nicht schwächer, sondern stärker geworden war.
Saskias Blick war nun voll auf Cornelius gerichtet. Ihre Augen hatten den schwermütigen Ausdruck verloren.
»Ja, du siehst deinem Vater ähnlich«, sagte sie gedankenvoll.« Aber du konntest ihn nicht so lieben, wie ich ihn geliebt habe. Die Welt war schön und gut, solange er bei uns war. Wenn es einen Gott gibt, wie kann er es zulassen, dass ein so guter Mensch sterben muss und sein Mörder nicht bestraft wird.«
»Manchen ereilt die Strafe erst spät.«
»Du glaubst an Gerechtigkeit?«
»Ich hoffe darauf«, erwiderte er. »Es gibt nicht nur Hass auf der Welt. Es gibt auch Liebe, Saskia.«
»Ja, es gibt auch gute Menschen«, sagte sie sinnend. »Felicitas Norden und ihr Mann, und …«, sie ließ ihren Blick in die Ferne schweifen, »ich vertraue dir, Cornelius. Jetzt sind wir doch schon ganz gute Freunde geworden.«
Da griff er nach ihrer Hand und hielt sie fest.
»Ich danke dir für diese Worte, Saskia.«
»Es sind keine Worte, es sind Gedanken.«
*
»Was wollen wir jetzt tun, Anatol?«, fragte Tatjana.
»Du bist doch sonst immer so schlau!«, fauchte er sie an. »Du hast alles eingefädelt. Du warst so überzeugt, dass Magnus Cornelius niemals anerkennen würde.«
Sie kniff die Augen zusammen. »Und wenn dieser Camphausen mich nur hinter’s Licht führen wollte?«, überlegte sie. »Diese Diplomaten sind doch mit allen Wassern gewaschen und undurchschaubar. Sprich gefälligst nicht in diesem gereizten Ton mit mir«, wechselte sie dann das Thema. »Wenn du Magnus dieses Land damals nicht verkauft hättest, wäre alles anders gekommen.«
Sein Gesicht verzerrte sich. Ja, das war der größte Fehler gewesen, aber er hatte es ja für völlig wertloses Land gehalten. Nach Jahren erst war er fündig geworden. Seither ließ es ihm keine Ruhe mehr. Ihm war das Geld immer buchstäblich durch die Finger gelaufen. Wie gewonnen, so zerronnen. Und mit diesem Land, mit dem er Magnus Boerden hereinzulegen geglaubt hatte, wäre er ein steinreicher Mann geworden. Er, der sich immer für viel schlauer gehalten hatte als den fleißigen und soliden Magnus. Und nun sollte Cornelius alles bekommen.
»Wir konnten doch nicht ahnen, dass Cornelius sich mit der Witwe seines Vaters zusammentun würde«, sagte er. »Du warst doch so überzeugt, dass dein Neffe seinen Vater hasst.«
»Fangen wir nicht wieder damit an«, sagte sie scharf. »Wir dürfen jetzt keinen Fehler mehr machen. Uns steht das Wasser bis zum Hals, wenn ich dich daran erinnern darf.«
Van Reyken lief im Zimmer auf und ab. »Ich muss unter Beweis stellen, dass ich im Auftrag von Dejali handele«, sagte er dann.
»Und wie willst du das anfangen?«
»Er hält sich in der Schweiz auf. Wenn ich ihm sage, dass Evelyn tot ist und seine Tochter mittellos dasteht, wird er seine Ohren nicht verschließen. Er hat sich damals sehr interessiert gezeigt, als ich ihm berichtete, wo Evelyn lebt und mit wem sie verheiratet ist.«
»Und hat Magnus darauf umbringen lassen«, sagte Tatjana.
»Das ist nicht zu beweisen«, erklärte van Reyken erregt.
Tatjana kniff die Augen zusammen. »Oder hast du Magnus umgebracht?«, fragte sie mit einem tückischen Unterton.
»Nimm dich in Acht, Tatjana!«, fuhr er sie an.
»Ich frage mich, warum er Magnus hätte umbringen sollen«, sagte sie hintergründig.
»Beleidigter Stolz. Er hat es Evelyn nicht verziehen, dass sie ihn verlassen hat. Es kränkte ihn in seiner Ehre. Dort haben die Frauen keine Rechte. Sie haben den Männern zu gehorchen. Es ist ihnen nicht gestattet, eigene Entscheidungen zu treffen. Und dass sie mit einem Bürgerlichen glücklich wurde, konnte er nicht ertragen.«
»Du redest so viel, dass ich an die Wahrheit dieser Worte nicht glaube«, sagte Tatjana.
Er warf ihr einen vernichtenden Blick zu. »Das musst ausgerechnet du sagen. Wann hast du schon einmal die Wahrheit gesagt. Du warst es doch, die Magnus eingeflüstert hat, dass Cornelius nicht sein Sohn ist. Du wolltest ihn für dich haben, ihn, aber vor allem sein Geld. Vielleicht hast du ihn umgebracht.«
»Während er in Tirol war und ich in Frankreich?«
Er blieb vor ihr stehen und verschränkte die Arme über der Brust.
»Du warst nicht in Frankreich an diesem Tag«, sagte er kalt.
Ihr verschlug es die Stimme. »Komm mir ja nicht auf diese Tour«, erwiderte sie ihm dann mit einem gefährlichen Unterton. »Es könnte schlimm für dich ausgehen.«
*
Gerade in dem Augenblick, als Dr. Daniel Norden zu einem Patienten gerufen worden war, erschien Edwin Pichler in der Praxis. Daniel bedauerte es zutiefst, dass er nicht verweilen konnte, denn Pichler war es anzusehen, dass er Neuigkeiten brachte.
Die Sprechstunde war beendet. Molly war schon heimgefahren. Fee hatte Zeit für ihren Besuch.
Sie nahm Herrn Pichler mit hinauf in die Wohnung. Lenchen brummelte etwas vor sich hin, aber das tat sie immer, wenn der Doktor nicht pünktlich zum Essen erschien.
Es kränkte sie sichtlich, dass ein fremder Mann der jungen Frau Doktor dabei Gesellschaft leisten durfte, aber als Edwins Augen aufleuchteten und er sich die Lippen schleckte, als sie das Mittagessen auftrug, war Lenchen versöhnt, da sie in ihm einen Menschen erkannte, der wohl nicht so gut versorgt wurde.
»Da läuft einem das Wasser im Munde zusammen«, sagte Edwin Pichler. »Wenn ich nur wüsste, dass mir solche Annehmlichkeiten beschieden sein könnten, würde ich meinem Junggesellenleben auch Adieu sagen. Aber wer würde mich schon nehmen.«
»Das sagen Sie mal nicht«, meinte Fee freundlich. »Es gibt viele nette Frauen, die genauso denken.«
»Vielleicht läuft Ihnen mal eine über den Weg, die zu mir passen würde«, sagte er verschmitzt.
Fee war sehr neugierig, was er zu berichten hatte, aber er stürzte sich mit solchem Heißhunger auf das Essen, dass sie keine Fragen stellte.
»Entschuldigen Sie, aber seit gestern mittag habe ich nichts mehr gegessen«, sagte er dann verlegen. »Und es schmeckt einfach wunderbar.«
»Ja, unser Lenchen ist ein Juwel«, sagte Fee. »Ich hatte bei Ihnen angerufen und hörte, dass Sie unterwegs wären.«
Er nickte. »Hier hat Kurti die Stellung gehalten und er ist am Drücker geblieben. Wir wissen, wo die Reykens sich aufhalten, und auch dass die Frau Dr. Camphausen aufgesucht hat. Mit ihm zu sprechen hatte ich leider noch keine Zeit. Ich war in Tirol.«
»In Tirol?«, wiederholte Fee fragend.
»Ja, ich bin dem geheimnisvollen Tod von Magnus Boerden noch einmal unter anderen Voraussetzungen nachgegangen. Ich hatte da so eine Eingebung. Manchmal findet ja ein blindes Huhn auch ein Korn.«
»Und was haben Sie in Erfahrung gebracht?«, fragte Fee.
»Erstens mal, dass ein Perser unter den Jagdgästen war. Ein Mann namens Ragibi.«
»Klingt mehr türkisch«, meinte Fee.
»Ist doch alles eine Gesellschaft«, brummte Edwin Pichler. »Nach so vielen Jahren ist es nicht einfach, noch eine Spur zu finden, aber manche Menschen haben zum Glück ein gutes Gedächtnis. Ich musste mir ganz schön die Hacken ablaufen, bis ich herausfand, dass auch Reyken und Tatjana Grigorski dort gesehen worden waren.«
»Tatjana Grigorski?«
»Jetzt Frau van Reyken. Magnus Boerdens erste Frau war eine geborene Grigorski.Tatjana ist seine Schwägerin. Einer von den dreien kann den tödlichen Schuss abgefeuert haben. Es fragt sich nur wer?«
»Und das Motiv?«, fragte Fee gedankenvoll.
»Hass oder Geldgier.«
»An einen Unfall glauben Sie jetzt nicht mehr?«
»Nein, jetzt nicht mehr«, bestätigte Edwin Pichler. »Ich bin gespannt, was ich von Dr. Camphausen erfahren werde. Er ist nach Wien geflogen, wird morgen aber wieder zurück sein.« Er machte eine kleine Pause. »Wie geht es Frau Boerden?«, fragte er dann.
»Unverändert. Ich will jetzt mal in die Klinik fahren und mich um Saskia kümmern.«
»Das Essen war einfach wunderbar«, sagte Edwin Pichler. »Ich bedanke mich vielmals.«
»Sagen Sie es Lenchen. Sie wird sich freuen, aber Sie müssen sehr laut sprechen, denn sie ist schwerhörig.«
Er sagte es so laut, dass sich selbst Lenchen nicht anstrengen musste, um es zu verstehen, und sie strahlte.
»Das nächste Mal können Sie ja auch wieder zur Mittagszeit kommen«, meinte Fee verschmitzt.
»Lästig werden möchte ich auch nicht«, erwiderte Edwin Pichler. »Aber wenn man immer im Restaurant isst, schmeckt solches Essen doppelt gut. Nun auf zu frischen Taten.«
Würden seine Bemühungen nach all den Jahren noch Licht in das Dunkel bringen? Fee wagte es zu bezweifeln, obgleich sie ihm viel zutraute. Aber wichtiger war doch, dass neue Gefahren von der sensiblen Saskia ferngehalten wurden.
Darum wollte sich auch Cornelius Boerden bemühen, wie Fee dann in der Klinik erfuhr.
Cornelius unterhielt sich mit Dr. Behnisch, der ihn mit Fee bekannt machen wollte.
»Wir kennen uns schon«, sagte Fee schnell und reichte Cornelius mit einem liebenswürdigen Lächeln die Hand.
Dieter Behnisch war entschlossen, sich über nichts mehr zu wundern, was mit den Boerdens zusammenhing. Seine Sorge galt in erster Linie der Patientin, und seine Hilflosigkeit in diesem Fall bedrückte ihn.
Auf die Beruhigungsmittel sprach Evelyn gut an, das hatte er Cornelius eben erklärt. Doch die Stärkungsmittel blieben wirkungslos.
Fee dachte unwillkürlich an die Herzverpflanzungen, die schon mit Erfolg durchgeführt waren. Und geistesabwesend sprach sie es auch aus.
»Das wäre hier kaum möglich«, sagte Dr. Behnisch.
»Evelyn würde auch niemals einwilligen«, sagte Cornelius ruhig. »Für sie ist das Herz nicht einfach ein Organ. Sie trägt in ihrem Herzen die Liebe zu meinem Vater. Sie würde einer solchen Operation niemals zustimmen, selbst wenn ihr Leben damit gerettet werden könnte.«
Fee sah den jungen Mann nachdenklich an. Seine Worte verrieten ihr, wie gefühlvoll er war.
»Und eine solche Operation wäre auch sinnlos, denn ich muss es wohl sagen«, Dr. Behnisch schluckte schwer, und das veriet Fee, dass ihm das Sprechen schwerfiel, »Frau Boerden hat Brustkrebs, wodurch ihr Herzleiden sich rapide verschlimmert hatte.«
Tiefe Erschütterung drückte sich in Cornelius’ Mienenspiel aus. Er war keines Wortes mächtig. Auch Fee nicht.
»Ich bitte, mich zu entschuldigen«, sagte Dr. Behnisch. »Ich muss nach einem Frischoperierten sehen.«
Langsam gingen Fee und Cornelius dann den Flur entlang. »Es ist wohl fast zu viel für Saskia«, sagte Fee.
Cornelius nickte. »Ja, ich weiß nicht, ob ich jetzt noch an eine Gerechtigkeit glauben kann.«
Fragend sah Fee ihn an. Da erzählte er ihr von seinem Gespräch mit Saskia.
»Es ist schlimm, wenn ein junger Mensch allen Glauben verlieren muss«, murmelte er. »Saskia macht sich nach außen hin so stark und ist doch solch ein zerbrechliches Geschöpf.«
»Sie sind sich nähergekommen?«, fragte Fee.
»Ja, wir sind auf dem Wege, Freunde zu werden, und das macht mich glücklich.«
Er ist stark, ging es Fee durch den Sinn, stark wie sein Vater. Er wird Saskia Halt geben. Mit dieser Zuversicht betrat sie das Krankenzimmer.
Saskias Augen leuchteten kurz auf, aber dies konnte nicht den kummervollen Ausdruck ihres lieblichen jungen Gesichtes verwischen.
Evelyn Boerden war bei Bewusstsein. Diese Spannen wurden jedoch immer kürzer. Auch über ihr schmales, leidvolles Gesicht huschte ein freudiger Schein, aber sie hatte kaum noch Kraft, Fee die Hand zu reichen.
»Wie lieb, dass Sie sich Saskias so angenommen haben, Frau Dr. Norden«, hauchte sie.
Fee lächelte dem Mädchen zu. »Wir mögen uns, nicht wahr, Saskia?«, sagte sie weich.
»Ja, Fee.«
»Die schönen Blumen«, sagte Evelyn, als Fee ihr den bunten Strauß auf die Bettdecke legte. »Würdest du bitte eine Vase holen, Liebes?«
Saskia nickte und ging schnell hinaus. »Ein paar Minuten möchte ich mit Ihnen allein sprechen«, sagte Evelyn nun. »Saskia wird Freunde brauchen. Es wird mit mir bald zu Ende sein.«
Sie sagte es ruhig, und Fee brachte kein aufmunterndes Wort über die Lippen.
»Saskia hat Freunde«, sagte sie, und das war ein Versprechen. »Da draußen vor der Tür wartet auch einer.«
»Cornelius«, flüsterte Evelyn. »Er ist wie sein Vater. Er ist in Gefahr. Ich fühle es. Möge Gott es verhüten, dass ihm das gleiche widerfährt.«
Tränen perlten über ihre Wangen, die Fee behutsam wegwischte.
»Er wird der Gefahr ins Auge sehen und sich zu schützen wissen, Frau Boerden«, sagte sie.
»Was wissen Sie?«, fragte Evelyn.
»Sehr viel. Wir wissen, woher die Gefahr kommt.«
»Magnus hat es nicht gewusst. Er ist in eine Falle gelockt worden. Tatjana – der Brief – im Bild«, mühsam richteten sich ihre Augen auf die Fotografie von Magnus Boerden, dann schwanden ihr wieder die Sinne.
Zusammenhanglose Worte, aber wenn man darüber nachdachte, ergaben sie einen Sinn. Fast unbewusst und doch unter einem Zwang, griff Fee nach dem Rahmen. Die Rückseite war nicht mit kleinen Haken befestigt, wie es sonst gang und gäbe war. Er war mit einem Leinenband verklebt.
Saskia kam mit der Vase. Sie hatte draußen noch mit Cornelius gesprochen, da sie gefühlt hatte, dass ihre Mutter ein paar Minuten mit Fee allein sein wollte. Sie blickte kummervoll auf die schlafende Kranke. »Sie wird immer schwächer«, sagte sie bebend.
Fee überlegte, ob sie Saskia sagen sollte, was die Kranke geflüstert hatte. Dann fasste sie den Entschluss, darüber lieber mit Cornelius zu sprechen.
»Saskia, möchten Sie die kommende Nacht nicht bei uns verbringen?«, fragte sie weich.
»Ich möchte bei Mutter bleiben«, erwiderte das Mädchen. »Cornelius kommt nachher auch wieder.«
Fee traf ihn dann glücklicherweise noch in der Halle. Möglicherweise konnte es ungeheuer wichtig sein, was die Kranke gesagt hatte, wenn auch nicht auszuschließen war, dass ihre Kombination falsch war. Sie erzählte Cornelius auch, was sie von Edwin Pichler erfahren hatte.
»Ich wollte ohnehin zu Dr. Camphausen fahren«, sagte er.
»Er ist in Wien. Wahrscheinlich ist er erst morgen zurück.«
»Jeder Tag, ja, jede Stunde ist kostbar«, sagte Cornelius. »Wo kann ich Herrn Pichler erreichen?«
Fee sagte es ihm. »Wollen Sie sich nicht erst überzeugen, ob sich ein Brief hinter dem Bild befindet?«, fragte sie.
»Unter Saskias Augen? Nein, das kann ich nicht. Sie soll so wenig wie nur möglich von dem erfahren, was sie erschrecken könnte.«
»Jenny Lenz könnte dafür sorgen, dass sie eine Zeit nicht im Zimmer ist«, meinte Fee nachdenklich. »Natürlich ist es auch möglich, dass ein Brief hinter einem anderen Bild versteckt ist, das im Hause an der Wand hängt, aber ich glaube es nicht. Frau Boerden blickte auf das Bild Ihres Vaters.«
Sie überlegte. »Allerdings wird es nicht einfach sein, die Rückwand wieder genauso zu verkleben.«
»Warum hat Evelyn zu mir nicht davon gesprochen?«, fragte Cornelius.
Warum? Fee wusste darauf keine Antwort.
»Die einzige Erklärung dafür ist für mich, dass sie diesen Brief, sofern er existiert, erst vor kurzem gefunden hat«, überlegte Cornelius. »Evelyn hätte bestimmt mit mir darüber gesprochen, wenn er einen Hinweis auf das damalige Geschehen enthält. Ich muss mich überzeugen. Bitte, verhelfen Sie mir dazu, dass ich eine Viertelstunde allein im Krankenzimmer sein kann.«
Fee sprach mit Jenny Lenz. Als sie zu Cornelius zurückkam, sah sie ihm fest in die Augen.
»Sie werden Gelegenheit dazu haben, Herr Boerden. Jenny wird mit Saskia zu Abend essen.«
Sie schieden mit einem festen Händedruck. Cornelius musste sich noch in Geduld fassen. Für Fee war es höchste Zeit, in die Praxis zu kommen.
*
Dort warteten schon ein paar Patienten vor der Tür. Ziemlich deutlich gab man ihr zu verstehen, dass solches nicht vorgekommen war, solange Molly noch nachmittags hier gewesen sei.
Sie entschuldigte sich freundlich damit, dass sie noch Arztbesuche habe machen müssen. Daniel kam wenig später. Er hatte es nicht mehr geschafft, in die Behnisch-Klinik zu fahren, wie er es sich vorgenommen hatte. Er hatte die kleine Inge, deren Zustand sich verschlechtert hatte, in die Klinik gebracht. Fee war zutiefst erschrocken, als er ihr sagte, dass bei dem Kind Verdacht auf Meningitis bestünde.
Hirnhautentzündung in Verbindung mit Mumps! Seltsam war das schon, dass Krankheiten, die früher zwar als unangenehm empfunden wurden, aber doch gefahrlos erschienen, plötzlich solche Komplikationen zeigten.
Daniel hatte jetzt keine Zeit, dass sie mit ihm sprechen konnte, und außerdem klingelte es schon wieder.
Fee drückte auf den Öffner und schrak zusammen, denn durch die Tür trat jene Frau, die sich Tatjana Anatol nannte, und von der Fee bereits wusste, dass sie Frau van Reyken war.
Damit konnte Tatjana nicht rechnen, denn sie hatte nicht die geringste Ahnung, dass sie unter Beobachtung stand. Es sprach für die perfekte Arbeit des Detektivinstitutes Pichler und Schnell.
Ihr selbstsicheres Auftreten war verblüffend. »Ich war schon vor einigen Tagen hier«, sagte Tatjana. »Da war eine andere Sprechstundenhilfe hier. Mein Name ist Anatol.«
Sie hat keine Ahnung, dass ich Daniels Frau bin, ging es Fee blitzschnell durch den Sinn, und es ist wohl auch besser, wenn sie es nicht erfährt.
»Meine Migräne hat sich verschlimmert«, sagte Tatjana. »Ich fühle mich sehr elend.«
»Sie werden sich aber etwas gedulden müssen«, sagte Fee zögernd. »Ich werde Dr. Norden fragen, ob er Sie einschieben kann.«
Ihre Gedanken überstürzten sich. Wahrscheinlich hatte van Reyken seiner Frau erzählt, dass sie mit Saskia im Hause gewesen war. Zumindest war das nicht auszuschließen. Es war auf jeden Fall besser, die Sprechstundenhilfe zu spielen.
»Bitte, warten Sie hier«, sagte sie zu Tatjana und führte sie in das Büro.
Dann ging Fee ins Sprechzimmer, was sie nur in ganz besonderen Fällen tat.
Daniel wusste das, entschuldigte sich bei der Patientin und ging mit Fee ins Labor.
Er war auch maßlos überrascht, als sie ihm sagte, wer gekommen sei. »Nun bin ich aber sehr gespannt«, meinte er.
»Ich auch. Also behandle mich bitte als deine Sprechstundenhilfe.«
»Wird mir schwerfallen«, erwiderte er lächelnd.
Fee ging ins Büro zurück. Tatjana saß auf dem Stuhl, die Beine übereinandergeschlagen, eine Zigarette in der Hand, dennoch hatte Fee das Gefühl, dass sie sich am Aktenschrank zu schaffen gemacht hatte.
»Bitte nicht rauchen«, sagte sie.
»Entschuldigung, eine lästige Gewohnheit«, sagte Tatjana. Fee zog den oberen Karteikasten heraus und
nahm die Karte mit dem Namen Anatol an sich.
»Darf ich Sie noch um einige Daten bitten, gnädige Frau«, sagte sie. »Ihre Karte ist unvollständig ausgefüllt.«
»Ich wusste gar nicht, dass schon eine existiert«, sagte Tatjana nervös.
Es bereitete ihr Genugtuung, dass Tatjana immer nervöser wurde.
»Ihr Geburtsdatum und Ihre Adresse bitte«, sagte sie.
»Ist das denn so wichtig? Ich werde mich nur ein paar Tage hier aufhalten. Aber Dr. Norden hatte mir eine klinische Untersuchung empfohlen, und ich habe eingesehen, dass dies wohl nötig sein wird.«
Aha, daher weht der Wind, dachte Fee. Sie will in die Behnisch-Klinik, und Daniel soll ihr dazu verhelfen.
»Dr. Norden kann ja die Eintragungen selber machen«, sagte sie leichthin.
Das Telefon läutete, und zu ihrem Erschrecken war Cornelius am Apparat.
»Nein, das geht leider nicht. Dr. Norden ist sehr beschäftigt«, sagte sie. »Rufen Sie bitte später wieder an.«
Was Cornelius wohl jetzt für ein Gesicht machen mochte? Sie hatte ihn gar nicht zu Wort kommen lassen.
Das Telefon läutete wieder. Und noch einmal war es Cornelius.
»Ist jemand in der Praxis, der mich kennt?«, fragte er leise.
»Ja«, erwiderte Fee. »Ich werde Herrn Doktor Bescheid sagen, dass er vorbeikommen soll. Sie brauchen sich nicht zu ängstigen. Machen Sie einstweilen kalte Wadenwickel.«
»Dr. Norden ist ein vielbeschäftigter Arzt«, stellte Tatjana fest. »Ich entnahm dem Türschild, dass er die Praxis mit seiner Frau gemeinsam betreibt.«
Fee fing einen lauernden Blick auf und bekam es mit der Angst, dass Tatjana nun doch noch misstrauisch werden würde. Zu ihrer Erleichterung erschien jetzt Daniel.
Tatjana erhob sich hastig.
»Sie erinnern sich an mich?«, fragte sie.
»Gewiss. Darf ich bitten, gnädige Frau?«
Über die Schulter hinweg, warf er Fee einen schalkhaften Blick zu. »Sie vertrösten bitte die anderen Patienten, Fräulein Cornelius«, sagte er mit hintergründiger Betonung, was Fee sehr gewagt fand.
Tatjana reagierte auch aufgeregt. »Cornelius?«, fragte sie heiser.
»So heißt meine Hilfe«, erwiderte Daniel. »Wie war doch gleich Ihr Name? Mein Personengedächtnis ist besser als mein Namensgedächtnis.«
»Anatol«, erwiderte Tatjana.
»Und wo fehlt es? Wirken die Tabletten nicht mehr?«
»Ihre Diagnose scheint gestimmt zu haben, Herr Doktor. Es muss etwas anderes dahinterstecken. Sie sehen, ich habe so großes Vertrauen zu Ihnen, dass ich hierher zurückgekehrt bin. Ich wollte Ihrem Rat folgen und mich vielleicht doch einer klinischen Untersuchung unterziehen. Ich hörte bei meinem ersten Besuch zufällig, dass Sie mit einer sehr guten Privatklinik Verbindung haben.«
»Ja, das stimmt. Privatklinik Dr. Behnisch, aber leider ist sie sehr belegt.«
»Ich bin bereit, jeden Preis zu zahlen, um von diesen entsetzlichen Beschwerden befreit zu werden«, sagte Tatjana mit leidender Stimme. »Ich kann keine Nacht mehr schlafen.«
Auch Daniel stellte fest, dass sie genauso aussah. Das Gewissen plagte sie wohl, und wenn sie kein Gewissen hatte, dann vielleicht die Furcht. Aber was wollte sie in der Behnisch-Klinik? An Evelyn Boerden herankommen oder an Saskia? Es war äußerst riskant, aber es bot sich auch die Chance, die Pläne dieser Frau und van Reykens aufzudecken. Erbaut würde Dieter Behnisch natürlich nicht sein, wenn seine Klinik zum Schauplatz einer dramatischen Entwicklung ausersehen wurde.
Während er überlegte, maß er Tatjanas Blutdruck, der tatsächlich nicht in Ordnung war. Auch der Puls flatterte. Wenn ihr organisch auch nichts fehlen mochte, was er allerdings auf Anhieb nicht beurteilen konnte, so befand sie sich doch in einem Erregungszustand, der bedenklich war.
Vielleicht mochte sie mit Medikamenten, überstarkem Kaffee oder Aufputschmitteln nachgeholfen haben, aber was immer es auch sein mochte, es war ihrem Befinden bestimmt nicht zuträglich, da sie ohnehin von der Konstitution her zu überhöhtem Blutdruck neigen mochte. Außerdem hatte sie eine Schilddrüsenunterfunktion. Er sagte ihr das, und sie sah ihn erstaunt an.
»Das ist mir auch noch nicht gesagt worden«, erregte sie sich.
»Wann haben Sie sich das letzte Mal untersuchen lassen?«, fragte er.
»Wozu sollte ich mich untersuchen lassen? Ich war nie krank. Außer der Migräne natürlich«, berichtigte sie sich rasch, als er ihr einen eigentümlichen Blick zuwarf.
»Und die Tabletten sind Ihnen einfach so verschrieben worden«, bemerkte Daniel.
»Genauso, wie Sie sie mir verschrieben haben.« Ihr Lächeln wurde herausfordernd.
So ganz war er mit seinen Gedanken nicht bei der Sache, weil er unentwegt überlegte, wie er eine richtige Entscheidung treffen könnte, dann aber sagte er sich, dass man sie in der Behnisch-Klinik unter Aufsicht haben würde und eine Begegnung zwischen ihr und Saskia zu vermeiden war.
»Ich denke auch, dass Sie gründlich untersucht werden sollten«, sagte er. »Wenn Sie einverstanden sind, rufe ich jetzt meinen Kollegen Dr. Behnisch an.«
Das triumphierende Aufleuchten in ihren Augen entging ihm nicht, und nun fragte er sich, woher sie diese Kaltblütigkeit nahm. Anscheinend war es ihr bisher meistens gelungen, ihre Mitmenschen zu bluffen. Und wenn er nicht schon so viel über sie gewusst hätte, wäre er wohl auch keineswegs misstrauisch geworden.
Er behielt sie im Auge, während er die Nummer wählte. »Ja, hier Norden, Dr. Behnisch bitte«, sagte er ganz gelassen. »Grüß dich, Dieter, ich bin’s mal wieder. – Nein, darum handelt es sich nicht. Ich habe hier eine Patientin, die dringend durchuntersucht werden muss. Frau Tatjana Anatol, sie wohnt nicht ständig hier, leidet unter starker Migräne, Bluthochdruck, Schilddrüsenunterfunktion. Puls flatternd.« Er gebrauchte keine lateinischen Bezeichnungen und hoffte, dass Dieter deshalb hellhörig wurde, wenn schon der Name ihm augenblicklich nichts sagte.
Und Dieter Behnisch schaltete schnell. »Okay, wenn du es verantwortest. Aber wie sollen wir dann Saskia schützen?«, fragte er.
»Gleich informieren«, erwiderte Daniel. »Ja, ich schicke Frau Anatol zu dir.« Er sah Tatjana an. »Können Sie sich gleich zur Klinik begeben?«, fragte er.
Sie nickte. Ihr Gesicht hatte sich mit hektischem Scharlachrot bedeckt. Daniel Norden dachte sich manches.
»Ausnahmsweise macht es Dr. Behnisch möglich«, sagte er dann zu ihr. »Sie müssen aber mit einem Notzimmer vorliebnehmen.«
»Das macht nichts. Ich bin für das Entgegenkommen sehr dankbar«, erwiderte sie.
»Ich habe wirklich noch keinen so netten Arzt kennengelernt, Herr Dr. Norden. Schade, dass ich Sie nicht mitnehmen kann.« Sie lachte girrend. »Werden Sie sich auch mal um mich kümmern?«
»Selbstverständlich. Ich möchte schließlich wissen, was Ihnen wirklich fehlt«, erwiderte er. »Soll ich Ihnen ein Taxi rufen lassen?«
»Danke, ich bin mit dem Wagen da.«
»Da müsste ich als Arzt allerdings sagen, dass Sie sich nicht ans Steuer setzen sollen.«
»Nun, dieses kleine Stück werde ich gerade noch schaffen«, sagte Tatjana. »Zufällig habe ich vorhin einen Wegweiser gesehen, der zur Behnisch-Klinik führt. Weit ist es nicht«, fügte sie rasch hinzu.
»Ich brauche sechs Minuten«, sagte er leichthin.
Er begleitete sie zur Tür, um bei ihr den Eindruck zu erwecken, dass er beeindruckt von ihr sei, und das schien sie auch als sicher anzunehmen.
»Ihre Nachmittagssprechstundenhilfe ist übrigens sehr attraktiv«, stellte sie anzüglich fest. »Wird Ihre Frau da nicht eifersüchtig?«
»Das hat sie sich abgewöhnt«, sagte er hintergründig.
Fee lag auf der Lauer. »Übertreiben hättest du es auch nicht müssen«, neckte sie ihn. »Was ist nun los?«
»Sie fährt jetzt zur Behnisch-Klinik.«
»Danny, ist das nicht sehr gewagt?«, fragte sie atemlos.
»Riskant, ich gebe es zu. Aber ich bin überzeugt, dass sie sich unglaublich sicher dünkt. So viel Unverfrorenheit ist mir noch nicht passiert.«
»Meinst du nur. Sie ist blind und taub, weil ihr panische Furcht im Nacken sitzt. Ist Dieter ausreichend informiert?«
»Er ist nicht auf den Kopf gefallen.«
»Ich werde ihn lieber noch mal anrufen«, sagte Fee. »Mach du jetzt weiter, sonst verlierst du wegen dieser ekelhaften Person deine Patienten.«
Er lächelte breit. »Vielleicht schwenken sie dann zu dir über«, sagte er. »Im übrigen, Tatjana Anatol ist doch eine interessante Frau.«
»Eine Schlange ist sie«, sagte Fee mit zornsprühenden Augen. »Und musstest du mich ausgerechnet Fräulein Cornelius nennen?«
»Es ist noch gar nicht lange her, dass du diesen wohlklingenden Namen stolz getragen hast und gar nicht ablegen wolltest«, neckte er sie. »Sie war jedenfalls ziemlich aus der Fassung gebracht. Aber du kannst unbesorgt sein, Feelein. Sie ist nicht misstrauisch geworden. Sie ist von ihrer Wirkung auf Männer völlig überzeugt.«
»Und was ist das für eine Wirkung?«
»Auf mich wie eine kalte Dusche. Ich wäre ewig Junggeselle geblieben, wenn es nur solche Frauen gäbe.«
Nun wurde es aber wirklich höchste Zeit, dass er sich wieder an die Arbeit machte. Denn jede Minute, die so verschwendet wurde, ging ja ihrem Privatleben verloren. Fee dachte allerdings, dass dieses sowieso für die nächsten Tage von dem Geschehen in der Behnisch-Klinik bestimmt sein würde.
*
Dieter Behnisch war von Fee ausreichend informiert worden. Als Tatjana sich dann anmelden ließ, hatte er noch keine Zeit gefunden, mit Saskia zu sprechen, da dauernd etwas anderes dazwischenkam.
Er war heilfroh, als Tatjana ohne Zwischenfall in sein Zimmer gelangte. Er begrüßte sie so höflich, dass sie der Meinung sein musste, dass sie ihm von Dr. Norden ganz besonderns ans Herz gelegt worden wäre.
»Sie müssen mich leider noch fünf Minuten entschuldigen«, sagte er. »Ich muss noch nach einem Frischoperierten sehen. Dann kann ich mich Ihnen widmen, gnädige Frau.«
Tatjana machte es sich in einem tiefen Sessel bequem.
Es entwickelte sich doch alles bestens, dachte sie. Was wissen die denn schon über mich. Für Dr. Norden war Evelyn genauso eine Patientin wie ich. Er hat viel zu viel zu tun, um sich näher mit seinen Patienten zu befassen.
Sie sonnte sich in dem Gefühl, eine große Leistung vollbracht zu haben. Was wäre Anatol schon ohne sie? Und was konnte er eigentlich nützen? Auf ihn war doch kein Verlass. Er hatte immer nur Illusionen, aber keine ausgereifte Idee. Die hatte sie, und sie wollte sie auch zur Ausführung bringen.
Sie hatte ihrer Idee einen weiten Spielraum gegeben, und die erste Klippe hatte sie, ihrer Ansicht nach, spielend überwunden.
Während sie so dasaß und wohlgefällig in sich hineinlächelte, stand Dr. Behnisch vor Saskia und redete schnell auf sie ein. So schnell, dass sie ihm kaum folgen konnte.
»Ich kenne diese Frau nicht, und sie kennt mich nicht. In dieser Klinik gehen viele Leute aus und ein«, erklärte Saskia nachdenklich.
»Unser Plan ist aber, Frau von Reyken einer geplanten Straftat zu überführen und nicht, Sie zu gefährden, Fräulein Boerden«, sagte Dr. Behnisch. »Wir wollen herausbringen, was diese Frau im Schilde führt und auch, was sie mit allem, was bisher geschah, bezwecken wollte. Dr. Norden ist überzeugt, dass sie die falschen Tabletten besorgte, die Ihrer Mutter geschadet haben.«
»Dann wird sie dafür büßen«, stieß Saskia hervor.
»Wir brauchen Beweise. Wir werden dafür sorgen, dass sie nicht aus den Augen gelassen wird, aber Frau Dr. Norden würde es ihrem Mann nie verzeihen, wenn Sie in Gefahr gebracht würden.«
Saskia lächelte. »Um mich braucht Fee sich keine Sorgen zu machen«, flüsterte sie. »Sie ist eine wundervolle Frau. Ich habe sie sehr gern.«
»Dann seien Sie bitte ein braves Mädchen und befolgen Sie meinen Rat. Ich werde Sie auf dem laufenden halten, aber jetzt werde ich diese Tatjana van Reyken erst einmal untersuchen, um festzustellen, was ihr wirklich fehlt.«
Saskia sah ihn gedankenverloren an. »Sie wollte eine Krankheit vortäuschen«, sagte sie langsam. »Man soll sich nicht versündigen. Vielleicht gibt es doch eine Gerechtigkeit, und sie muss sehr viel leiden.«
Sie sprach es ganz ruhig aus, und sie sagte nicht, dass sie ihr diese Krankheit mit einem schweren, schmerzhaften Leiden wünschte.
Dr. Behnisch hatte schon oftmals Grund gehabt, an einer göttlichen Gerechtigkeit zu zweifeln und als er in sein Zimmer zurückkehrte und Tatjana ihn mit einem geradezu genüsslichen Lächeln empfing, wünschte er sie zur Hölle. Langsam schmoren sollte sie dort. Das waren seine Gedanken, als er sich an seinen Schreibtisch setzte und begann, ihr alle möglichen Fragen zu stellen.
*
Dr. Jenny Lenz war bestens informiert. Ihr hatte Dr. Behnisch alles Wissenswerte nebenbei berichten können. Sie und Dr. Behnisch waren nach
anfänglichen zwischenmenschlichen Schwierigkeiten gute Freunde geworden.
Saskia war diese kluge stille Frau sympathisch. Sie folgte ihr in das Ärztezimmer, als Jenny sie bat, mit ihr zu Abend zu essen. Saskia war jung, und trotz aller Sorgen, die sie bewegten, rührte sich bei ihr doch langsam der Hunger.
»Wenn nun aber Cornelius kommen sollte und dieser Frau in den Weg läuft?«, meinte sie sinnend. »Er wollte nochmals kommen.«
Das wusste Jenny Lenz sehr gut. »Dr. Behnisch wird schon dafür sorgen, dass es zu keiner Begegnung kommt«, sagte sie.
»Sie wissen also Bescheid«, sagte Saskia plötzlich. Jenny errötete leicht. »Das muss sein«, erwiderte sie. »Es wäre auch möglich gewesen, dass Frau van Reyken oder auch ihr Mann in die Klinik gelangt wäre, ohne dass wir rechtzeitig davon erfahren hätten oder es verhindern könnten. Manchmal huschen Besucher einfach durch, wenn gerade jemand das Haus verlässt und die Tür nicht ins Schloss fällt.«
Eine kleine feine Falte erschien zwischen Saskias schöngeschwungenen Augenbrauen. »Ich möchte nur wissen, was sie im Schilde führt«, sagte sie leise.
Das interessierte Dr. Behnisch auch, aber vorerst jammerte ihm Tatjana etwas vor und während der Untersuchung zeigte sich dann ein Zucken, das nicht simuliert war.
»Wie lange haben Sie das schon?«, fragte er.
»Was?«, fragte Tatjana sichtlich nervös.
»Dieses Zucken der Gliedmaßen!«
»Immer wenn ich erschöpft bin. Das ist doch Nervosität. Diese Migräne ist einfach schrecklich«, stöhnte sie.
»Sie haben keine Migräne. Es ist etwas anderes. Sie hätten schon längst in ärztliche Behandlung gehört.«
Tatjana sah ihn entsetzt an. Dr. Behnisch hatte wahrhaftig keinen Grund, Sympathie für diese Frau zu hegen. Er hätte ihr schon einen Schrecken einjagen wollen, wenn sie meinte, ihn, einen erfahrenen Arzt an der Nase herumführen zu können, aber seine Diagnose war so ernst zu nehmen, dass zumindest für ihn das Spiel, wenngleich es als ein böses Spiel begonnen hatte, zu Ende war. Und anscheinend war Tatjana noch völlig ahnungslos.
»Würden Sie mir bitte erzählen, was Sie an sich selbst beobachtet haben?«, fragte er vorsichtig.
»Was heißt beobachtet?«, begehrte sie auf.
»Wie äußerten sich bei Ihnen Ermüdungserscheinungen?«
Sie kniff die Augen und die Lippen. Sie versuchte das Zittern ihrer Hände zu verbergen.
»Ich bin hier, damit Sie die Ursache meiner Migräne feststellen«, sagte sie, aber ihre Stimme gehorchte ihr nicht mehr so recht.
»Ich bin dabei«, sagte Dr. Behnisch. »Die Untersuchung wird sich über mehrere Tage erstrecken und zeitweise ziemlich schmerzhaft sein.«
»Was haben Sie mit mir vor?«, fragte sie bebend vor Erregung.
»Eine Gegenfrage, was haben Sie vor?«, fragte er kühl.
Und in diese Frage hinein läutete das Telefon.
*
Cornelius Boerden hatte auf den Augenblick gewartet, in Evelyns Zimmer geholt zu werden. Schwester Helga tat dies sehr diskret.
Evelyn schlief. Mit einem wehmütigen Blick betrachtete er sie und stellte fest, dass ihr Gesicht einen ganz entrückten Ausdruck hatte.
Es fiel ihm schwer, an ihrem Krankenlager etwas zu tun, was ihm unrecht erschien, doch er beschwichtigte sein Gewissen mit dem Gedanken, dass er damit eventuell einen großen Schritt weiterkommen könnte.
Vorsichtig löste er das Klebeband auf der Rückseite der Fotografie seines Vaters. Es ging nicht ohne Beschädigung ab. Dann hielt er tatsächlich ein zusammengefaltetes Blatt Papier in den Händen, das er schnell in seine Jackentasche schob. Sein Herz klopfte wie ein Hammer, als er nun versuchte, den Klebestreifen wieder so anzubringen, wie er gewesen war. Er hatte sich eine Tube Klebstoff besorgt, aber in der Erregung waren seine Hände unsicher.
Er blieb ungestört. Langsam wurde er ruhiger, als sein Werk vollendet war und er das Bild wieder auf das Nachtschränkchen stellte.
Dann las er diesen Brief und hatte das Gefühl, dass sein Blut in den Adern erstarrte. Ganz hart waren seine Gesichtszüge geworden, und in seinen Augen glommen Flammen wilden Zornes, die aber schnell erloschen, als er wieder Evelyn anblickte.
Ganz zart streichelte er ihre blassen Hände. Du sollst es noch erleben, dass Vater gerächt wird, dachte er. Du darfst nicht mit diesem Gedanken von der Welt gehen, dass das Böse siegte.
O ja, er wusste, wie sehr sie gelitten hatte, wie verzweifelt sie war, wie sie sich Jahre um Jahre mit dem Gedanken gequält hatte, warum der geliebte Mann sterben musste und von wessen Hand. Evelyn sollte nicht mit dem angstvollen Gedanken die Augen schließen, dass auch ihr Kind in ständiger Furcht leben müsse.
Er ging leise zur Tür, doch als er sie öffnete, stand Saskia vor ihm. Schreckensvoll weiteten sich ihre Augen.
»Cornelius, du bist hier? Mein Gott, hat man dir nicht gesagt, dass Tatjana van Reyken in der Klinik ist?«
»Sie ist hier?«, fragte er dumpf.
»Und du darfst ihr nicht begegnen«, flüsterte Saskia. »Dich kennt sie doch. Wir wissen nicht, was sie vorhat.«
»Wo ist sie?«, fragte er.
»Dr. Behnisch untersucht sie.« Verwundert sah Cornelius das Mädchen an, und hastig erzählte Saskia, wie es dazu gekommen war.
»Das ist sehr gut«, sagte er zu ihrer Überraschung. »Einen größeren Gefallen konnte mir Dr. Norden gar nicht erweisen. Hab’ keine Angst, Saskia. Dieses böses Spiel wird bald ein Ende haben.«
»Wir haben doch noch keine Beweise gegen sie«, flüsterte Saskia.
»Doch, den Beweis habe ich«, erwiderte Cornelius. »Den Beweis, den wir brauchen.«
»Welchen?«
Er legte seine Hand an ihre Wange und fühlte beglückt, dass sie nicht zurückwich.
»Ich werde dir später alles erzählen. Aber jetzt darf ich keine Zeit verstreichen lassen. Sie darf mir nicht mehr entwischen.« Er schob sie sanft in das Zimmer hinein. »Du bleibst hübsch hier, kleine Schwester«, sagte er. »Und wenn Evelyn aufwacht, sage ihr, dass die Gerechtigkeit doch noch siegen wird. Gottes Mühlen mahlen langsam, mahlen aber trefflich klein.« Er beugte sich herunter und küsste sie auf die Stirn.
Dann ging er schnell hinaus.
*
»Sie sollen nicht solchen Unsinn reden, Herr Dr. Behnisch«, stieß Tatjana hervor. »Ich lasse mich nicht zu einer Schwerkranken stempeln.«
»Sie wollten eine klinische Untersuchung, wie Dr. Norden mir sagte. Ich habe Sie nicht gezwungen, hierherzukommen. Hier ist kein Theater, Frau Anatol.« Dr. Behnischs Geduld war jetzt zu Ende. »Ich halte Sie nicht fest. Sie können jederzeit gehen, wenn Sie meinen ärztlichen Rat nicht hören wollen.«
In ihren Augen blitzte es tücksich auf. Sie war aufgestanden und griff nach ihrer Handtasche. Und plötzlich hielt sie eine kleine Waffe in der Hand, die sie auf ihn richtete.
»Und Sie werden jetzt tun, was ich sage«, zischte sie. »Versuchen Sie nicht um Hilfe zu rufen, sonst geht dieses Ding los.«
Da hat mir Daniel ja was Schönes eingebrockt, ging es Dieter Behnisch blitzartig durch den Sinn, aber die Nerven verlor er doch nicht so schnell.
»Also doch Theater«, sagte er spöttisch. »Wir kommen zum dramatischen Höhepunkt.«
»Das Spotten wird Ihnen noch vergehen«, sagte sie. »Sie werden jetzt Bescheid sagen, dass Cornelius Boerden hierherkommen soll. Aber kein
falsches Wort.«
»Er ist nicht im Hause«, sagte Dr. Behnisch.
»Dann warten wir. Er wird schon kommen. Irgendwann wird er kommen.«
»Und mich wollen Sie hier festhalten? Man wird mich vermissen. Ich bin der Chefarzt dieser Klinik und werde ab und zu gebraucht«, sagte Dr. Behnisch in ironischem Ton, während er unentwegt überlegte.
»Aber Sie werden durch eine sehr schwierige Untersuchung festgehalten«, sagte Tatjana zynisch. »Ich habe nichts zu verlieren.«
Dr. Behnisch hatte keine Schusswaffe, aber er überlegte schnell, dass einige Worte diese Frau tödlicher treffen könnten als ein Schuss.
»Nein, Sie haben nichts mehr zu verlieren«, sagte er betont. »Sie sind sehr krank und werden ganz langsam sterben. Wissen Sie, was Multiple Sklerose ist? Sie befinden sich jetzt im Anfangsstadium. Es wird immer schlimmer werden. Sie werden nicht mehr richtig gehen können, immer mehr an Gleichgewichtsstörungen leiden, das Zittern Ihrer Hände wird immer stärker werden, eines Tages werden Sie ganz kraftlos sein. Sie sind jetzt schon nicht mehr in der Lage, richtig zu zielen. Schießen Sie doch«, sagte er laut.
Und da sprang die Tür auf, ein weißer Kittel war alles, was Dr. Behnisch in diesem Augenblick wahrnahm, dann knallte ein Schuss und im nächsten Augenblick wälzte sich Tatjana hysterisch schreiend am Boden.
In der Klinik lief alles zusammen. Dr. Behnisch brauchte ein paar Sekunden um zu begreifen, was da vor sich gegangen war und wer der Mann im weißen Kittel war, der sich über Tatjana beugte und rechts und links in Tatjanas Gesicht schlug, bis sie verstummte.
»Cornelius«, stammelte sie, und blankes Entsetzen stand in ihrem verzerrten Gesicht geschrieben, irre flakkerten ihre Augen.
Dr. Behnisch ging zur Tür. »Es ist nichts«, sagte er heiser. »Ein Nervenzusammenbruch. Gehen Sie wieder an die Arbeit.«
Nur Jenny Lenz blieb und sah ihn angstvoll an. So fassungslos hatte er sie noch nie gesehen.
»Ist Ihnen etwas geschehen?«, fragte sie bebend.
»Nein, nein, keine Aufregung. Auf später.«
Er wollte sich nicht mit langen Erklärungen aufhalten, denn so ganz traute er der plötzlichen Stille nicht. Aber als er sich umdrehte, sah er eine vor Schrecken fast gelähmte Tatjana, die sich unter dem drohenden Blick von Cornelius zusammenkrümmte.
Er hatte ihr den Revolver aus der Hand genommen. Mühsam versuchte sie, sich aufzurichten. Cornelius dachte nicht daran, ihr Hilfestellung zu leisten. Ihm bereitete es Genugtung, dass sie vor seinen Füßen auf dem Boden lag. Nicht eine Spur von Mitgefühl war in ihm, als Dr. Behnisch sagte: »Die Frau ist krank, Herr Boerden.«
»Diese Frau ist eine Mörderin«, sagte Cornelius kalt. »Sie hat meinen Vater umgebracht.«
»Ich war es nicht, nein, ich war es nicht. Es war Anatol«, stöhnte Tatjana. »Ich bin die Schwester deiner Mutter, Cornelius. Hast du das vergessen?«
»Ich möchte es sehr gern vergessen«, sagte er rau. »Hier habe ich einen Brief, den du an meinen Vater geschrieben hast. Soll ich ihn vorlesen? Ja, Dr. Behnisch soll wissen, was drinnen steht.«
»Das ist kein Beweis für deine Anschuldigungen«, begehrte sie auf.
»Es wird sich herausstellen«, sagte Cornelius. Er faltete den Bogen auseinander. »Lieber Magnus, es ist mir gelungen, deinen Aufenthaltsort ausfindig zu machen«, begann er heiser. »Ich habe dir Wichtiges zu berichten, was Cornelius, aber auch deine Stieftochter betrifft. Du würdest es bereuen, wenn du meinen Vorschlag ignorierst, dich mit mir zu treffen. Ich erwarte dich am Donnerstag 11 Uhr am Waldgasthof.«
»Ich habe ihn nicht getroffen«, begehrte Tatjana auf.
»Du hast ihn ins Herz getroffen«, sagte Cornelius. »11 Uhr 20 wurde mein Vater tot aufgefunden. Er war wohl auf einiges gefasst, aber nicht, dass Mörder auf ihn warteten.«
»Ich war nicht an diesem Treffpunkt«, widersprach Tatjana.
»Du hast ihn gehasst, weil er dir die kalte Schulter zeigte, weil er dich durchschaut hatte. Der Hass ließ dir keine Ruhe. Du hast ihn getötet, und du wolltest die Menschen vernichten, die er liebte. Ich werde alles beweisen. Du bestehst nur aus Hass und Gier. Willst du leugnen, dass du diesen Brief geschrieben hast.«
»Ich wollte deinen Vater daran erinnern, dass es dich auch noch gibt«, stieß sie hervor.
»Aber ich habe ihn nicht getroffen, das schwöre ich.«
»Du hast in deinem Leben so viel gelogen, dass es auf eine Lüge mehr oder weniger nicht ankommt. Aber die nützt dir jetzt nichts mehr.«
»Er hat sich nicht um dich gekümmert«, sagte sie klagend.
»Weil du ihm eingeflüstert hast, dass er nicht mein Vater sei. Ich weiß mehr, als du denkst. Ich weiß alles. Ich hatte nie viel für meine Mutter übrig, aber für sie war es das Schlimmste, eine Schwester wie dich zu haben. Sie war leichtsinnig, aber du bist von grundauf böse.«
»Ich bin krank«, sagte sie weinerlich, »sehr krank. Der Doktor hat es mir gesagt. Du darfst nicht so mit mir sprechen, Cornelius. Ich habe Schmerzen.«
»Ich werde ihr eine Spritze geben«, sagte Dr. Behnisch.
»Nein«, schrie sie auf, »Sie wollen mich töten!«
»Daran denkt niemand«, sagte Dr. Behnisch.
Es wurde laut an die Tür geklopft. »Herein«, sagte Dr. Behnisch. Da standen zwei fremde Männer.
»Kriminalpolizei«, tönte eine Stimme durch den Raum. »Wir wurden gerufen, weil hier geschossen wurde.«
Jenny, dachte Dr. Behnisch, sie muss höllische Angst gehabt haben.
»Nun wirst du dich für alles verantworten müssen, was du getan hast, Tatjana«, sagte Cornelius.
Aus glasigen Augen blickte sie die Männer an, deren Hände nach ihr griffen. Dann brach sie in ein irres Kichern aus.
*
Auch Saskia hatte den Schuss gehört und sie vergaß alle Vorsicht. Sie war auf den Gang hinausgelaufen und lehnte schreckensstarr an der kühlen Wand, bis Jenny Lenz kam.
»Cornelius?«, hauchte Saskia angstvoll.
»Es ist nichts passiert«, sagte Jenny Lenz, sich zur Ruhe zwingend.
»Aber es war ein Schuss.«
»Niemand ist verletzt«, erwiderte Jenny.
Saskias Sorge galt Cornelius, ohne dass sie sich dessen so recht bewusst wurde. Jenny Lenz dachte mehr an Dr. Behnisch. Sie hatte es sehr eilig, ans
Telefon zu kommen, während die Schwestern sich nun bemühten, die aufgeregten Patienten zu beruhigen.
Nur Evelyn Boerden hatte nichts gehört. Sie schlief. Saskia setzte sich wieder zu ihr, aber sie lauschte unruhevoll, was sich draußen tat. Ruhe kehrte so rasch nicht ein. Ihr junges Herz war von Sorge erfüllt und diese Sorge trieb sie dann auch wieder hinaus. Gerade als Tatjana auf einer Tragbahre hinausgebracht wurde, hatte sie das Ende des Ganges erreicht.
Mit fahlem Gesicht und geschlossenen Augen lag Tatjana auf dieser Bahre. Cornelius lehnte an der Tür und sah ihr unter halbgeschlossenen Lidern nach. Saskia ging auf ihn zu. Er schrak zusammen, als sie ihre kleine zarte Hand auf seinen Arm legte.
»Hat sie sich erschossen?«, fragte Saskia leise.
»Nein, Dr. Behnisch hat ihr eine Beruhigungsspritze gegeben«, erwiderte Cornelius.
»Wohin wird sie gebracht?«, fragte Saskia.
»Ins Gefängsnishospital!«
»Möchtest du mir nicht sagen, was geschehen ist, Cornelius? Was sie getan hat?«, fragte Saskia leise.
»Später.« Er blickte in ihr verstörtes Gesicht, er las die Angst in ihren Augen, die flehend auf ihn gerichtet waren, und er las darin auch noch etwas anderes, was ihn zu einem anderen Zeitpunkt glücklich gemacht hätte.
Aber nun war ihm bewusst, dass Tatjana die Schwester seiner Mutter war, seine Tante, die mit aller Wahrscheinlichkeit die Mörderin seines Vaters war.
Sein Gesicht verdüsterte sich. Er wusste, mit welcher Leidenschaft Saskia ihren geliebten Papi gerächt wissen wollte. Aber würde es ihr dann nicht auch bewusst werden, dass Tatjana eine Blutsverwandte von ihm war?
Man wird ihr den Paragraphen 51 zubilligen, hatte Dr. Behnisch gesagt. Eine sehr seltene und schwer festzustellende Form des Wahnsinns möge die Ursache für ihre kriminellen Taten sein. Eine Veränderung des Gehirnes, die man erst genau diagnostizieren müsse.
Mit seiner Kollegin Dr. Jenny Lenz konnte sich Dr. Behnisch in der Fachsprache unterhalten.
»Ähnliche Symptome und Reaktionen wie bei der Multiplen Sklerose?«, fragte sie.
Er nickte. »Es bedarf natürlich einer eingehenden Untersuchung. Dazu war die Zeit zu kurz. Aber damit sollen sich nun die Gerichtsmediziner befassen. Die Hauptsache ist, dass sie kein Unheil mehr anrichten kann.«
Für Cornelius war das allerdings keine ausreichende Beruhigung, denn Anatol van Reyken gab es auch noch. Obgleich er sich fast sicher war, dass Tatjana die treibende Kraft war, musste man auch ihn fürchten.
*
Auch Daniel und Fee hatten sich an diesem Abend ausschließlich mit diesem Fall befasst, denn Daniel hatte den Bescheid bekommen, dass sich in der Tablettenpackung tatsächlich jene Migränetabletten befunden hatten, die Rückstände waren festgestellt worden.
»Raffiniert eingefädelt«, sagte er grimmig. »Van Reyken hat die Tabletten ausgetauscht, und Evelyn Boerden hat jene arglos genommen, die für sie schädlich waren. Als sie dann in die Klinik gebracht wurde, hat er die richtigen Tabletten wieder zurückgegeben. Ich bin nun sehr gespannt, wie es in der Behnisch-Klinik weitergeht.«
»Es war zu riskant«, sagte Fee nachdenklich.
»Dieter ist vorbereitet. Er wird das schon richtig machen«, sagte Daniel. »Ihr ist doch gar nichts zu beweisen, wenn sie nicht einen Fehler macht. Die Polizei hätte uns ja ausgelacht, wenn wir sie gleich eingeschaltet hätten.«
»Ruf doch lieber mal an«, bat Fee. »Ich bin so unruhig.« Aber kaum hatte sie es ausgesprochen, läutete das Telefon. Daniel nahm den Hörer ans Ohr.
»Vater im Himmel«, rief er aus, »so habe ich es mir allerdings nicht vorgestellt. Nun wirst du wohl nichts mehr von mir wissen wollen. – Ja, wir kommen noch hinüber«, sagte er dann, nachdem er ein paar Sekunden gelauscht hatte.
»Verflixt und zugenäht«, brummte er, als er das Gespräch beendet hatte. »Dass sie einen Revolver mit sich herumschleppt, konnte ich wirklich nicht ahnen.«
»Was ist passiert?«, fragte Fee erregt.
»Zum Glück nichts, als ein Schuss in die Wand. Jetzt befindet sich die geheimnisvolle Frau Anatol in Polizeigewahrsam und in der Klinik ist wieder Ruhe und Ordnung.«
»Ist Dieter sehr böse?«, fragte Fee ängstlich.
»I wo. Er hat die Ruhe weg. Er meint nur, dass wir ihm auch mal ein paar ganz normale Fälle überweisen könnten.«
»Das haben wir doch auch schon getan. Mir war diese Frau ja gleich unheimlich. Ganz normal ist sie bestimmt nicht.«
»Woher beziehst du dieses Wissen, Liebling?«
»Intuition.«
»Ich möchte wissen, wie viel Irre in der Welt unbehelligt herumlaufen«, meinte Daniel nachdenklich. »Komm, wir fahren in die Klinik. Dieter meint, dass Frau Boerden die Nacht nicht überleben wird.«
»Durch die Schuld dieser Frau?«
»Nein, sie ist gar nicht zu dem Krankenzimmer gelangt, und ich glaube auch nicht, dass sie wegen Frau
Boerden in die Klinik wollte.«
»Werden wir es jemals erfahren, was sie vorhatte?«, fragte Fee. »Was gibt es doch für Menschen. Da habe ich vorhin in der Zeitung gelesen, dass eine Frau den Chefarzt einer Klinik erschossen hat, weil er ihren Sohn nicht entlassen wollte.«
»Das ist doch Wahnsinn«, sagte Daniel entsetzt.
»Ja, es ist Wahnsinn. Aber was geht in einem menschlichen Gehirn vor, Dan? Wir wissen es nicht. Wenn wir es wüssten, gäbe es keine Verbrechen. Aufmerksam wird man auf solche Menschen doch erst, wenn sie eine Untat begangen haben. Das Wesen eines Menschen wird vom Gehirn gesteuert. Ein schrecklicher Gedanke, dass hinter einer schönen Fassade ein krankhafter Geist lebt.«
»Fandest du sie schön?«, fragte er erstaunt.
»Faszinierend«, gab Fee zu. »Beängstigend faszinierend.« Daniel erwiderte darauf nichts. »Cornelius ist ein kluger Mann«, fuhr Fee fort. »Er wird sich jetzt Gedanken machen, ob solche extremen Charakterzüge nicht erblich sind. Schließlich war seine Mutter Tatjanas Schwester.«
»Er macht mir einen sehr normalen Eindruck. Du denkst immer gleich weiter.«
»Ja, für ihn wird es schwer sein, darüber hinwegzukommen. Was hat ihm das Leben bisher gebracht, außer Kummer und Sorgen? Eine freudlose Kindheit, eine überschattete Jugend. Der rätselhafte Tod seines Vaters, die Angst um eine kranke Frau, die er sehr liebt, nun auch noch die Angst um Saskia.«
»Die er auch liebt?«, fragte Daniel.
»Jedenfalls ist er ihr sehr zugetan. Was würdest du tun, wenn dich ein Patient mit dem Revolver bedroht?«, lenkte sie dann ab.
»Ich würde ihm erst mal gut zureden.«
»Und wenn er gleich schießt?«
»Ja, mein Schatz, da würde ich wohl nicht mehr viel sagen können, sondern nur hoffen, dass er ein schlechter Schütze ist.«
»Sei nicht so ironisch«, sagte Fee bebend.
»Mach du dir nicht so viel Gedanken. Ich stehe mit meinen Patienten auf gutem Fuß. Du sagtest vorhin, dass diese seltsame Mutter den Chefarzt einfach erschossen hat?«
»Ja, blindlings. Den Arzt, der ihrem Sohn helfen wollte.« Fröstelnd zog sie die Schultern zusammen. »Ich habe nie gedacht, dass unser Beruf so gefährlich sein könnte, Dan.«
»Die größte Gefahr in unserem Beruf sehe ich darin, eine falsche Diagnose zu stellen, Fee. Ich würde mir ewig den Vorwurf machen, nicht genug getan zu haben, um ein Menschenleben zu retten.«
»Du stellst keine falschen Diagnosen«, sagte Fee.
»Mein Liebes, ich bin auch nur ein Mensch. Im Falle Tatjana Anatol muss ich sagen, dass ich sie beim ersten Besuch für völlig gesund hielt. Ich werde nie mehr auf Wunsch ein Rezept ausschreiben, wenn ich den Patienten nicht kenne.
»Dann möchte ich wissen, wie viel Apotheken rezeptpflichtige Medikamente so herausgeben.«
»Das müssen sie selbst verantworten. Mich tröstet im Augenblick nur der Gedanke, dass jene Tabletten, die Frau Boerden schadeten, nicht von mir verordnet wurden.«
»Woher mochte Reyken gewusst haben, dass sie ihr schaden konnten?«, fragte Fee.
»Vielleicht durch einen Zufall. Es kann ja sein, dass er unter Migräne leidet und dem Informationszettel entnahm, dass Herzkranke diese Tabletten nicht nehmen dürfen. Die Idee zu manchem Verbrechen wird aus einem geringfügig scheinenden Zufall geboren, Fee.«
»Ein entsetzlicher Gedanke!«
»Ja, das Gehirn des Menschen ist für uns noch sehr, sehr geheimnisvoll.«
*
Anatol van Reyken litt unter Migräne. Für Dr. Norden war es nur eine vage Vermutung gewesen, für van Reyken eine sehr schmerzhafte Tatsache. Und es war ganz seltsam, aber er wagte nicht, seine Tabletten zu nehmen, obgleich er genügend bei sich hatte. Die ganze Packung, die Tatjana ihm gebracht hatte.
Wenn ihm nun auch etwas am Herzen fehlte? Er wurde diesen Gedanken nicht los. Er hatte jetzt manchmal ein so beklemmendes Gefühl, Schweißausbrüche, panische Angstzustände. Immer war es ihm, als würde er verfolgt, als beobachte man ihn.
Er war nun schon den zweiten Tag in der Schweiz, aber an den Fürsten Dejali war er noch nicht herangekommen. Er war inkognito hier. Niemand konnte ihm sagen, wo er wohnte. In Erscheinung war der lebenslustige Fürst noch nicht getreten, aber Anatol van Reyken fragte sich auch, ob es überhaupt einen Sinn hätte, nochmals an ihn heranzutreten.
Damals hatte er Interesse gezeigt, doch auch das war sofort erloschen, als er erfuhr, dass Magnus Boerden tot war. Und was hatte er, Anatol van Reyken schon davon gehabt? Ein lächerliches Trinkgeld. Mehr war dem Fürsten die Information nicht wert gewesen.
Obgleich sein Kopf zum Zerspringen schmerzte, kamen van Reyken jetzt ganz nüchterne Gedanken. Er überlegte, dass er sich da in ein völlig sinnloses Unternehmen eingelassen hatte, immer wieder angetrieben von Tatjana. Krankhaft war ihre Rachsucht.
Punkt für Punkt überlegte van Reyken die einzelnen Stationen seines und ihres Lebens, während er mit Whisky seine Schmerzen zu betäuben versuchte.
Natürlich hatte es ihn auch gewurmt, dass dieses Land so ertragreich geworden war, dass es Magnus reich gemacht hatte. Aber es war nicht das erste Mal gewesen, dass er eine Schlappe erlitten hatte. Auch nicht das letzte Mal. Er war dennoch immer wieder auf die Füße gefallen, bis er sich von Tatjana einwickeln ließ.
Zuerst war sie überzeugt gewesen, dass Magnus sich großzügig erweisen würde, wenn er erfuhr, dass Cornelius doch sein Sohn war.
»Du musst mit ihm sprechen, Anatol«, hatte sie gesagt. »Du kannst ruhig sagen, dass es von mir eine Lüge gewesen ist.«
Er hatte mit ihm sprechen wollen, aber er war dazu nicht mehr gekommen. Magnus war bereits tot gewesen, als er an dem vereinbarten Treffpunkt auf ihn wartete. Jetzt war van Rayken überzeugt, dass Tatjana wieder einmal einen impulsiven Entschluss gefasst hatte. Viele Jahre war er überzeugt gewesen, dass Dejali den Mörder gedungen hatten.
Sie wird mich auch aus dem Wege räumen, ging es ihm jetzt durch den Sinn, als er an ihre kalten glitzernden Augen dachte.
»Mal sehen, wer eher zum Ziel kommt«, hatte sie gesagt. »Wenn du nichts erreichst, brauchst du mir gar nicht wieder unter die Augen zu kommen.«
Er warf sich auf sein Bett und schloss die Augen. Alles schien sich um ihn zu drehen. Mühsam richtete er sich wieder auf und ging ins Bad.
Vornehm geht die Welt zugrunde, hatte er sich gedacht und sich im besten Hotel ein Appartement genommen. Er wusste genau, dass er es nicht bezahlen konnte, und erst recht wusste er nicht, dass in der Halle Kurti Schnell saß, die Treppe und den Lift im Auge behaltend. Er war ihm auf den Fersen geblieben. Einen Kurti Schnell schüttelte man nicht so leicht ab.
Das Nachtleben begann eben erst. Kurz vor Mitternacht wurden die Reichen munter. Kurti Schnell begriff nicht, dass man so viel Geld in einer Nacht ausgeben konnte, wie es hier der Fall war, aber er wusste, dass Anatol van Reyken nicht das Geld hatte, um mitzuhalten. Er war schon drauf und dran, sich in sein Auto zu setzen und ein kleines Nickerchen zu machen, da ihm selbst für eine bescheidene Pension die Preise zu hoch waren, als Anatol van Reyken nun doch aus dem Lift trat. Er trug keinen Abendanzug. Er legte seinen Schlüssel auf den Tresen und ging hinaus, dicht an Kurti Schnell vorbei.
Der stand gemächlich auf und folgte ihm. Er sah, wie Anatol van Reyken zum Parkplatz ging und seinen Wagen bestieg.
Er tat das gleiche. Feiner Nieselregen fiel vom Himmel herab. Er wurde stärker, als sie ein paar Minuten unterwegs waren, aber Kurti Schnell verlor die Schlusslichter des vor ihm fahrenden Wagens nicht aus den Augen. Es war viel Gegenverkehr. Manche Scheinwerfer blendeten stark, und wie ein dichter Schleier senkte sich nun der immer stärker werdende Regen über die Landschaft.
Wie zwei große, grell leuchtende Augen kamen plötzlich Hallogenscheinwerfer auf Kurti Schnell zu. Er nahm das Gas weg, aber das hatte van Reyken wohl nicht getan. Kurti Schnell sah noch rote Lichter, die sich schwankend bewegten und dann krachte es gewaltig. Gerade noch konnte er seinen Wagen an der hinteren Stoßstange eines anderen zum Stehen bringen. Trotz seiner Fülle sprang er schnell heraus. Andere Wagen hielten mit kreischenden Bremsen. Stimmen wurden laut, gellten in seinen Ohren, während er auf den Mann starrte, der über dem Steuerrad lag.
Viel Leben war nicht mehr in Anatol van Reyken, aber er war nicht tot. Irgendwann, sicher sehr schnell, wenngleich für Kurti Schnell die Zeit stehengeblieben zu sein schien, kamen Ambulanzwagen und in dem behäbigen Detektiv mischte sich mit dem Gefühl des Grauens die Unzufriedenheit, dass er seinen Auftrag so beendet sehen sollte.
*
Während Cornelius und Saskia an Evelyns Bett weilten, hatten sich Fee, Daniel, Dieter Behnisch und Jenny Lenz lange unterhalten.
Der Schreck in der Abendstunde war gebannt. Ihre Freundschaft sollte darunter nicht leiden. Dramatische Situationen gab es oft genug in einer Klinik. Dr. Behnisch fand es erregender, wenn er einen Patienten operierte und feststellen musste, dass alles Bemühen umsonst war.
Fee dachte jetzt an Evelyn Boerden, an Saskia und Cornelius. Für Evelyn würde alles Leid ein Ende haben, wenn sie hinüberschlummerte in die Ewigkeit, in der sie mit ihrem so sehr geliebten Mann vereint sein würde. Aber was erwartete Saskia und Cornelius?
Mitternacht war vorbei, als sie heimfuhren. Wieder begann ein neuer Tag. Saskia hatte den Zeiger ihrer Uhr beobachtet, wie er langsam voranrückte. Ihre Augen brannten. Cornelius hatte ihr geraten, dass sie sich eine Weile niederlegen solle, aber das wollte sie nicht. Sie ahnte, dass diese Nacht die Entscheidung bringen sollte. Sie wollte bei ihrer Mutter sein, ihre Hände halten, noch einmal in ihre Augen blicken.
Evelyn öffnete ihre Augen mühsam, doch ihr Blick weilte schon in einer anderen Welt.
»Mein Kind«, flüsterte sie, »meine Kinder«, als Cornelius nach ihrer Hand griff.
Cornelius beugte sich tief zu ihr herab. »Die Gerechtigkeit hat gesiegt, Evelyn«, sagte er dicht an ihrem Ohr. »Du kannst jetzt ruhig schlafen.«
Ganz leicht bewegte sie verneinend den Kopf.
»Magnus wartet. Es war ein weiter Weg.« Dann richtete sie ihren Blick auf Saskia. »Liebt euch so, wie wir uns geliebt haben.«
Kaum noch vernehmbar waren diese Worte, und doch tönten sie in den Ohren der beiden jungen Menschen fort, während Evelyns Atemzüge immer leiser wurden. Ihr Gesicht aber war entspannt, verklärt, entrückt.
Saskia wollte es nicht begreifen, als Cornelius seinen Arm um sie legte und leise sagte: »Sie hat uns verlassen, Saskia.«
Ein Beben durchlief ihren Körper, und ihr Kopf sank an seine Brust. Weich strich seine Hand über ihr seidiges Haar.
*
Evelyn war still und ohne Schmerzen zu empfinden von dieser Welt gegangen. Für Anatol van Reyken begann in dieser Nacht ein qualvolles Sterben. Ihn würde kein irdisches Gericht mehr verurteilen, doch das göttliche ersparte ihm nichts.
Während Fürst Dejali nun die Freuden des Daseins genoß und nicht einen Gedanken an seine Tochter verschwendete, musste van Reyken seine Schuld bitter büßen.
Er dachte an nichts anderes mehr als an die Schmerzen, die ihn peinigten. An dem Morgen, als Evelyn Boerden an der Seite ihres Mannes zur letzten Ruhe gebettet wurde, starb er.
Kurti Schnell berichtete es, Edwin Pichler gab es an Daniel und Fee weiter.
An Zufall könne man da kaum noch glauben, meinte Fee, die Evelyn das letzte Geleit gegeben hatte, während sich Daniel um seine Patienten kümmern musste. Nur sie, Dr. Camphausen, und Dr. Jenny Lenz hatten mit Saskia und Cornelius am Grab gestanden.
Wenn sie doch nur weinen könnte, hatte Fee gedacht, als sie in Saskias traurige Augen blickte. Aber Saskia fand keine erlösenden Tränen. Sie fand auch keine Worte.
»Wir müssen etwas für Saskia tun«, sagte Fee. »Ich werde sie zur Insel der Hoffnung bringen. Sie muss weg von allem, Abstand gewinnen, sich ins Leben zurückfinden.«
»Wenn sie ja sagt, steht dem doch nichts im Wege«, meinte Daniel. »Wir können am Samstag fahren.«
»Du bist lieb«, sagte Fee dankbar.
»Na, hör mal, Kleines, meinst du, ich ließe dich allein fahren?«
Saskia sagte ja, als Fee sie anrief. Ganz schlicht und einfach nur »ja«.
Am Nachmittag kam dann Cornelius in die Praxis. Er bedankte sich, dass man so besorgt um Saskia war. Er sagte auch, dass es besser sei für Saskia, wenn sie das letzte Kapitel nicht miterleben müsse. Er wollte Tatjana aufsuchen. Leicht fiel ihm das nicht, aber Dr. Behnisch hatte ihm erklärt, dass es vielleicht die einzige Möglichkeit sei, die ganze Wahrheit zu erfahren. Man hatte ihm bereits Sprecherlaubnis erteilt. Er wolle diese jedoch erst wahrnehmen, wenn Saskia nicht mehr hier sei.
»Sie ist überaus sensibel«, sagte er gedankenvoll.
»Wem sagen Sie das«, meinte Fee. »Sie hat eine Antenne, die alles aufnimmt. Aber mein Vater versteht es, mit solchen empfindsamen Menschen umzugehen und auf der Insel wird ihre Seele gesunden.«
»Sie glauben fest daran, Frau Dr. Norden?«, fragte Cornelius zweifelnd.
»Ja, ich glaube fest daran.« Und sie erzählte ihm von der Insel der Hoffnung, die das Vermächtnis von Daniels Vater an die Nachwelt war. Dr. Friedrich Norden, der große Arzt und Menschenfreund hatte es nicht mehr
erlebt, dass seine wunderbare Idee Wirklichkeit geworden war, aber sein Geist lebte in dieser Schöpfung weiter.
»Ich habe es dort selbst erlebt, wie Verzweifelte, Kranke, Gedemütigte und Hoffnungslose gesundeten«, sagte Fee sinnend. »Eine heilende Quelle, die vor Jahrhunderten versiegt war, wurde durch ein Kind, das wir vor dem Ertrinken retten durften, wieder entdeckt. Unser kleiner Mario, den mein Vater und seine Frau Anne adoptiert haben, wird Saskia zu dieser Quelle führen, und sie wird daraus trinken und Kraft schöpfen. Sie sehen mich so ungläubig an, Herr Boerden. Meinen Sie, dass ich eine Märchentante bin?«
»Nein, das meine ich nicht, aber Sie sprechen so überzeugend. So viel Glauben liegt in Ihren Worten.«
»In meinem Herzen und in meiner Seele. Gewiss gehört Glauben an Unbegreifliches dazu und auch der Wille zum Leben, damit etwas vollbracht wird, das wie ein Wunder erscheint. Evelyn Boerden hätte diese Quelle und die Insel auch nicht mehr helfen können, weil ihre Sehnsucht dorthin ging, wo sie den Menschen finden wollte, den sie so tief geliebt hat. Sie ist mit ihm vereint, auch daran glaube ich.«
Cornelius neigte sich tief über ihre Hand und zog sie an seine Lippen.
»Ich hoffe, dass ich Saskia besuchen darf«, sagte er leise.
»Und dann werden auch Sie aus der Quelle trinken und quälende Gedanken vergessen, die Sie bedrücken.«
»Können Sie in meiner Seele lesen?«, fragte Cornelius heiser.
»Ein wenig. Ich ahne, was Sie bewegt, aber ich hoffe von ganzem Herzen, dass Sie sich davon befreien. Ich habe Ihren Vater nicht gekannt, aber ein Mensch, der so sehr geliebt worden ist und der so gut war, wird seinem Sohn viel Kraft mitgegeben haben. Sie werden von dem Neurologen überdies erfahren, ob Tatjana van Reyken an einer vererbbaren Geisteskrankheit leidet.«
Gebe Gott, dass dem nicht so ist, dachte sie für sich.
Saskia sehnte den Samstag herbei. Sie wollte weg aus diesem Haus, das so erdrückende Erinnerungen barg. Cornelius hatte ihr zwar vorgeschlagen, in ein Hotel zu ziehen, aber das hatte sie auch nicht gewollt, denn dort müsste sie fremden Menschen begegnen. Sie war noch zarter geworden, ihr Gesicht noch durchscheinender, ihr Blick noch in sich gekehrter.
So gern hätte Cornelius sie tröstend in die Arme genommen, so sehr drängte es ihn, ihr zu sagen, was sie ihm bedeutete, aber er wagte es nicht, die Hand nach ihr auszustrecken.
Ihm war es längst bewusst, dass er dieses zerbrechliche Geschöpf liebte. Aber konnte es auch für ihn eine Hoffnung geben, sie für immer an sich zu binden? Die Last, die er mit sich herumtrug, erdrückte ihn fast.
Der Gedanke, Saskia missen zu müssen, peinigte ihn, und doch sehnte auch er den Samstag herbei, weil er fürchtete, seine tiefsten Gefühle zu verraten.
Sie bewegte sich wie eine Traumwandlerin und immer, wenn er sie ansprach, schien es, als müssen ihre Gedanken erst einen weiten Weg zurücklegen, um in die Gegenwart zurückzukehren.
Der Freitagabend war herangekommen. Schweigend saßen sie sich am Tisch gegenüber. Das Hausmeisterehepaar war zurückgekehrt, tief bestürzt von den traurigen Ereignissen und besorgt um die beiden jungen Menschen, die ihr Leid nicht verbergen konnten. Regelmäßig kam das Essen auf den Tisch, bestens zubereitet und doch appetitlos gegessen.
Zu Cornelius’ Überraschung begann Saskia an diesem Abend zu sprechen.
»Fee hat mir von der Insel der Hoffnung erzählt«, sagte sie leise. »Sie hat selbst dort gearbeitet, bevor sie heiratete.«
»Du magst sie«, sagte Cornelius.
»Ja, sehr. Ich hatte sie gleich sehr gern. Sie stellte keine Fragen. Sie war einfach lieb. Man fühlt, wenn ein Mensch gut ist.« Sie hob ihren Kopf und sah Cornelius an. »Du bist auch gut«, fügte sie verhalten hinzu. »Ich war ungerecht. Du sollst wissen, dass ich dies bedaure, wenn wir uns jetzt trennen müssen.«
Es gab ihm einen schmerzhaften Stich. »Es muss keine Trennung für immer sein, Saskia«, sagte er leise.
»Auf dich warten jetzt viele Aufgaben, Cornelius.«
»Bei denen du mir helfen könntest«, drängte es sich über seine Lippen. »Wie denkst du dir deine Zukunft, Saskia?«
Sie sah ihn noch immer unverwandt an. »Was kann man tun, um die Welt zu verbessern, Cornelius?«, fragte sie gedankenverloren.
»Die Welt werden wir nie verändern können, Saskia. Es wird immer Reichtum und Elend geben, und auch gute und böse Menschen. Ich danke dir, dass du Gutes in mir siehst. Was immer du beginnst, ich wünsche, dass du glücklich wirst. Du bist jung. Das Leben liegt vor dir. Du sollst nicht zurückschauen, nur vorwärts.«
»Aber die Erinnerungen darf ich mir bewahren«, flüsterte sie.
»Die schönen Erinnerungen«, erwiderte Cornelius.
Sie stand jetzt auf und ging langsam durch den Raum, zu dem Bild von Magnus Boerden, das wieder auf seinem alten Platz stand und nun kein Geheimnis mehr barg. Sie legte ihre schmalen Hände um den kühlen Rahmen.
»Wirst du mich besuchen?«, fragte sie.
Sein Herz tat einen schnellen Schlag. »Möchtest du es?«
Sie drehte sich langsam um und sah ihn wieder an. »Ja, Cornelius«, erwiderte sie. »Lass mir ein wenig Zeit. Es gibt noch so vieles, worüber ich nachdenken muss.«
»Lass es mich wissen, wann du mich sehen willst«, sagte Cornelius.
»Du musst es selbst wissen«, erwiderte Saskia, »oder fühlen.«
»Und wenn Zweifel in mir sind, ob ich dir willkommen bin?«
Ein seltsamer Ausdruck war in ihren Augen, als sie sagte: »Es dürfen keine Zweifel in dir sein, wenn unsere Gedanken sich begegnen.«
Wie verzaubert blickte er sie an. Sie kam auf ihn zu, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange.
»Gute Nacht, Cornelius«, flüsterte sie. »Meine Wünsche werden dich immer begleiten, wenn du das tust, was du nun tun musst.«
Und dann huschte sie hinaus.
*
Beim Abschied am nächsten Morgen war ihr Gesicht wieder verschlossen. Er hielt ihre kleine kühle Hand sekundenlang fest.
»Auf Wiedersehen, Saskia. Auf bald«, sagte er.
»Faber est suae quisque fortunae«, murmelte Daniel vor sich hin.
Nur Fee hörte es.
»Jeder ist seines Glückes Schmied«, wiederholte Fee auf Deutsch. »Wie meinst du das?«
»Sieh dir doch diese beiden an«, erwiderte er lächelnd.
Dann hielt Cornelius Saskia schon die Wagentür auf. Ein kurzes Winken noch und Daniel gab Gas.
»Factum fieri infectum non potest«, sagte er dann.
»Hast du deinen philosophischen Tag?«, fragte Fee.
»Geschehene Dinge sind nicht mehr zu ändern«, warf Saskia ein.
Daniel drehte sich kurz um. »Sie waren sicher eine gute Schülerin. Das war perfekt übersetzt.«
»Sie haben die Schule schon ein paar Jahre länger hinter sich als ich«, erwiderte Saskia schlagfertig. »In Latein war ich sogar sehr gut.«
»Was heißt: Quidquid agis, prudenter agas et respice finem?«
Sie konnten hören, wie Saskia tief Atem holte.
»Was du auch tust, tue es klug, und bedenke das Ende«, erwiderte sie. Und dann fügte sie leise hinzu: »Hoffentlich kennt Cornelius dieses lateinische Sprichwort auch.«
Fee streckte die Hand nach Saskias aus und umschloss die kühlen Finger.
»Cornelius weiß ganz genau, was er tut, Saskia«, sagte sie.
»Geschehene Dinge sind nicht mehr zu ändern«, sagte Saskia noch einmal. »Ich hätte Cornelius wohl sagen sollen, dass ich einen Schlussstrich ziehen will.«
»Jeder Mensch muss seinen eigenen Weg gehen, Saskia«, sagte Fee leise.
Cornelius ging den seinen keineswegs mit Triumphgefühlen. Als er vor dem grauen Gebäude stand und zu den vergitterten Fenstern emporblickte, wurde ihm erst so recht bewusst, welches Leben Tatjana erwartete. Wie lange dieses Leben währen würde, wusste niemand, aber es würde wohl hinter Gittern enden. Sicherungsverwahrung war auch nichts anderes als Gefängnis.
Er sprach dann mit einem ernsten grauhaarigen Mann und fragte sich dabei, wie ein Mensch in solcher Atmosphäre überhaupt existieren könne.
»Frau van Reyken ist apathisch«, sagte der Direktor dieser Anstalt. »Sprechen Sie bitte freundlich mit ihr. Augenblicklich befindet sie sich in einem Stadium, in dem kaum Aggressionen zu befürchten sind. Ich bin mir bewusst, dass dem Recht genüge getan werden muss, aber Sie sollten auch bedenken, dass man sie nicht zur Verantwortung ziehen kann.«
»Was haben die Untersuchungen ergeben?«, fragte Cornelius mit belegter Stimme.
»Sie muss einmal eine folgenschwere Hirnverletzung gehabt haben, die nicht richtig ausgeheilt ist«, erwiderte der Direktor. »Der Arzt hat es mir so erklärt: Wenn im Telefonnetz sich zwei Leitungen überschneiden, kommt es zu Störungen. Ähnlich ist es in unserem Nervensystem.«
Cornelius hörte gar nicht richtig zu. Er sah eine Szene vor seinen Augen abrollen, so als würde er sie gerade eben jetzt erst erleben. Er sah sich mit Tatjana auf einem Segelboot. Zehn Jahre alt war er da gewesen.
»Spring doch ins Wasser, Cornelius«, hatte sie gesagt. »Was bist du für ein Feigling. Schau, ich mache es dir vor.«
Anatol hatte sie beobachtet. Vor ihm hatte Cornelius immer eine unbestimmte Scheu gehabt. Er war nicht gesprungen, aber Tatjana. Und Anatol hatte noch gerufen, dass es hier nicht tief genug für einen Kopfsprung sei. Er hatte sie dann herausgeholt. Sie war benommen gewesen, aber bald wieder so wie immer.
Ob sie sich an diesem Tage die Kopfverletzung zugezogen hatte?
Er ging dann einen langen düsteren Gang entlang, und dann saß er Tatjana gegenüber, durch ein Gitter getrennt.
Sie war nur noch ein Schatten ihrer selbst. Ihr Gesichtsausdruck war stumpf, ihre Augen blicklos auf ihn gerichtet.
»Erkennst du mich, Tatjana?«, fragte er. »Ich bin Cornelius.«
»Cornelius«, wiederholte sie monoton, »der kleine Cornelius.« Ein Schaudern lief über seinen Rücken, während er krampfhaft überlegte, was nun wohl hinter dieser faltigen Stirn vor sich ging. Zerknittert wie Pergament war ihre Haut, die sich doch immer so straff über ihre hervortretenden Wangenknochen gespannt hatte. Am liebsten wäre er aufgesprungen und davongelaufen, doch da begann sie zu sprechen.
»Anatol hat mich vergessen, du nicht. Wo ist Anatol? Warum kommt er nicht?«
»Anatol ist tot, Tatjana«, erwiderte er tonlos.
»Tot?« Sie kicherte. Es klang gespenstisch. »Dann kann er niemanden mehr sagen, dass ich Magnus erschossen habe. Du wirst es auch nicht verraten, Cornelius, nicht wahr?«
»Warum hast du ihn erschossen?«, fragte Cornelius stockend.
»Warum? Er sah mich an und ging weg. ›Ich liebe Evelyn‹, hat er gesagt. ›Wir haben nichts gemeinsam, Tatjana‹. Ja, das hat er gesagt. Er dachte nur an diese Frau und an ihr Kind, nicht an dich, Cornelius«, wimmerte sie.
»Hast du an mich gedacht, Tatjana?«, fragte Cornelius.
»Ich habe ihm gesagt, dass du sein Sohn bist.«
»Und was hat mein Vater gesagt?«
»Wenn Cornelius mein Sohn ist, wird er den Weg zu mir finden. Und dann hat er mir den Rücken zugedreht und ist gegangen.«
»Und du hast auf ihn geschossen.«
»Ich habe abgedrückt«, erwiderte sie, den Kopf in den Nacken legend. »Er ist gar nicht tot, Cornelius«, fuhr sie flüsternd fort. »Das hat Anatol nur gesagt, um mir Angst zu machen. Er ist reich, reich, reich!« Ihre Stimme gellte durch den Raum, dröhnte in seinen Ohren. Sie war nicht mehr menschenähnlich. Tatjanas knochige Finger umkrampften das Gitter. Ihr verzerrtes Gesicht presste sich gegen die Stäbe. »Mein Kopf schmerzt«, flüsterte sie dann. »Das Wasser war zu flach. Es ist gut, dass du nicht gesprungen bist. Geh zu Magnus. Er wird dir Geld geben. Und du wirst es mir bringen. Ich will nicht mit Anatol teilen.«
Eine Hand legte sich auf Cornelius’ Schulter. »Kommen Sie, Herr Boerden«, sagte eine leise Stimme. »Sie weiß nicht, was sie redet. In ein paar Minuten wird sie alles vergessen haben.«
»Für immer?«, fragte Cornelius.
»Das ist schwer zu sagen. Sie wird lichte Momente haben und in tiefe Finsternis versinken. Sie ist krank. Sie sind gesund und jung, Herr Boerden. Kommen Sie nicht mehr hierher.«
»Sie wird also nicht vor Gericht gestellt werden?«
»Wozu? Sie wird hinter Gittern und in der Finsternis leben. Ist das nicht Strafe genug?«
»Erwarten Sie, dass ich ihr verzeihe?«, fragte Cornelius.
»Alles verstehen, heißt alles verzeihen, heißt es«, sagte der Gefängnisdirektor. »In diesem Fall würde ich sagen, vergessen Sie, und denken Sie nicht mehr zurück.«
Wie betäubt ging Cornelius zu seinem Wagen. »Du sollst nicht zurückschauen, nur vorwärts«, hatte er zu Saskia gesagt. Sollte er es nun nicht auch zu sich selbst sagen?
Hatte er früher nicht selbst so manches Mal gedacht, dass man Sträflingen nicht den Weg zurück in die Gesellschaft verbauen solle, wenn sie ihre Strafe verbüßt hatten? Es sah alles ein wenig anders aus, wenn man zu den Betroffenen gehörte, und Tatjana kannte weder Reue noch Buße. Sie würde nun einfach dahinvegetieren.
Und er? Konnte er sich nicht freier fühlen? Durch eine Verletzung sei ihr Gehirn geschädigt worden, hatte der Arzt gesagt. Aber wie war es bei seiner Mutter gewesen? Gewiss, sie hatte keinen Menschen getötet, aber sie hatte seinen Vater betrogen, und sie hatte es geduldet, dass Tatjana und van Reyken so lange gegen ihn intrigierten.
Aber sie hatte bereut. Sie hatte ihm alles gebeichtet, als er erwachsen war. Sie war keine vorbildliche Mutter gewesen, sie hätte ihn abgetreten an den Mann, der doch sein Vater gewesen war. Tatjanas große Lüge hatte nicht nur ihn, Cornelius, um vieles gebracht, sondern auch seine Mutter in tiefe Konflikte gestürzt.
Aber was hatte Tatjana doch gesagt? Was waren die letzten Worte seines Vaters gewesen, wenn man ihr Glauben schenken konnte?
»Wenn Cornelius mein Sohn ist, wird er den Weg zu mir finden?«
Ja, er hatte den Weg gefunden, aber sein Vater war tot gewesen. Er hatte eine verzweifelte Frau und ein verängstigtes, aggressives Kind angetroffen.
Cornelius fuhr nun zum Friedhof. Er stand vor der Gruft, in der schon Evelyns Eltern beigesetzt worden waren. Hier hatte sie ihren Mann bestatten lassen. Und nun hatte auch sie hier ihre letzte Ruhestätte gefunden.
Er gedachte dieser Frau mit tiefster Verehrung. Ihre erste Liebe war ein folgenschwerer Irrtum gewesen, eine romantische Illusion. Ihre große Liebe hatte sie in Magnus Boerden gefunden, doch nur ein kurzes Glück war ihr beschieden gewesen. Nun gab es nur noch Saskia.
Nur? Eine heiße ungestüme Sehnsucht erfüllte ihn schon jetzt, da sie doch erst einige Stunden getrennt waren. Seine Gedanken folgten ihr zur Insel der Hoffnung, von der er sich keine richtige Vorstellung machen konnte.
*
Man konnte es sich nicht vorstellen, so schön war es dort. Wie im Traum betrat Saskia zwischen Fee und Daniel die Insel. Mit welch herzlicher Freude wurden sie begrüßt von Dr. Johannes Cornelius und seiner Frau Anne, deren Tochter Katja und dem kleinen Mario, der nun auch schon einige Wochen den Namen Cornelius trug.
Unterwegs hatte Saskia die bittersüße Geschichte dieses kleinen Italieners erfahren, dessen Eltern bei einem Bootsunglück ertrunken waren, während er selbst von Daniel gerettet wurde. Er hatte dann hier eine Heimat gefunden, liebevolle Eltern und eine zärtliche große Schwester in Katja, die auch in früher Jugend schon viel Leid durchlebt hatte. Er war ein glückliches Kind und auch Katja war ein frohes und gesundes Mädchen geworden, flink auf schlanken Beinen, denen man nicht mehr anmerkte, dass sie das Gehen mühsam wieder hatte lernen müssen.
Diese Menschen waren Saskia aus Fees Erzählungen schon vertraut und sie selbst wurde aufgenommen, als würden sie sich ewig kennen.
Es war Saskia, als steige sie aus der Finsternis zum Licht empor, als Katja ihre Hand ergriff und mit einem lieben Lächeln sagte: »Ich werde dir alles zeigen.«
»Mario will Saskia auch alles zeigen«, machte sich der kleine Lockenkopf bemerkbar. »Mario kennt jeden Stein«, versicherte er eifrig.
»Ein zauberhaftes Mädchen«, sagte Anne indessen zu Fee.
»Zum Umpusten«, brummte Dr. Cornelius. »Wir müssen sie erst mal aufpäppeln. Und du, mein Mädchen, brauchst anscheinend auch ein paar Tage Erholung«, sagte er liebevoll zu Fee.
»Schimpf mich nicht, Johannes«, erklärte Daniel rasch. »Ich kann nichts dafür, dass Fee sich so hineingehängt hat.«
»Langeweile gibt es bei euch jedenfalls nicht«, lenkte Anne ab. »Man sagt zwar, aller guten Dinge sind drei, aber bei euch waren es aufregende Fälle.«
»Hoffen wir, dass dieser dritte Fall auch der letzte bleibt«, brummte Dr. Cornelius. »Es muss doch möglich sein, dass auch mein Schwiegersohn eine ganz normale Arztpraxis führen kann.«
»Was verstehst du unter normal, Paps?«, fragte Fee schelmisch. »Erlebt ihr hier nicht auch genug?«
»Aber mit der Polizei hatten wir glücklicherweise noch nicht zu tun.«
»Beschrei es nicht«, warf Anne ein. »Da muss ich doch gleich auf Holz klopfen.«
»Klopf an meinen Kopf«, scherzte Johannes Cornelius.
»Der ist mir zu wertvoll.« Liebevoll streichelte sie dafür seine Wange.
»Ja, wer kommt denn da?«, rief Daniel aus.
Arm in Arm kam ihnen ein junges Paar entgegen. Dr. Jürgen Schoeller und Isabel Guntram, der Arzt von der Insel der Hoffnung und die Journalistin aus München, deren Herzen sich hier gefunden hatten.
»Es wird mir doch gestattet sein, meinen Zukünftigen am Wochenende zu besuchen«, sagte Isabel lachend. »Von euch hört und sieht man ja nichts mehr.«
»Wir waren schwer in Druck«, erwiderte Daniel.
»Habe es schon vernommen«, sagte Isabel. »Alles gutgegangen?«
»Kommt darauf an, von welcher Warte aus man es betrachtet.«
»Und kein Wort für die Presse«, sagte Isabel.
»Was sagt man dazu?«
»Das hätte uns noch gefehlt«, meinte Daniel. »Ich bitte euch herzlich, Saskia gegenüber keine Bemerkung zu machen.«
»Wofür hältst du uns, Daniel?«, fragte Isabel. »Wer die Insel betritt, lässt allen Ballast zurück.«
So musste es wohl sein, denn auch Saskia hatte sich noch nie so frei gefühlt. Sogar ein Lächeln legte sich um ihren Mund, als Mario so munter auf sie einschwatzte.
»Nun gib mal Ruhe, Mario«, sagte Katja. »Alles braucht Saskia doch nicht gleich am ersten Tag kennenzulernen.«
»Aber die Quelle will ich dir zeigen«, sagte Mario. »Die Quelle hab’ nämlich ich entdeckt.«
»Und darauf ist er sehr stolz«, sagte Katja.
»Kann ich auch stolz sein, hat Papi gesagt«, erklärte Mario. »Sie war nämlich verwunschen, weil die Leut’ früher Geld für das Wasser haben wollten. Gell, Katja, so war es. Und wenn was helfen soll, darf man kein Geld dafür nehmen.«
Der kleine Mario hatte sich schon völlig akklimatisiert und man merkte ihm nicht mehr an, dass er mit einer anderen Sprache aufgewachsen war. Ein pfiffiges Kerlchen war er mit seinen fünf Jahren und er entlockte Saskia mehr als ein Lächeln.
Als sie dann aber vor der Quelle standen, die munter unter hohen Farnen aus verwitterten Steinen hervorsprudelte, wurde Saskia wieder nachdenklich.
Mario blinzelte zu ihr empor. »Ich darf nicht mehr davon trinken«, sagte er schelmisch, »sonst werd’ ich zu frech, sagt Mami. Aber du musst mal trinken, Saskia. Beug dich runter, halt deine Hand auf, und dann koste mal. Es ist ganz anderes Wasser, als was wir sonst haben.«
Saskia beugte sich herab und fing das Wasser in der hohlen Hand auf. Sie trank es und lächelte.
»Ja, es schmeckt ganz anders«, sagte sie leise. »Alles ist anders, auch der Himmel.«
Mario sah sie staunend an. »Der Himmel ist überall«, sagte er.
»Aber er sieht nicht überall gleich aus. Saskia breitete die Arme aus und richtete ihren Blick empor und mit atemloser Spannung sah Katja, wie der schwermütige Ausdruck aus ihren Augen wich und einem tiefen Leuchten Platz machte.
»Und jetzt gibt’s ein ganz pfundiges Essen«, sagte Mario. »Musst tüchtig zuklauben, Saskia. Bist ja noch dünner als Katja.«
Es war kaum zu glauben, aber sie hatte plötzlich Appetit. Daniel und Fee tauschten zuversichtliche Blicke. Katja ermunterte Saskia immer wieder, dies oder jenes noch zu probieren.
Zwei gleichaltrige Mädchen, von denen jedes schon sein Leid zu bewältigen hatte, waren schnell Freundinnen geworden. Fee brauchte es um Saskia nicht Bange zu sein, als sie dann am Sonntagabend wieder heimwärts fahren mussten.
»Nächstes Mal bringt ihr aber Nonna Lenchen wieder mit«, sagte Mario kategorisch.
»Sagen Sie Cornelius bitte Grüße, wenn Sie ihn sprechen sollten, Fee«, bat Saskia leise. »Es ist wunderschön hier. Sie haben sehr viel für mich getan. Tausend Dank.«
»Sie bringen mich in Verlegenheit, Saskia«, sagte Fee herzlich. »Eine gute, glückbringende Zeit wünsche ich Ihnen.«
Saskia schickte dem davonfahrenden Wagen einen sehnsüchtig-träumerischen Blick nach, und den fing Fee noch auf. Sie ahnte, was er zu bedeuten hatte, dass er eigentlich wohl dem fernen Cornelius galt.
Der hatte diesen Tag mit Dr. Camphausen verbracht. Sie mussten nun endlich über vieles sprechen.
In Wien hatte Dr. Camphausen nicht das erreicht, was er wollte, doch jetzt war es auch schon nebensächlich geworden. Anatol van Reyken war tot. Es spielte keine Rolle mehr, ob er überhaupt Verbindung zu dem Fürsten Dejali gehabt hatte. Saskia wollte mit ihrem eigentlichen Vater nichts zu schaffen haben. Das hatte sie Dr. Camphausen klar und deutlich gesagt.
»Das Schicksal hat alle Konflikte für mich gelöst«, sagte Dr. Camphausen sinnend. »Mir bleibt nur noch, den letzten Willen unserer so sehr verehrten Verstorbenen zu vollstrecken. Ich begehe keinen Vertrauensbruch, wenn ich Ihnen sage, dass sie ihre Verfügungen zugleich als den letzten Willen ihres Mannes begriff. Kurz gesagt, Evelyn Boerden hat bestimmt, dass das gesamte Vermögen, ihr eigenes, wie auch das ihres Mannes, zu gleichen Teilen an Sie und Saskia fällt.«
Cornelius starrte ihn an. »Ich will nicht, dass Saskia benachteiligt wird«, sagte er leise. »Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis, Herr Dr. Camphausen.«
»Ich glaube nicht, das Saskia Widerspruch gegen die Verfügung ihrer Mutter erheben wird. Frau Boerden hat für sich kaum etwas verbraucht. Das Vermögen hat sich demzufolge in den vergangenen neun Jahren beträchtlich vermehrt. Die Aufwendungen für Saskias Internatsaufenthalt fallen dabei kaum ins Gewicht.«
»Sprechen Sie jetzt bitte nicht darüber«, sagte Cornelius. »Wenn es schon sein muss, sollen diese Dinge im Beisein von Saskia erörtert werden.«
»Hoffentlich bald«, sagte Dr. Camphausen seufzend. »Ich werde froh sein, wenn ich diese Verantwortung abgeben kann. Jetzt möchte ich Sie aber doch einmal fragen, wovon Sie während dieser Jahre gelebt haben.«
»Wovon? Von meinem Verdienst natürlich«, erwiderte Cornelius mit leichtem Spott. »Und ich muss gestehen, dass ich sehr froh bin, es ohne Hilfe geschafft zu haben.«
»Ihr Vater würde stolz auf Sie sein, Herr Dr. Boerden«, sagte Dr. Camphausen mit einem feinen Lächeln.
»Sie haben sich also nach mir erkundigt«, sagte Cornelius anzüglich.
»Ja, wissen Sie, Sie dürfen mir das nicht verübeln«, meinte Dr. Camphausen leicht verlegen. »Wenn es um ein so großes Vermögen geht, möchte man seine Klientin schon richtig beraten. Zumindest muss man sich vergewissern, ob es wirklich der richtige Cornelius Boerden ist, mit dem man es zu tun hat. Evelyn, ich darf sie so nennen, da wir gute Freunde waren, hat mich deswegen zwar belächelt, aber –«, er seufzte tief, und da fiel ihm Cornelius ins Wort: »Aber Sie haben durchaus richtig und ehrenhaft gehandelt. Ich nehme an, dass Ihre Ermmittlungen schon eine Zeit zurückliegen.«
»Ja, gewiss, denn als damals, sobald nach dem Tode Ihres Vaters ein fremder junger Mann auftauchte, der sich Cornelius Boerden nannte, war ich recht misstrauisch.«
»Ich hätte meinen Vater sehr gern lebend angetroffen«, sagte Cornelius leise. »Wäre Evelyn nicht so verständnisvoll und tätig gewesen, ich weiß nicht, ob ich dann heute vor Ihren Augen bestehen könnte.«
Dr. Camphausen maß ihn mit einem langen väterlichen Blick. »Ich glaube doch«, sagte er.
»Sie sind der Sohn Ihres Vaters, eines Mannes, den ich hoch einschätzte und sehr bewunderte. Es war Evelyns heißester Wunsch, Saskia unter Ihren Schutz zu stellen, und eine Frau, die so viel durchmachen musste in ihrem Leben, dass sie nur noch voller Misstrauen war, konnte den Wert eines Menschen beurteilen. Ich hoffe von Herzen, dass sich die Freundschaft, die sich nun zwischen Ihnen und Saskia angebahnt hat, vertiefen möge. Ja, ich wünsche es aus tiefstem Herzen. Sie sind jetzt für Saskia verantwortlich, Cornelius.«
Da schüttelte Cornelius leicht den Kopf. »Nein, wenn schon, dann sind wir gleichberechtigt. Saskia braucht keinen Vormund. Sie soll mit ihrem Vermögen tun, was sie für richtig hält. Ich weiß, dass sie das Richtige tun wird.«
»Sie ist sehr jung an Jahren«, sagte Dr. Camphausen nachdenklich.
»Es sind nicht die Jahre, die einen Menschen reif machen«, erwiderte Cornelius.
Und als er dann heimfuhr zu dem Haus, das erfüllt war von zwiespältigen Erinnerungen, dachte er an Saskias Antwort auf seine Frage, wann er sie besuchen dürfe und dass sie ihm Bescheid geben solle.
»Du musst es selbst wissen oder fühlen«, hatte sie erwidert. Wenn er seinem Herzen gefolgt wäre, hätte er jetzt gleich zu ihr fahren müssen.
Alles braucht seine Zeit, sagte jedoch sein Verstand. Man soll das letzte Kapitel eines Romanes nicht lesen, wenn man das erste noch nicht ganz beendet hat. Man muss allen Wünschen Zügel anlegen. Man darf sie nicht schießen lassen.
Evelyn hatte ihm manche Weisheit mit auf den Weg gegeben. Wie groß und voller Liebe und Güte ihr krankes Herz doch gewesen war. Und wenn doch alle Tränen, die sie geweint hatte, gesammelt worden wären, müsste dieses Haus ertrinken. Er wusste es. Und er wusste auch, dass Saskia in diesem Haus nicht glücklich werden konnte.
Ihm wurde die Brust plötzlich eng. Wie konnte er denn schon so fest daran glauben, dass sie unter einem Dach leben würden? War das nicht vermessen? Durfte er denn annehmen, dass seine Wünsche auch die ihren waren?
Er sah sie vor sich in ihrem ganzen Liebreiz. Ein Mädchen, von dem ein Mann träumen konnte, weil es fast unwirklich in seinem Zauber war. Ein Traumbild nur? Nein, Saskia war ein Mensch aus Fleisch und Blut, mit einem heißen Herzen und einer großen Seele.
Cornelius hielt den Atem an. Liebe! Ein großes Wort, das so viel, das alles umschloss, was an Denken, Fühlen, Sehnsucht in ihm war.
Geboren als Prinzessin, aufgewachsen als ein schlichter Mensch, als geliebtes Kind seines Vaters. Sie wolle den Namen Boerden immer tragen, hatte sie gesagt.
Sie würde ihn behalten, wenn sie meine Frau wird, dachte er. Meine über alles geliebte Frau.
Alles Blut strömte ihm zum Herzen. Unbewusst streckte er die Arme aus. Würde sie ihre Hände in seine legen?
Es sammelte sich so unendlich viel in seinem Herzen in den darauffolgenden Tagen. Es erwachte Hoffnung in diesem ungestüm schlagenden Herzen, als er die Nordens aufsuchte und Fee ihm Saskias Grüße ausrichtete.
»Sie kann wieder lächeln«, sagte Fee und senkte damit Zuversicht in seine Gedanken.
Endlos lang dünkte ihn die Woche, die sich nun zu Ende neigte. Manchmal meinte er, Saskias Stimme zu hören, die ihn rief und alle Zweifel bannte.
Und dann schloss er das Haus ab und fuhr nach Süden, der Insel der Hoffnung entgegen. Nichts mehr konnte ihn zurückhalten. Saskia rief ihn, winkte ihm zu. Er spürte es.
*
»Wie sie auflebt«, sagte Anne Cornelius zu ihrem Mann. »Und wie sehr sie schon geliebt wird«, sagte Dr. Cornelius sinnend. »Unsere Katja hat endlich eine Freundin gefunden.«
»Saskia auch«, meinte Anne.
Einen bezaubernden Anblick boten die beiden jungen Mädchen in ihren leichten Kleidern, die leichtfüßig, einen tönernen Krug an runden Henkeln zwischen sich tragend, des Weges kamen. Mario, den Arm voller Wiesenblumen, folgte ihnen.
»Heut’ bekommt jeder ein Schluckerl Quellwasser«, sagte Mario. »Haben’s aufgefangt. Saskia hat nämlich Geburtstag.«
»Und das erfahren wir erst jetzt?«, sagte Anne betrübt.
»Ist doch nichts Besonderes«, sagte Saskia. »Ein Jahr älter, zum Feiern ist das kein Grund.«
»Wenn man so jung ist, braucht man die Jahre noch nicht zu zählen«, sagte Dr. Cornelius. Dann ergriff er Saskias Hände.
»Viel Glück im neuen Lebensjahr, liebe, kleine Saskia.«
»Dass ich hier sein darf, bei euch, ist sehr viel Glück«, erwiderte sie mit schwingender Stimme.
»Und ein Schluck aus der Quelle ist köstlicher als der beste Wein«, sagte Katja. »Bekommen wir Besuch, Paps?«
»Wieso?«, fragte Dr. Cornelius.
»Da kommt ein Auto«, rief Mario aus.
Saskia stand plötzlich regungslos wie eine Statue. Sie hatte den Wagen von Cornelius erkannt. Ganz weit wurden ihre Augen.
»Es ist Cornelius«, flüsterte sie.
Anne hielt Mario zurück, Dr. Cornelius griff nach Katjas Hand.
»Wir wollen dieses Wiedersehen nicht stören«, sagte er leise. »Wir wollen uns indessen ausdenken, was wir Saskia zum Geburtstag schenken.«
»Ich weiß schon etwas«, sagte Katja. »Ich auch«, jauchzte Mario.
Saskia ging Cornelius entgegen. Wie Sterne leuchteten ihre Augen. Der weiche Wind hob ihr seidiges Haar und wehte es in ihre Stirn, und Cornelius war es, als schwebe sie auf Wolken. Ihre Hände streckten sich ihm entgegen und wurden von seinen umschlungen. Er zog sie an seine Brust und presste seine Lippen, die ganz trocken waren, an ihre Stirn.
»Lieber Cornelius«, flüsterte Saskia. »Herzlich willkommen auf der Insel der Hoffnung.«
»Meine geliebte kleine Saskia«, sagte er voller Zärtlichkeit, und dann sanken sie sich in die Arme, hielten sich fest und küssten sich. Es konnte nicht anders sein. Träume gingen in Erfüllung, ihre Wünsche und ihre Herzen vereinigten sich.
»Was können wir ihnen jetzt noch schenken?«, fragte Anne leise, sich ganz verstohlen ein paar Tränen aus den Augen wischend. »Sie haben alles. Sie haben sich.«
Mario drängte sich zwischen sie und Johannes. »Vielleicht kommt Cornelius heute, hat Saskia gesagt, als wir an der Quelle waren«, wisperte er, »und schon ist er da. Unsere Quelle kann zaubern.«
»Sie hat einen Zauber«, sagte Anne verhalten.
»Und jetzt kriegen sie unsere Becher zum Geburtstag und müssen die Quelle trinken«, sagte Mario. Und er trug die Zinnbecher zu ihnen hin, die mit dem Quellwasser gefüllt waren.
»Das ist mein Freund Mario«, sagte Saskia zu Cornelius, als der Kleine sie sanft stupste.
Cornelius lächelte. »Einen so kleinen Freund akzeptiere ich«, sagte er und nahm den einen Becher aus Marios Hand. Den anderen nahm Saskia.
»Die schenken wir euch, Katja und ich«, sagte Mario. »Und was drin ist, müsst ihr gleich trinken und euch was wünschen. Das geht dann in Erfüllung. Gell, Saskia, du weißt es schon?«
Sie strich ihm über den Lockenkopf, und ihr Blick traf sich mit dem von Cornelius.
»Und was kredenzt er uns?«, fragte Cornelius.
»Wasser aus der Quelle der Liebe«, erwiderte Saskia.
»Ist aber ein ganz besonderes Wasser«, flüsterte Mario, und dann lief er schnell wieder zu Johannes und Anne, zu denen sich auch Katja gesellt hatte.
»Saskia hat heute nämlich Geburtstag«, rief er laut.
Cornelius legte seine Hände um das zarte Mädchengesicht. »Ich weiß es«, flüsterte er. »Was wünscht sich mein kleines Mädchen?«
»Nichts als dich«, erwiderte sie.
»Willst du meine Frau werden, Saskia? Meine sehr geliebte Frau?«
»Wenn du mich haben willst?«
»Ich wünsche mir nichts anderes.«
Seine Lippen streichelten weich ihre Stirn.
»Die Rosen sind noch im Wagen, aber den Ring habe ich in der Tasche«, raunte er ihr ins Ohr.
Und gleich steckte er ihr ihn an den Finger. Darauf fanden sich ihre Lippen wieder zu einem langen Kuss.
»Man kann es drehen und wenden wie man will«, sagte Dr. Cornelius zu seiner Frau.
»Dass es eine heilkräftige Quelle ist, wissen wir ja, aber dass sie auch Liebesgefühle herbeizaubert, scheint sich auch zu bewahrheiten.«
»Die Liebe war schon vorher da«, sagte Anne mit einem weichen Lächeln.
»Gibt’s nun eine Hochzeit?«, fragte Mario flüsternd.
»Sicher bald«, sagte Katja träumerisch.
»Hoffentlich trödeln sie nicht so lange wie Jürgen und Isabel, das wird langsam langweilig«, meinte er.
Während Cornelius und Saskia Arm in Arm durch den herrlichen Park wanderten und Zukunftspläne machten, in denen von Geld überhaupt nicht die Rede war, rief Katja Fee an. Und diese sank ein paar Minuten später ihrem Mann glücklich in die Arme.
»Nun ist alles gut, Daniel«, sagte sie bewegt. »Um Saskia brauchen wir uns keine Sorgen mehr zu machen. Cornelius ist bei ihr.«
»Nun, dann wünschen wir uns für die nächste Zeit mal eine ganz normale Arztpraxis«, sagte er schmunzelnd.
»Ohne Aufregungen«, gab Molly ihren Kommentar dazu.
- E N D E -