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ОглавлениеAtos, der 3 Tag, gelbe Sonne
Mond: Derun
Die ersten Sonnenstrahlen fielen durch die Fenster von Shamiiras Hütte. Es war der dritte Tag der gelben Sonne. Shamiira war schon lange wach gewesen und hatte nur darauf gewartet, dass der Tag anbrach. Sie stand am Fenster ihrer Hütte und schaute gedankenverloren nach draußen. Ihr Blick war auf die Dorfmitte gerichtet, den Ort, an dem sie das Geschenk von Derun empfangen hatte. Mit leichten Kopfschmerzen wandte sie sich langsam wieder von Fenster ab und griff nach ihrem Rucksack, rückte ihre Kleidung zurecht und ging auf den Ausgang ihrer Hütte zu. Kurz bevor sie jedoch ins Freie trat, um ihre Reise zur Sonnenstadt anzutreten, holte sie noch einmal tief Luft, massierte sich den Nacken und überstreckte diesen soweit es ging, doch alle Versuche, die Kopf- und Nackenschmerzen zu vertreiben, waren vergeblich. Der Symbiont ließ sich in seinem Wachstum nicht von ein paar kleinen Massagen stoppen, sondern forderte sein Recht auf schmerzvolle Art und Weise jede Sekunde von Shamiiras Leben ein. Sie hatte stark damit zu kämpfen, sich vor Schmerzen nicht in einer Ecke zu verstecken und zu hoffen, dass alles ganz schnell vorbeiging. Shamiira war sich im Klaren, dass die Schmerzen in den nächsten fünf Tagen sogar noch schlimmer werden würden, mit jedem weiteren Tag würden sie an ihren Kräften zehren und vielleicht sogar mehr fordern, als sie geben konnte. Shamiira schob den Vorhang ihrer Hütte beiseite und holte noch einmal tief Luft, bevor sie hinaustrat. Die ersten Bewohner ihrer kleinen Wasserstadt waren schon wach und bereiteten das gemeinschaftliche Frühessen vor. Shamiira warf sich den Rucksack über und spazierte noch einmal durchs Dorf und schaute den Arbeitenden bei ihren morgendlichen Ritualen zu, während sie versuchte, die Stimmen in der Gedankenmatrix der einzelnen Bewohner ihres Dorfes zu hören. Zu Shamiiras großer Enttäuschung schienen ihre Schmerzen wie eine Barriere gegen die Stimmen in der Gedankenmatrix zu wirken. Tief betrübt wandte sie sich von den arbeitenden Bewohnern ab und ging auf die Dorfgrenze zu. Seit ihrer frühesten Kindheit waren die Stimmen da. Die Stimmen ihrer Eltern, Geschwister und der anderen Dorfbewohner. Jeder konnte an den Gedanken der anderen teilnehmen und war nie allein. Bräuchte man einen Rat, so musste man nur seine Probleme in die Matrix fließen lassen und wurde sofort von anderen bei seinen Problemen unterstützt. Doch jetzt schienen die Gedanken der Gemeinschaft nur noch Schatten zu sein. Schatten, die ganz weit weg waren und deren Existenz man mehr erahnen konnte, als dass man sie wirklich wahrnahm. Shamiira schritt gedankenverloren an anderen Bewohnern vorbei und musste sich sehr anstrengen, ihre Tränen zurückzuhalten. An der Dorfgrenze blieb sie für mehrere Minuten stehen und versuchte, ihre eigenen Gedanken zu sortieren. Allein. Ich bin nun allein. Eine Träne rann Shamiira plötzlich über die Wange und ihre Konzentration war schlagartig zerstört. Immer mehr Tränen suchten ihren Weg über Shamiiras Wangen zum Erdboden, doch sie wischte sie nicht ab, sondern ließ sie einfach laufen. Sie zweifelte nicht daran, dass Derun das Richtige für sie erwählt hatte. Aber der Weg, den sie nun gehen musste, erschien ihr lang und sehr schwierig zu werden. Noch ein allerletztes Mal schaute sie zum Dorf zurück, bevor sie in den Wald aufbrach. Viele Gedanken sausten Ihr durch den Kopf, während sie den dichten Wald durchwanderte. Immer mal wieder musste sie eine kleine Rast machen, da ihr Kopf vor Schmerzen zu explodieren drohte. Als sie am späten Nachmittag wieder eine Rast machte, war sie bereits 17 Kilometer weit gekommen. Ihr Weg hatte sie an einen kleinen See geführt, an dem sie einmal als Kind gewesen war. Sie machte sich vorsichtig daran, die Böschung herab zu steigen, um ihre Wasserflasche mit neuem frischen Wasser aufzufüllen und vielleicht einen schönen großen Fisch zu fangen, um ihren Hunger zu stillen. Die Böschung war mit Wurzeln der umliegenden Bäume durchzogen und bildete so eine natürliche Treppe, über die Shamiira sehr leicht zum Uferrand gelangen konnte. Unten am See machte sie sich sofort daran ihre Wasserflasche mit frischem Wasser zu befüllen als ihr eine Höhle auffiel. Sie kramte in ihren Erinnerungen nach irgendwelchen Informationen, ob sie diese Höhle schon einmal gesehen hatte, konnte sich jedoch nicht daran erinnern. Viele Male war sie bereits hier gewesen, doch an eine Höhle konnte sie sich einfach nicht erinnern. Von der Neugierde gepackt schlich sie auf die Höhle zu. Die Steine unter ihren Füßen knirschten bei jedem Schritt, was das Schleichen nicht wirklich einfach machte. Je näher sie an die Höhle heran kam, desto mehr merkte sie, dass der Eingang halb im Wasser und halb am Ufer lag. Bei starken Regenströmen wäre es also möglich, dass der See so mit Wasser aufgefüllt wurde, dass der Eingang sich unter Wasser befinden würde. Shamiira wurde immer langsamer, je näher sie dem Höhleneingang kam, schließlich konnte sie ja nicht wissen, ob nicht ein wildes Tier diese Höhle als sein Zuhause angenommen hatte oder wie tief die Höhle wirklich war und das wilde Tier plötzlich aus der Höhle gesprungen kam, um sie mit seinen rasiermesserscharfen Krallen zu zerfetzen. Nach endlos langen Minuten des Heranschleichens erreichte sie endlich den Höhleneingang. Vorsichtig wagte sie einen Blick in die Höhle und musste schnell feststellen, dass sie nicht weit genug sehen konnte. Also nahm sie all ihren Mut zusammen und machte sich langsam daran, den nassen und mit Algen bewachsenen Pfad hinunter zu steigen. Nach etwa zwei Metern stand sie schon beinahe in völliger Dunkelheit, nur vereinzelte Sonnenstrahlen fanden den Weg hinein zu Ihrer Position. Sie schluckte etwas über die tiefe Finsternis, in der sie geradestand, und machte sich daran, in ihrem Rucksack nach dem Sonnenstock zu suchen, den sie hoffentlich, so dachte sie, auch eingepackt hatte. Das wenige Licht in der Höhle machte es ihr nicht besonders leicht, etwas in ihrem Rucksack zu sehen, und so musste sie sich auf ihre anderen Sinne verlassen, die sich dank ihrer durch den Symbionten verursachten Schmerzen langsam in ihr imaginäres Schneckenhaus zurückzogen. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis Shamiira den 15 Zentimeter langen Holzstab fand. An seiner Spitze befand sich ein weißer Kristall, der Ähnlichkeit mit einer Speerspitze hatte. An dem kleinen Stab befanden sich noch vier Lederlaschen, die nicht dicker als ein Blatt und größer als ein Kinderdaumen waren. Shamiira griff nach einer der vier Laschen und zog sehr vorsichtig daran, um das feine, zusammengefaltete Sonnensegel auszuziehen. Im ausgeklappten Zustand hatte es Ähnlichkeit mit einer Messerschneide, die man aus reinem Gold geschmiedet hatte. Ganz aufgeklappt hatte das kleine Segel einen Durchmesser von zehn Zentimetern und hatte seine Mitte genau zwischen Kristall und Holzstab. Nachdem Shamiira sich vergewissert hatte, dass das Sonnensegel ausgefahren blieb, zog sie nach und nach an den anderen drei Laschen und klappte damit die restlichen Sonnensegel auf. Auch diese waren genau zehn Zentimeter lang und hatten zum jeweiligen Nachbarn immer den gleichen Abstand. Zu guter Letzt drehte Shamiira noch an der Schaftspitze, um die Sonnensegel ineinander zu verdrehen und so eine Blende zu erschaffen, die das Licht des Sonnensteins in eine Richtung werfen sollte. Als sie den Stab endlich vorbereitet hatte, drehte sie die Spitze des Sonnenstabs dreimal im Uhrzeigersinn und entzündete den Stab auf diese Weise. Sofort durchstieß grelles weißes Licht die Dunkelheit. Mal schauen, was ich hier in der Höhle finden werde, ging es Shamiira durch den Kopf, als sie ihren Weg tiefer in die Höhle fortsetzte. Mit ihrem Sonnenstab leuchtete sie den Weg vor sich auf Stolperfallen in regelmäßigen Abständen ab und untersuchte immer wieder die Wände nach kleinen Tieren, die hier unten vielleicht leben konnten. Doch was sie nach etwa einhundert Metern vor sich fand, sorgte beinahe dafür, dass sie auf den Algen am Boden ausrutschte. Shamiira stand plötzlich vor einem Schaka, einem sechsbeinigen Tier mit mehreren Reihen an scharfen Zähnen. Shamiira hatte bereits von diesen Tieren gehört, auch wenn ihr der Name dieses Tieres einfach nicht einfallen wollte. Während ihrer Ausbildung als Kintaszüchterin wurden ihr Bilder von vielen Tieren gezeigt, die außerhalb von Derun lebten. Ein abgestürzter Frachter muss es dabeigehabt haben. Es wirkt viel kleiner als auf den Bildern. Das arme Tier. Ich sollte schauen, ob es verletzt ist. Shamiira ging sehr vorsichtig auf den Schaka zu. Ihren Sonnenstock hielt sie fest umklammert und etwas zur Seite gedreht, damit sie das kleine Tierchen mit einer Rückenhöhe von etwa dreißig Zentimetern nicht blendete. „Hallo, Kleiner? Geht es dir gut? Brauchst du Hilfe?“, sprach Shamiira den Schaka an und streckte ganz langsam ihre Hand nach ihm aus. Ein „Grrrrrr“ war jedoch die einzige Antwort des kleinen Tieres. Shamiira ließ sich aber nicht davon beirren und versuchte weiter, das Vertrauen des Schaka zu gewinnen. „Ich tue dir doch nichts“, versuchte sie es mit einer ruhigen Stimme weiter. „Hast du dich verle…“ Und von einer Sekunde auf die nächste sprintete der Schaka auch schon mit überdurchschnittlicher Geschwindigkeit direkt auf Shamiira zu. Sie sprang voller Panik nach links, um dem Schaka auszuweichen, nur um feststellen zu müssen, dass die kleine Kreatur zu schnell für sie war und ihr die Seite mit seinen Krallen aufriss. Shamiira landete unsanft auf dem kalten Höhlenboden und rollte den immer noch leicht steilen Pfad weiter in die Höhle hinein, bis sie von einer Wand aufgehalten wurde. Etwas schwindlig im Kopf versuchte sie sich aufzurichten und gleichzeitig nach dem Schaka zu suchen. Noch bevor sie sich ganz aufrichten konnte, erblickte sie das kleine Wesen auch schon. Es starrte sie aus gelben Augen an. Der Sonnenstab ließ die Augen des Schaka angsterfüllend strahlen und warf einen fünf Meter großen Schatten an die Wand. Shamiira drückte sie vor Entsetzen an die kalte Wand und schnitt sich dabei an dem scharfen Höhlengestein in den Rücken. Als wäre dies ein Zeichen für den Schaka gewesen, sprintete dieser wieder los. „Neeeeeeeeeein“, schrie Shamiira mit aller Kraft, bevor der Schaka mit seinen scharfen Zähnen in ihr Bein biss. Mit einem einzigen Ruck riss er sie zu Boden und Shamiira schlug mit dem Kopf auf dem Steinboden auf. Der Schmerz beim Aufprall schoss ihr mit ähnlicher Geschwindigkeit wie die des Schakas in den Kopf. Shamiiras Augen waren schlagartig geweitet, Tränen traten ihr in die Augen und sie spürte, wie etwas Feuchtes neben ihrem Ohr vorbeifloss. Kleine Lichtblitze, die ihre Augen wahrnahmen, tanzten in der Dunkelheit und versuchten sich gegenseitig auszuspielen, indem sie immer heller und heller leuchteten. Just in dem Moment, als einer der Lichtblitze Shamiiras ganzes Sichtfeld einnahm, hörte sie ein Knacken, dass seine einsame Reise tiefer in die Höhle aufnahm, bevor die Dunkelheit den Lichtblitz verschluckte.