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ОглавлениеKapitel 5
Atos, der 2. Tag, gelbe Sonne
Mond: Derun
Shamiira stand in der Mitte eines Kreises aus Kerzen. Um sie herum standen der Häuptling ihres Stammes, der Schamane, ihre Familie, eigentlich sogar der ganze Stamm, wenn sie sich so umschaute. Alle sind gekommen. Alle wollen mit anhören, was meine letzte Aufgabe sein wird, um in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen zu werden. Ich bin vor allem gespannt, was das Schicksal für mich bereithalten wird. Der Schamane ging zu einem Tisch, der an einen Baumstumpf erinnerte. Shamiira wusste jedoch, dass der Baumstumpf heute Morgen noch nicht existiert hatte. Er musste mit einer Leyform vom Schamanen dazu gebracht worden sein, in diese Tischform zu wachsen. Der Schamane gab Shamiira ein Zeichen, näher zu treten. „Tritt vor, Shamiira aus der Wasserstadt Kimar. Siehe diese vier Tontöpfe hier vor mir. Sie werden uns verraten, was Derun für dich vorgesehen hat“, ertönte eine Stimme in ihrem Kopf. Und viele weitere stimmten mit ein und sprachen ihr Mut zu. Sie hörte Fragen der Kinder an ihre Eltern und hörte das Lied des Erwachsenwerdens ganz leise im Hintergrund, so als wäre es das Lied des Lebens selbst. Shamiira zog ihr Obergewand und ihren Lendenschurz aus. Die Sachen ließ sie einfach auf den Boden fallen. Ihr Blick ging durch die Reihen der Bewohner ihres Stammes. Langsam ging sie auf den Schamanen zu. Vor ihr war ein Wasserbad in den Boden eingelassen und mit stark duftenden Kräutern angereichert worden. Shamiira ging direkt auf das Wasser zu. Schritt für Schritt stieg sie die versteckten Treppen im Bad herunter. Das Wasser wurde nicht erwärmt und ein kalter Schauer lief durch ihren Körper. Shamiira konzentrierte sich darauf, das Becken zu durchqueren und die Kälte aus ihren Gedanken zu verbannen. Jeder weitere Schritt verlangte ihr sehr viel Konzentration ab, mit gleichbleibender Geschwindigkeit weiter in das Becken hinein zu tauchen. Nur noch wenige Schritte und sie würde ganz im Wasser verschwinden. In Gedanken zählte sie die Sekunden, holte tief Luft, machte den letzten Schritt ins Becken hinein und verschwand ganz im Wasser. Eins, rechtes Bein vor. Zwei, linkes Bein vor. Der Gang unter Wasser war anstrengender, als sie zuvor erwartet hatte. Drei, rechtes Bein vor, vier, linkes Bein vor. Fünf, rechtes Bein vor. Da war auch schon die Stufe für den Wiederaufstieg. Shamiira versuchte, nicht schneller zu werden. Sie musste sich konzentrieren, ihre Geschwindigkeit beizubehalten. So viel stand auf dem Spiel, sie sollte endlich eine Erwachsene sein, sie musste sich konzentrieren. Sie nahm die Stufe und erhob sich leicht aus dem Wasser heraus. Sie spürte bereits den warmen Atem von Derun an ihren Haaren vorbeigleiten. Sechs, linkes Bein vor. Wieder stieg sie ein kleines Stück aus dem Wasser heraus. Gerade genug, um die alte verbrauchte Luft auszustoßen und den frischen Atem Deruns einzuatmen. Sie stieg die Stufen weiter herauf und konzentrierte sich darauf, nicht schneller zu werden. Ihr Körper zeigte an das ihr kalt wurde, ihre Mimik jedoch war konzentriert. An einigen Körperstellen klebten Blätter und dünne Wurzelhaare. Shamiira ließ sie kleben, sie waren unwichtig und es würde nur nach Hektik aussehen, wenn sie sie entfernte. Der letzte Schritt lag vor ihr, ihr Blick war auf den Schamanen gerichtet. Das Kräuterwasser suchte sich einen Weg über ihre Haut zum Boden und bildete kleine Flüsse auf ihrem Körper. Etwa drei Meter trennten Shamiira noch von dem Baumtisch und ihrer endgültigen Prüfung, um eine Erwachsene Deruns zu werden. Kurz vor den Tontöpfen kam der Häuptling auf sie zu, legte ihr einen Teppich über die Schultern und schnürte diese an ihrer Taille zusammen. So stand sie nun da. Bekleidet mit einem Teppich, der an ihrem Hals zu einem Kragen umgekrempelt wurde, und einem einfachen Ledergürtel. Das Kräuterwasser hatte bereits begonnen, sich in den Teppich einzuarbeiten. Ihre Füße waren schmutzig und mit Sand und Kräutern bedeckt. Ihr Blick war auf den Schamanen gerichtet. Sie schaute ohne Furcht in sein Gesicht. In wenigen Augenblicken würde sie erfahren, was Derun für sie vorgesehen hatte. „Strecke deine rechte Hand aus und fasse in das erste Gefäß“, sprach der Schamane wieder in Gedanken zu ihr. Shamiira tat, wie ihr gesagt wurde. Ihr Blick ruhte dabei immer noch auf dem des Schamanen. Sie streckte ihre rechte Hand aus und fasste in den ersten Tontopf. Sie hielt still, Sekunden vergingen, in denen sie wartete und nichts geschah. „Hole deine Hand wieder heraus und wiederhole diesen Prozess noch drei weitere Male, Tochter Deruns. Nun fasse in das zweite Gefäß.“ Die Stimme des Schamanen strömte in ihre Gedanken und Shamiira konnte die innere Ruhe des Schamanen spüren. Wie sanfter Blütenhonig legte sie sich langsam um ihre Gedanken. Shamiira zog die Hand aus dem ersten Tontopf wieder heraus. Sie hielt ihre Hand weiter ausgetreckt und glitt langsam zum zweiten Topf herüber. Ihr Blick war weiter auf den Schamanen gerichtet. Wie auch beim ersten Topf ließ sie die Hand langsam hinein gleiten. Der zweite Topf fühlte sich wie der erste an. Shamiira spürte nichts außer der Leere im Inneren. Sie wartete wieder einige Sekunden, bis der Schamane sie aufforderte, in den dritten Topf zu greifen. Der dritte Topf schien jedoch nicht leer zu sein. Shamiira spürte eine Flüssigkeit im Inneren. Die Flüssigkeit schien Shamiiras Bewegungen im Topf einschränken zu wollen, beinahe so, als würde man in Honig baden. Nur dass Honig weitaus zäher war als diese Flüssigkeit. Sie ähnelte mehr dem Kräuterwasser, in dem Shamiira noch vor wenigen Sekunden gestanden hatte, die Flüssigkeit war angenehm kühl. Der Schamane forderte sie wie bei den ersten beiden Töpfen zuvor ebenfalls nach einigen Sekunden auf, ihre Hand wieder aus dem Topf zu ziehen. Shamiira zog die Hand genauso langsam hinaus, wie sie es bei den anderen auch getan hatte. Diesmal konnte sie etwas sehen. Eine milchige Flüssigkeit bedeckte ihre Hand, doch statt von ihrer Hand herunter zu tropfen, drang diese in sie ein. Leicht verwundert schaute sie auf ihre Hand und vergaß kurzzeitig ihre Zeremonie, bis der Schamane sie aufforderte, in das letzte Gefäß zu greifen. Sofort konzentrierte Shamiira sich wieder auf ihre Zeremonie und griff in das letzte Gefäß. Der vierte und letzte Topf bot ihr beim Hineingreifen einen leichten Widerstand. Shamiira spürte, wie sie in eine dickliche Flüssigkeit hineingriff, die sofort eine unangenehme Kälte durch ihren Körper jagte. Sie konnte richtig spüren, wie sich die Kälte über ihren Arm, hinein in ihre Brust und von da aus im ganzen Körper ausbreitete. Sie wartete auf den Schamanen, während ihr die Kälte in jede Zelle zu kriechen versuchte. Die Sekunden schienen ihr länger vorzukommen als bei den anderen Töpfen zuvor. Sie musste jedoch warten. Musste darauf warten, vom Schamanen befreit zu werden. Die Stimmen der anderen Stammesbewohner drangen immer weiter in den Hintergrund, je mehr sie sich konzentrierte, die Hand nicht aus dem Topf zu ziehen. Es war ihre Zeremonie zum Erwachsenwerden. Sie musste diese überstehen und allen zeigen, dass sie bereit war, in die Gemeinschaft der Erwachsenen aufgenommen zu werden. Dann kam endlich der ersehnte Befehl des Schamanen und Shamiira zog ruhig die Hand wieder aus dem Topf heraus und sah einer silbrigen Flüssigkeit dabei zu, wie diese von ihren Fingern in den Topf zurück rann. Vorsichtig zog sie ihre Hand wieder zu sich. „Ich habe getan, wie mir geheißen wurde. Ich ging durch das Wasser der Reinigung. Ich griff in all vier Gefäße der Vorahnung. Ich ließ Derun stärker in mein Leben. Ich bin Shamiira von Kimar. Ich bin eine Kintaszüchterin und das jüngste Mitglied im Kreis der Erwachsenen. Ich habe 280 Mondumdrehungen erlebt. Nun sagt mir, Schamane, was meine letzte Aufgabe ist, um in die Gemeinschaft der Erwachsenen aufgenommen zu werden“, rezitierte Shamiira einen Text, den sie schon so oft von Männern und Frauen vor ihr gehört hatte. Einen Text, den sie in den letzten Tagen immer und immer wieder aufgesagt hatte, um ihn für diesen Tag perfekt wiedergeben zu können. „Ihr lerntet den Umgang mit den Kintas. Ihr lerntet den Umgang mit den lebendigen Ställen. Beides Aufgaben eures bisherigen Lebens die nicht leicht zu bewältigen und zu erlernen waren. Die Tiere wie auch die Ställe sind sehr groß und bedürfen viel Pflege. Doch Derun hat beschlossen, dass ihr eine andere Aufgabe in unserer Gesellschaft haben sollt. Ihr habt die Gabe erhalten, in Symbiose mit der Pflanze Efeuria zu treten. Eins mit ihr zu werden.“ Der Schamane zeigte auf den Tonkrug und Shamiira wurde sofort klar, dass ihr Leben die nächsten Tage nicht leicht werden würde. Mit dem Beginn einer Symbiose mit Efeuria würden starke Kopfschmerzen und pochende ziehende körperliche Schmerzen auftreten, die sich über ihren ganzen Körper verteilen und sie an den Rand des Wahnsinns führen würden. Schmerzen, denen sie nur mit viel Ausdauer und Konzentration entgegentreten konnte. Ihr Puls erhöhte sich bei dem Gedanken, vielleicht sogar an den Schmerzen der Symbiose sterben zu müssen. War sie wirklich auserwählt worden oder hatte sie eine Wunde an ihrer Hand übersehen, über die Efeuria eindringen konnte? War sie wirklich würdig, eine Kriegerin Deruns zu werden, oder war alles nur ein Fehler? Die Gedanken in Shamiira rasten in immer verzweigtere Überlegungen, als die Stimme des Schamanen sie aus ihren Gedanken riss. „Shamiira von Kimar. Ihr werdet nun diesen kleinen Krug nehmen. In ihm befindet sich Kintasmilch. Reine und frische Kintasmilch. Bringt sie den Schamanen unserer Sonnenstadt. Das ist die Aufgabe, die ihr erfüllen müsst, um in die Gesellschaft der Erwachsenen endgültig aufgenommen zu werden. Sieben Tage wird eure Reise andauern, während der auch eure Symbiose mit Efeuria gefestigt wird. Geht nun und bereitet euch vor. Morgen früh müsst ihr beim ersten Sonnenstrahl aufbrechen.“ Shamiira nahm den kleinen Tonkrug vom Schamanen entgegen. Es war ein einfacher Tonkrug. Er besaß weder einen Henkel noch eine Ausgießhilfe. Es war einfach nur ein kleiner, faustgroßer Topf mit einem Deckel, den man mit einer Hanfschnur zugeschnürt hatte. Shamiira schaute zum Schamanen, dann zum Häuptling und anschließend zu den restlichen Stammesmitgliedern, drehte sich dem Ausgang zu und verließ mit gleichmäßigen Schritten die Hütte der Reinigung. Vieles ging ihr durch den Kopf, während sie auf den Ausgang zuging. Was sollte sie an Ausrüstung mitnehmen? Wie viel Nahrung wäre ratsam? Und würde sie die Schmerzen aushalten können, ohne dem Wahnsinn zu verfallen? In ihrer Hütte legte sie den Teppich sorgsam auf dem Boden ab, zog sich einen neuen Lendenschurz über die Hüften und warf sich ein neues Gewand über die Schultern, das gerade so ihre Brüste verdeckte. Anschließend begann sie einen alten Lederrucksack mit nützlichen Dingen wie Verbandsblättern, einem Hanfseil, Nahrung und Werkzeug zu füllen. Den Tonkrug, den Grund ihrer Reise, legte sie in die Mitte. So vorbereitet legte sie sich schlafen und zum zweiten Mal in ihren Leben schlief sie mit Kopfschmerzen ein. Nur das Zittern fehlte, das normalerweise beim Entzug nach einer großen Dosis Kintasmilch auftrat. Damals war es nur ein Unfall gewesen, der während ihrer Ausbildung aufgetreten war. Heute die Auswirkungen von Deruns Geschenk an sie.
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